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Vorwort

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Die individualisierte Gesellschaft sucht nach räumlichen Lösungen, die eine selbstbestimmte und autonome Lebensführung unterstützen. Im Wohnen finden Menschen eine vertraut-häusliche Umgebung, die der Mensch als Maßstab für die Proportion des Raumes selbst bestimmt. Räumliche Kleinteiligkeit ist ein Beispiel dafür, den individuellen Bedürfnissen und Ansprüchen gerecht zu werden. Immer mehr Menschen im Dritten und Vierten Lebensalter streben nach Wohnformen, die ihre Privatheitsbedürfnisse und Interaktionsansprüche bestmöglich verbinden und ein Verweilen in der gewohnten Lebensumgebung und im Generationenverband ermöglichen. Individuelle Grundrisslösungen und intelligente Gebäude- und Informationstechnologien helfen zwar dieses Ziel zu erreichen, sind jedoch nicht immer als ausreichend zu bewerten. Als Alternative zu individuellen Wohnformen bietet das institutionelle Wohnen für Menschen mit Unterstützungsbedarf einen sicheren und geschützten Rahmen.

Institutionelle Wohnformen, insbesondere in der stationären Altenhilfe, bedienen sich baulicher Strukturen, die nicht immer im Einklang mit den Privatheitsvorstellungen der Individuen stehen. Menschen haben eine besondere Beziehung zu ihren Räumen. In diesem Spannungsfeld verbringen gerade hochaltrige Personen ihren Alltag nahezu ausschließlich in geschlossenen und ritualisierten Räumen. Institutionalisierte Lebensräume brauchen im Einklang mit pflegefachlichen Expertisen innovativ und flexibel gestaltbare sowie klar lesbare Raumkonzepte.

Ein Umzug in eine Pflege- und Betreuungseinrichtung zeichnet nicht nur ein defizitäres Bild aus Ängsten und Unsicherheiten, sondern bedeutet für die Betroffenen eine komplexe emotionale Herausforderung, aber auch Erleichterung und Sicherheit. Fremde Regelungen und neue soziale Bedingungen stehen den gewohnten Ritualen und Lebensgewohnheiten gegenüber. Der Verlust der häuslichen Umgebung, die Einschränkung der Privatsphäre, soziale und räumliche Beengungs- und Konfliktsituationen sind im Pflegealltag bekannte Umstände. Menschen in institutionellen Lebensgemeinschaften brauchen eine sensible, emotional und atmosphärisch unterstützende und dem menschlichen Maß angepasste Lebensumgebung. Dabei gewinnt der Einfluss der Gestaltung auf die räumliche Umgebung immer mehr an Bedeutung.

Die Auseinandersetzung mit der wechselseitigen Wirkung zwischen Mensch und Raum sowie die Auswirkungen dieses Umstandes sind in der stationären Altenhilfe bzw. im gesellschaftsrelevanten Institutionsbau generell bislang auf wenig Interesse gestoßen. Die Aufmerksamkeit der Debatte liegt im Kontext der stationären Pflege und Betreuung in Niederösterreich.

Diese Publikation thematisiert den Einfluss gestalterischer Entscheidungen auf das Wohlbefinden der Menschen in institutionellen Lebensgemeinschaften und leistet einen Beitrag dazu, auf welche Art und Weise Raum als Komplementärstruktur in konflikthaften Interaktionen wirksam werden kann. Dabei stehen der Privatheitsbegriff, territoriale Rahmenbedingungen sowie räumliche und soziale Dichte- und Distanzverhältnisse im Fokus der Recherche. Ergänzt um konflikthafte Interaktionsformen, wird das Thema Raum aus einem emotional atmosphärischen Blickwinkel diskutiert. Empirisch gesammelte Daten führen gemeinsam mit einer theoriebasierten Verdichtung zu zentralen Ergebnissen, die in Form von Gestaltungsprinzipien dokumentiert werden.

Die Gestaltungsprinzipien sind eine Orientierungshilfe für die Umsetzung konkreter Projekte. Sie richten sich im interdisziplinären Zusammenwirken rund um das Thema Pflege und Betreuung an Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, die auf Basis ihrer strategischen Handlungsfähigkeit großen Einfluss auf die Qualität bedarfs- und altersgerechter Lebensräume für Menschen mit Unterstützungsbedarf nehmen können, an Pflegepersonen, die durch ihre Expertisen wesentlich dazu beitragen, dass die Raumformung der geforderten Funktion entspricht, an Planende und alle Interessierten, die sich mit den Themen rund um das institutionelle Wohnen im Alter auseinandersetzen wollen.

Diese Arbeit gliedert sich in vier Teile. Nach dem ersten Teil der Einführung erfolgt in Teil II eine breitgefächerte Recherche, die aus der Gesamtheit der Leitthemen zentrale Inhalte verdichtet, die in weiterer Folge der empirischen Erhebung zu Grunde gelegt wurden. Im dritten Teil werden acht Gestaltungsprinzipien beschrieben, denen theoriebasierte Erkenntnisse und empirisch erhobene Daten eingeschrieben sind, um gemeinsam mit kategoriegebundenen Zitaten der Expertinnen und Experten Interpretationsspielräume zu öffnen. Um neue Denkräume zu erschließen, werden im vierten Teil erweiternde Expertisen aufgenommen. Franz Kolland, Rebekka Rohner und Vera Gallistl fokussieren Affekte, die in Räumen stationärer Pflegeeinrichtungen eingeschrieben sind, Hanna Mayer, Martin Wallner und Sabine Köck-Hódi bringen als Basis für eine personzentrierte Pflege das Modell PeoPLe mit der Umgebungsgestaltung in der Stationären Langzeitpflege in Beziehung, Ernst Beneder beschreibt die räumliche Wahrnehmung zwischen Offenheit und Bestimmtheit und der Autor stellt zwei Architekturbeispiele nebeneinander, die räumliche Kleinteiligkeit als Maßstab in die Institution integrieren.

Diese Publikation definiert den Wert der Privatheit, des Wohnens und den Maßstab häuslicher Proportionen, skizziert soziales Distanzverhalten, beschreibt Handlungsräume, in denen Privatheit gelebt, Gemeinschaft gefördert, Begegnung ermöglicht und Gesellschaft erlebt werden kann, und beschreitet einen Weg zwischen theoriegeleiteten Herangehensweisen und praxisnahen Beispielen.

Andreas Wörndl, Wien 2021

Gestaltungsprinzipien für soziale Handlungsräume

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