Читать книгу Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King - Andreas Suchanek - Страница 31

Die Galerie reachAble

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Freitagmittag, 14 Uhr


Olivia lief am Straßenrand auf und ab und kaute auf ihrer Unterlippe. Das Smartphone hielt sie fest umklammert und starrte alle paar Minuten aufs Display. Sie hatte es nicht fertig gebracht, das Treffen abzusagen, auch wenn sie kurz davor gewesen war. Sie hatte zigmal das Smartphone gezückt und die Nummer aufgerufen, doch letztendlich nicht gewählt. So stand sie hier und wartete. Archer verspätete sich bereits um zehn Minuten. Noch fünf und er hätte die obligatorische Viertelstunde überschritten. Wie lange sollte sie auf ihn warten? Welche Zeitspanne war angemessen? Würde er überhaupt kommen? Olivia blies frustriert die Luft zwischen den Zähnen durch. Sie hatte Kopfschmerzen und war übermüdet. Nachdem sie erst Randy abgeliefert hatte und dann nach Hause gekommen war, hatten alle zum Glück tief und fest geschlafen. Auf dem Tresen hatte ein Zettel geklebt. Von ihrer Mum:

Olivia, Dein Vater ist wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Wir sind früh zu Bett. Bitte sei leise, wenn du kommst. Er braucht seinen Schlaf. Im Kühlschrank sind noch Burritos, falls du Hunger hast. Tequiero, Mamá.

Olivia war nach oben geschlichen, hatte eine Wanne eingelassen und sich zwei Stunden hineingelegt. Vermutlich würde sie Ärger wegen der Wasserrechnung bekommen, aber sie musste den Dreck der Nacht von sich waschen.

Nach einem unruhigen Zwei-Stunden-Schlaf war sie schließlich aufgestanden, hatte sich Aspirin eingeworfen und war zur Schule gefahren. Noch nie war ihr der Unterricht so zäh und überflüssig vorgekommen wie heute. Sie hatte die anderen nur kurz gesprochen. Sie hatten sich alle für den späteren Nachmittag im Geheimraum verabredet. Vorausgesetzt, Olivia würde nicht im Stehen einschlafen.

Sie sah erneut auf die Uhr ihres Smartphones. Achtzehn Minuten Verspätung. Und vorausgesetzt, ich warte hier nicht noch zwei Stunden auf Archer. Olivia schüttelte den Kopf, nahm ihre Handtasche von der Schulter und suchte nach den Aspirin und der Flasche Wasser, die sie sich eingepackt hatte. Sie spülte gerade die Tabletten hinunter, als ein schwarzer Porsche 911 mit getönten Scheiben vor der Galerie einbog. Olivia stockte. Was für eine grässliche Angeberkarre. Sie hatte Porsche noch nie etwas abgewinnen können und das nicht nur, weil ihr Vermieter einen fuhr. Die Fahrertür ging auf und Archer stieg aus.

Bedauerlicherweise sah er, wie am Tag zuvor, einfach umwerfend aus. Bedauerlich deshalb, weil Olivia für einen Moment sogar ihren Zorn über seine Verspätung vergaß, dabei hasste sie nichts mehr als unzuverlässige Menschen. Archer trug ein weißes Hemd und helle Jeans, die bestimmt extra für ihn geschneidert worden waren, so perfekt wie sie saßen. Sie hatten Flicken und Löcher an den Taschen und am Knie. Sicherlich waren auch diese extra angefertigt worden. Olivia konnte sich nicht vorstellen, dass er seine Jeans derart verschliss. Er fuhr sich durch die braunen Haare und blickte zu ihr. Seine Augen waren hinter einer dunklen Dolce & Gabbana-Brille verborgen. Sie winkte ihm zu und schalt sich gleichzeitig dafür. Nur dumme Mädchen winken Typen zu! Reiß dich zusammen, Oliv!

Chris schien es eh nicht zu kümmern, er nickte nur, schloss die Tür und kam um den Wagen zu ihr gelaufen.

»Hi«, sagte er.

»Hi«, erwiderte Olivia und wartete, ob er sich für die Verspätung entschuldigen würde. Aus der Nähe erkannte sie, dass seine Haare noch etwas feucht waren, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen. Und er roch nach einem dezenten Aftershave, obwohl die Bartstoppeln an seinem Kinn darauf hindeuteten, dass er sich nicht rasiert hatte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Chris. »Du glotzt mich an, als hätte ich irgendwo Essensreste am Hemd hängen.« Er schaute an sich hinab, überprüfte sein weißes Hemd auf Flecken.

Olivia schüttelte sich. »Äh, nein, hast du nicht, aber du bist zu spät. Ich stehe mir hier seit fast zwanzig Minuten die Beine in den Bauch.«

Er ließ von seinem Hemd ab und zuckte die Schultern. »Tja, kommt vor. Wollen wir rein? Der Boss braucht sein Auto in einer halben Stunde wieder.«

Olivias Mund klappte auf. »Höflichkeit ist nicht so deine Stärke, oder? Ich bin hier, weil ich dir helfen will und nicht, weil ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen weiß.«

Chris schnappte Luft, um etwas zu erwidern, doch er schwieg.

Olivia stemmte die Hände in die Hüften. Sie war diesem Kerl nichts schuldig, egal wie gut er aussah. »Ich gehe jetzt«, sagte sie und drehte um. »Sieh zu, wie du alleine zurechtkommst.«

»Warte«, rief er ihr nach und packte sie am Ellenbogen.

Olivia starrte auf seine Hand an ihrem Arm und machte sich los. Er nahm die Sonnenbrille ab, fuhr sich durchs Gesicht und seufzte.

»Ich wollte nicht pampig sein und mich auch nicht verspäten. Mir ist klar, dass du mir nur helfen willst.« Er blickte zu Boden und kickte einen Stein weg. »Bitte entschuldige. Ich stehe etwas unter Strom im Moment.«

»Wer nicht?«

Chris sah auf und Olivia direkt in die Augen. Um seine linke Iris zog sich ein grüner Ring. Ein schöner Kontrast zu dem restlichen Braun. »Es tut mir wirklich leid. Ich wollte deine Zeit nicht überbeanspruchen. Wenn du also noch magst, würde ich mich freuen, dir die Galerie zu zeigen.«

Olivia schürzte die Lippen, schluckte ihren verletzten Stolz herunter und nickte. »Also gut. Lass uns reingehen.«

Er lächelte leicht. »Dort entlang, bitte.« Chris deutete auf einen Weg, der um das Gebäude herumführte. Nach einigen Minuten gelangten sie an eine Stahltür. Er kramte einen Schlüsselbund heraus. Neben dem Schloss war ein Display mit Zahlen angebracht. Chris tippte eine Nummer ein, drehte den Schlüssel und die Tür öffnete. Er ließ Olivia den Vortritt.

Klappt doch mit den guten Manieren. Drinnen sprang sofort ein Bewegungsmelder an und erleuchtete den Gang, in dem sie standen. Die Luft war angenehm kühl, es roch nach Kunststoff und Reinigungsmittel. Vielleicht hatte schon eine Putzfrau angefangen, die Sauerei zu entfernen.

»Dann lass mal hören, wie hast du dir das vorgestellt?«, fragte er, während sie durch den Flur liefen.

»Ein Freund von mir, Randy, wollte dazu kommen.« Sie hatte vorhin mit ihm telefoniert und er sagte, er würde noch etwas benötigen, bevor er sich mit Olivia in der Galerie treffen konnte, und sie solle schon mal vorgehen. »Er ist ein kleiner Neek und hat bestimmt eine Idee.«

»Neek?«

»Ja, äh … eine Mischung aus Nerd und Geek: Neek eben.« Den Kosenamen hatte Mason sich ausgedacht.

»Aha.«

Sie sah zu Chris hinüber. Er hatte die Sonnenbrille in die Haare gesteckt und sah wirklich zum Anbeißen aus. »Hat sich die Polizei denn schon bei euch gemeldet?«

»Nein. Der Boss hat mit dem Sheriff gesprochen, aber der hat ihm wenig Hoffnung gemacht. Wenn sich übers Wochenende nichts ergibt, werden wir wieder abreisen, denn dann war es das mit Ausstellung und Wettbewerb.« Chris schüttelte den Kopf. »Für Lucian ist das keine große Sache. Er macht weiter, als wenn nichts geschehen wäre«, sagte er leise. »War ja auch nur mein Traum, der da geplatzt ist. Meine erste große Ausstellung, mein Sprungbrett in die nächsten Kreise, meine …« Chris unterbrach sich und winkte ab. Offenbar hatte er mehr verraten, als er wollte.

»Das tut mir leid«, sagte Olivia.

Chris schnaubte nur, öffnete eine Doppeltür und ließ Olivia erneut den Vortritt. Sie standen jetzt in der Halle, in der die Kunstwerke ausgestellt wurden. Olivia hatte sie vor ein paar Tagen nur von draußen gesehen. Seither hatte sich einiges verändert. Die Ausstellungsstücke waren zur Seite geräumt worden, die Bilder abgehängt und ein Teil der Schmierereien war bereits weggewischt worden. Das große Fenster zur Straße hin war ebenfalls ersetzt worden.

»Ihr wart aber schnell mit dem Saubermachen«, sagte Olivia.

»Die Polizei meinte, es wäre in Ordnung. Rebecca hat schließlich die Putzfrau beauftragt, die Schmiererei wegzuwischen. Ich schätze, sie will so schnell wie möglich wieder für Ordnung sorgen.«

Olivia durchquerte den Ausstellungsraum. Ihre Sneakers quietschten auf dem Linoleumboden. »Ist sie nicht daran interessiert, den Fall aufzuklären?« Ihre Stimme hallte in dem hohen Raum wider.

Chris zuckte die Schultern. »Ich kann Rebecca nur schwer einschätzen. In der einen Minute ist sie total euphorisch wegen einer Sache – und in der nächsten verliert sie das Interesse daran. Wenn du mich fragst, wirft sie irgendwelche lustigen Pillen ein. Wie heißt diese neue Partydroge noch mal?«

»Black Flash.«

»Richtig. Davon hatte uns der Bürgermeister erzählt, als wir bei ihm letzte Woche zu Gast waren.«

»Der Bürgermeister lädt euch ein?«

»Der Boss wird zu allem und überall hin eingeladen«, sagte Chris. »Er hat bereits einen Fototermin mit ihm vereinbart, um eine neue Portraitreihe zu schießen. Vom Präsidenten der Vereinigten Staaten zum Bürgermeister von Barrington Cove«, erzählte er weiter. »Lucian knipst alles, wenn der Preis stimmt.«

»Und der wird nicht billig sein.«

»Mindestens fünfstellig, damit er überhaupt sein Stativ auspackt.«

Olivia hob die Augenbrauen und schmunzelte. »So nennt man das also heutzutage.«

Chris sah sie eine Sekunde verdutzt an, dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Das war nicht annähernd so anzüglich gemeint, wie es geklungen hat.«

Olivia gab ihm einen Stups gegen den Ellbogen. Chris lächelte noch immer, als er ihre Hand abwehrte. Olivia lief weiter und ließ sich die Summe noch mal durch den Kopf gehen. Fünfstellig! Und das nur dafür, dass Lucian anrückte und sein Equipment aufbaute. Sie musste irgendwie Zugang zu dieser Welt erhalten. Das wäre die Möglichkeit, ihre Eltern zu entlasten, sie könnte jede Behandlung von Dad bezahlen, eine neue Wohnung suchen. Maria könnte in einem gesünderen Umfeld aufwachsen. All das war machbar, wenn Olivia nur in dieser Branche Fuß fassen könnte.

Chris blieb in der Mitte der Halle stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, mit was willst du anfangen?«

Ich würde gerne wissen, ob du eine Freundin hast oder nicht … »Tja, ich weiß nicht. Bis Randy kommt, könnten wir uns ja vielleicht die Überwachungsvideos anschauen. So was habt ihr hier doch sicherlich.«

»Ja, aber dreimal darfst du raten, was in der Nacht des Einbruchs nicht funktioniert hat.«

»Ist nicht wahr.«

»Sie haben alle nur Rauschen aufgenommen. Das war das erste, was die Polizei überprüft hat. Der Einbrecher hatte sie vorher kurzgeschlossen.«

»Verdammt.« Olivia kaute auf ihrer Unterlippe und blickte sich um. Sie deutete auf die roten Kleckse auf den Wänden, die noch nicht abgewischt worden waren. »Ist das eigentlich Blut?«

»Nein. Rote Farbe. Immerhin hat der Sheriff das gleich überprüft. Er hat sogar die Marke ausfindig gemacht: Sweet Color. Er meinte, das wäre eine ganz heiße Spur. Dass ich nicht lache. Die Farbe wird nur übers Internet bei zig Online-Shops verkauft. Den Käufer zu finden, grenzt also an ein Wunder.«

Olivia nickte und ging näher. Das Wort ›Heuchlerin‹ war noch zu lesen, die anderen Wörter waren bereits weggewischt. »Wer könnte so einen Hass auf Rebecca Reach haben, um das zu tun?«

»Da gibt es eine Menge Leute«, sagte Chris und lehnte sich neben sie an die Wand. »Rebecca hat viele Neider. So sagt sie zumindest.«

»Und wer?«

»Keine Ahnung. Meistens unterhält sie sich mit Lucian. Ich schätze, ich bin für sie nur der olle Lakai, der die Fotoausrüstung trägt – und es stimmt ja auch.« Er kramte in seiner Hemdtasche und zog ein Päckchen Kaugummi heraus. »Magst du? Sind zuckerfrei.«

Olivia nickte und griff danach. Sie mochte eigentlich keinen Kaugummi. Als er ihr das Päckchen hinhielt, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Finger über seine strichen. Ein wohliger Schauer schoss durch ihren Körper. Sie ließ sich mehr Zeit, als sie eigentlich benötigte, um das Kaugummi aus der Packung zu pfriemeln. Chris behielt sie dabei fest im Blick.

»Du hast spanische Wurzeln, oder?«

»Sí«

»Die dunklen Haare, der Teint, deine perfekte Haut … Außerdem betonst du manche Silben ein wenig gedehnter, als ein Amerikaner es tun würde. Dein Sprachrhythmus ist melodischer.«

»Was dir alles auffällt.« Olivia war hier geboren und Englisch somit ihre Muttersprache, aber es war gut möglich, dass sich durch das Spanischreden zuhause ein leichter Akzent einschlich. Endlich hatte sie das Kaugummi befreit und steckte es in den Mund.

»Ich beobachte gerne Menschen und überlege mir, woher sie stammen oder was sie bereits erlebt haben, wo sie hingehen, wovon sie träumen. So Dinge eben.« Er steckte das Päckchen Kaugummi ein und lachte. »Albern, ich weiß.«

»Finde ich gar nicht. Ehrlich gesagt, geht es mir auch oft so. Wenn ich draußen beim Fotografieren bin zum Beispiel. Dann sehe ich die Welt plötzlich mit anderen Augen. Licht, Formen, Schatten, Gesichter, alles bekommt eine neue Bedeutung. Die Welt durch den Sucher einer Kamera zu beobachten, fokussiert den Blick aufs Wesentliche.«

Chris nickte und schwieg. Es vergingen einige Sekunden, in denen sie sich nur ansahen. Wie gerne würde sie ihn fotografieren. Er wäre das perfekte Model.

»Wenn das vorbei ist …«, sagte er leise, doch was auch immer er fragen wollte, würde Olivia nicht erfahren, denn in dem Moment platzte Randy zur Tür herein. »Da seid ihr ja …«

Sofort fuhren Chris und sie auseinander, als hätten sie etwas Verbotenes getan.

»… endlich«, schloss Randy den Satz ab und starrte Olivia und Chris an, als wären sie Teil der Ausstellung. »Störe ich?«

»Nein.« Olivia schoss die Röte in die Wangen. Herrgott, sie wurde nie rot! Rasch drehte sie sich zur Seite, damit es Randy nicht sehen konnte.

»Ich kann auch wieder gehen«, sagte Randy mit einem Schmunzeln in der Stimme.

»Sei nicht albern«, gab Olivia zurück. »Was ist das für ein Umschlag?« Sie deutete auf das braune Kuvert in Randys Hand. Themenwechsel waren noch immer die beste Ablenkung.

Randy starrte auf das Papier in seiner Hand. »Oh, das. Das sind deine Fotos von gestern.«

Und schwupps, war der peinliche Moment von eben komplett vergessen. »Ist nicht dein Ernst!« Sie rannte zu Randy, riss ihm das Kuvert aus der Hand wie ein Verhungernder einem Koch das Essen und zog die Fotos aus dem Umschlag.

»Die Speicherkarte hat ganz schön was abbekommen, aber ich konnte einen Teil der Daten retten und ausdrucken. Ich schätze, die Bilder sind nicht so, wie du sie dir erhofft …«

»Oh mein Gott!«, sagte Olivia, als sie das erste Foto sah. »Das glaube ich nicht.«

Sie zog das zweite Bild heraus, das dritte, das vierte. »Unglaublich«, flüsterte sie die ganze Zeit über.

»Wow«, sagte Chris, der hinter sie getreten war. Olivia spürte seine angenehme Wärme im Rücken und sofort schlug ihr Herz einen Tick schneller. Er nahm ihr ein Foto ab und betrachtete es genauer. »Die sind fantastisch.«

»Ja, oder?«, sagte Olivia und begutachtete das nächste Bild. Es lag ihr normalerweise nicht, sich selbst zu loben, aber in diesem Fall war es nicht ihr Verdienst, dass die Fotos so großartig geworden waren. Alle Rottöne waren invertiert worden. Einige Details waren verwaschen, die Lichter, die sie vom Karussell fotografiert hatte, wurden als weichgezeichnete Spitzlichter dargestellt. Es sah aus wie abstrakte Kunst. Das Bild von Randy auf dem Holzpferd war mit das Beste. Seine Silhouette war verzerrt, er sah aus als hätte er Flügel, die als Lichtbogen um ihn herumreichten.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Chris.

»Indem ich meine Kamera zertrümmert habe.«

»Bitte?«

»Lange Geschichte.«

Er nahm ihr einige der Fotos aus der Hand und pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Bin sehr gespannt, die zu hören.«

Sie drehte sich zu ihm und lächelte ihn über ihre Schulter hinweg an.

Randy räusperte sich lautstark. »Also, ich will euch nicht unterbrechen bei eurer Flirterei, aber ich habe auch Neuigkeiten wegen der Galerie.«

Olivia schlug Randy mit dem Umschlag auf die Schulter. »Wir flirten nicht. Wir unterhalten uns über Kunst.«

»Klar doch«, sagte Randy und kramte in seiner Umhängetasche nach einem schmalen Leitzordner, der randvoll mit Papieren war. »Hier steht alles, was ich über Rebecca Reach zusammentragen konnte. Zumindest in der Kürze der Zeit zwischen Schule und jetzt.«

»Steinbeck, du bist unglaublich«, sagte Olivia, gab Chris den Umschlag mit den Fotos und nahm ihm den Ordner aus der Hand. Sie blätterte ihn auf. Die Papiere waren voller Post-its mit kleinen Notizen wie ›Rebeccas Schulzeit‹, ›Rebeccas College‹, ›Freunde‹, ›Wohnorte‹ und so weiter.

Chris schnalzte mit der Zunge. »Ein Neek, jetzt verstehe ich.«

»Sag ich doch.«

»Hier vorne«, sagte Randy und wechselte einen raschen Blick zwischen den beiden, »ist die Kurzzusammenfassung«.

Olivia nickte und begann zu lesen. »Rebecca Reach eckte schon öfter mit der Kunst an, die sie ausstellte. Vor zwei Jahren demonstrierten Tierschützer vor ihrer Galerie, weil sie einen Künstler förderte, der angeblich Pelze und Knochen von Tieren in seinen Kunstwerken verarbeitete. Hinterher stellte sich raus, dass es Kunstpelz und Plastikknochen waren. Ein anderes Mal machte sie der Pastor bei den Gemeindemitgliedern schlecht, weil er die Werke von einem ihrer Maler als Blasphemie empfand. Doch Rebecca zog ihr Ding weiter durch. Vor einigen Monaten fing dann der Vandalismus bei ihr an. Einmal waren die Reifen ihres Autos zerstochen worden, ein anderes Mal wurden die Fenster ihres Hauses eingeschlagen. Sie meldete alle Vorfälle, aber der Sheriff nahm es nicht sehr ernst. Laut Zeitungsberichten machte Rebecca ein ziemliches Gezeter auf dem Polizeirevier. Sie beleidigte sogar Bruker als inkompetenten Hornochsen, was ihr eine Nacht im Gefängnis einbrachte und – Achtung, das müsst ihr euch mal vorstellen: Bruker hat ihr daraufhin die Steuerprüfung auf den Hals gehetzt.« Olivia blickte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Der Sack Bruker hat sich bestimmt in seiner Ehre gekränkt gefühlt und wollte ihr eins auswischen.« Sie sah zurück auf den Artikel und las weiter. »Die Prüfer fanden allerdings nichts. Der Vandalismus klärte sich kurz danach auf. Es waren ein paar Jugendliche gewesen, die willkürlich fremdes Eigentum zerstörten. Es traf noch weitere Autos in der Nachbarschaft. Da hat sie Bruker also umsonst beleidigt.«

»Rebecca war bereits in der Schule energisch«, führte Randy weiter fort. »Sie hat die Highschool als Klassenbeste absolviert, ging danach aufs College, um Kunst und Marketing zu studieren. Dort stellte sie bereits ihre ersten Bilder aus und bewies ein Gespür für neue Talente. Außerdem war sie ein Marketing-Ass. Sie gestaltete zu jedem Künstler, den sie gut fand, ein aufwendiges Marketingprogramm, organisierte zum Beispiel zwei Elefanten und Artisten, um für die Ausstellung eines jungen Mannes aus dem Orient zu werben. Ach ja, sie ist auch noch großzügig. Sie fördert Nachwuchstalente und macht jedes Jahr eine Sonderausstellung, sowie diesen Wettbewerb. Der Ertrag dieser Ausstellungen geht an eine Hilfsorganisation. Dieses Frühjahr sollte das Geld in ein Hospiz fließen.«

»Davon hat Rebecca gar nichts erzählt«, sagte Chris. »An welches Hospiz sollte das Geld denn gezahlt werden?«

»Ähm, Moment«, sagte Randy und blätterte im Ordner herum, bis er den Post-it mit der Aufschrift ›Heartfull‹ fand und die Seite aufschlug. »Evelyn Granger ist Leiterin des Hospizes Heartfull. Sie führt es seit fünf Jahren mit großem Engagement und war bereits ein paar Mal in der Presse. Sie wurde vor allem für ihre warmherzige Art und ihr Einfühlungsvermögen gegenüber den Patienten gelobt. Außerdem legt sie sehr viel Wert auf ein familiäres Ambiente. ›Bei uns sollen Menschen in Würde sterben‹, wird sie zum Beispiel in der Gazette zitiert. Ach ja, und falls ihr euch fragt, warum ich das explizit markiert habe: Evelyn Granger und Rebecca Reach waren Zimmergenossinnen auf dem College. Bis vor einem halben Jahr hatten sie sogar noch regen Kontakt, und auf einmal brach der ab. Seither herrscht eine Eiseskälte zwischen den beiden.«

Olivia klappte den Ordner zu und schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das hast du innerhalb von zwei Stunden herausgefunden?«

Randy zuckte die Schultern, als wäre das das Normalste der Welt. »Hast du eine Ahnung, was man in Zeiten von Facebook, Twitter und Instagram herausfinden kann, wenn man weiß, wonach man suchen muss? Ein paar gut gezielte Schlüsselwörter und die Maschine spuckt dir alles aus, was du wissen willst. Gerade bei Menschen, die – wie Rebecca und Evelyn – in der Öffentlichkeit stehen, ist es ein Klacks. Das Ausdrucken und Abheften hat fast länger gedauert als alles andere.«

»Warum die beiden sich zerstritten haben, weißt du nicht zufällig?«, fragte Chris.

»Nein, aber fast zur gleichen Zeit ging die Randale in Rebeccas Leben los. Die zerstochenen Reifen, eingeschlagene Fensterscheiben et cetera.«

»Na, so ein Zufall«, sagte Chris.

»Vielleicht sollten wir mal bei Mrs. Granger vorbeischauen, was meint ihr?«, fragte Olivia.

»Ich bin dabei.«

»Ich kann nicht«, sagte Randy. »Tut mir leid, aber Mason hat mir vorhin in der Schule gesagt, wir müssten uns unbedingt treffen. Er hat den Film und braucht meine Hilfe beim Abspielen.«

Olivia war natürlich sofort klar, um was für einen es sich handelte. »Oh, echt?«

»Nein, ich erfinde das nur, weil ich es spannend finde«, sagte Randy.

»Blödmann.« Olivia lachte und wollte ihm den Ordner auf den Kopf hauen, doch er riss ihn ihr aus den Händen. Sie wandte sich zu Chris. »Da wäre ich gerne dabei«, sagte sie. »Mason ist mein Freund.«

Chris zuckte, sichtlich irritiert, als sie Mason als Freund bezeichnete. »Äh, klar. Mach du ruhig.«

»Also, er ist nicht so ein Freund. Also kein Boyfriend-Freund, wenn du verstehst«, fügte sie rasch an. »Ich bin Single.«

»Oh Mann«, sagte Randy und klemmte den Ordner unter den Arm. »Ich warte draußen auf dich, komm einfach, wenn du so weit bist, dann kannst du mich gleich mit ins Haus nehmen.«

»Wie bist du überhaupt hierher gekommen?«, fragte Olivia.

»Es gibt öffentliche Verkehrsmittel. Sind ganz praktisch von Zeit zu Zeit.«

Randy ging und ließ sie alleine. Für eine Sekunde blieb Olivia unschlüssig zurück, dann drehte sie sich um und lächelte ihn an. Sie wollte nach ihren Bildern greifen, die Chris noch immer in den Händen hielt, aber er zog sie weg.

»Wenn du nichts dagegen hast, zeige ich die mal Lucian. Er wird sie lieben.«

Ob sie etwas dagegen hatte, wenn er ihre Fotos einem der berühmtesten Fotografen zeigte, weil er sie so toll fand? Machte er Witze? Als Antwort küsste sie ihn auf die Wange und hauchte ein Danke hinterher. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ sie die Galerie mit diesem herrlichen Kribbeln im Bauch, als würde eine Horde Schmetterlinge darin herumflattern.


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Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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