Читать книгу Das ehrbare Dorf - Andy Glandt - Страница 13
- 9 - Sonntag, 5. September
ОглавлениеDie Kirche von Seidenbach, ein spätgotischer Bau, der zum ersten Mal in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erwähnt wurde, stand unweit des Dorfangers. Wer in die Höhe schaute, konnte am oberen Turmgeschoss die Jahreszahl 1678 lesen. Das deutete darauf hin, dass es später aufgesetzt worden war oder ihm ein älterer Turm hatte weichen müssen.
Die Bänke im Kirchenschiff hatten Platz für 120 Personen. Hinzu kamen 30 Sitzplätze auf der Empore. Das war mehr als genug für ein Dorf mit 300 Einwohnern. Zu den normalen Gottesdiensten kamen nur 20 bis 30 Gläubige, manchmal ein paar mehr, doch weit von dem entfernt, was sich Pfarrer Krause wünschte. Nur zu Weihnachten, Ostern und dem Kirmesgottesdienst platzte die Kirche aus allen Nähten. Dann folgten auch diejenigen diesem Ritual, die Gott aus ihrem Leben verbannt hatten.
Aber heute war weder Weihnachten noch Ostern und der Kirmesgottesdienst fand erst in einer Woche statt. Und trotzdem, wie es der Pfarrer vorausgesehen hatte, sein Gotteshaus war brechend voll. Die Sitzplätze reichten bei weitem nicht aus. Viele Besucher standen neben dem Hauptportal oder in den Seitengängen. Die Ersten, darunter Elvira Schneider und Bürgermeister Feuerstein, waren bereits kurz nach neun eingetroffen. Um halb zehn passte keiner mehr rein, obwohl der Gottesdienst erst um zehn begann. Alle wollten die neue Einwohnerin, Sylvia von Gahlen, kennen lernen. Und was noch interessanter war, sie wollten wissen, mit wem sie kam, falls sie kam.
Der Pfarrer stand neben dem Altar, auf dem Kerzen entzündet waren und schaute auf die Uhr. Es war drei Minuten vor zehn. Er musste gleich auf die Kanzel steigen und mit dem Gottesdienst beginnen. In der ersten Reihe hatte er zwei Plätze freigehalten. Würde sie doch nicht kommen, obwohl sie es versprochen hatte?
Mit lautem Knarren öffnete sich das Portal. Alle Köpfe wandten sich um. Herein kam eine große Frau in einem dunkelblauen Kostüm. Die Absätze ihrer schwarzen Schuhe hallten deutlich bei jedem Schritt wider.
Dann richteten sich alle Blicke auf die Person, die nach Frau von Gahlen die Kirche betrat. Sie war zierlich und allen fiel zuerst die schwarze, bis in die Stirn gezogene Ledermütze auf, da sie keine Anstalten machte, sie in der Kirche abzunehmen. Sie hakte sich bei Frau von Gahlen ein und beide schritten den Mittelgang entlang, ohne nach links und rechts zu sehen.
Pfarrer Krause ging ihnen ein paar Schritte entgegen und streckte die Hand aus. Plötzlich hielt er inne. Er kniff die Augen zusammen, um Frau von Gahlens Begleitung besser sehen zu können. Bei jedem Schritt, den sie tat, wurde das Gesicht des Pfarrers blasser. Konnte das möglich sein? Elke Harnisch? Er überlegte kurz. 19 Jahre musste es jetzt her sein. 19 Jahre, in denen er versucht hatte, sie zu vergessen. Sie hatte sich kaum verändert. Aber...
Nun erst nahm er die Unruhe wahr, die seit dem Eintreten der beiden Frauen stetig gestiegen war. Er schaute in die Runde und musste feststellen, er war nicht der Einzige, der verschreckt aussah. Volker Wernke war ebenfalls sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Frau Gärtner schaute mit aufgerissenen Augen ihren Mann an. Professor Ahrens entfuhr ein Laut der Überraschung, der in ein Husten überging, als seine Frau ihn fragend anschaute.
Dann standen die beiden Frauen vor ihm. „Ich habe hier vorn zwei Plätze für Sie freigehalten“, sagte er tonlos. Mit der Hand deutete er in die erste Reihe. Er vermied es, der zierlichen Frau in die Augen zu schauen. Frau von Gahlen bedankte sich mit einem Nicken und die beiden Frauen setzten sich.
An Frau von Gahlens Seite saßen Jutta und Werner Moldenhauer, an der Seite der anderen Frau Bürgermeister Feuerstein. Dessen Hände zitterten leicht und die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Konnte das sein? Viola? Hier in Seidenbach? Sie nickte ihm mit einem Lächeln zu. Keine Spur des Erkennens.
Obwohl der Pfarrer es vermeiden wollte, erhaschte er doch einen kurzen Blick der zierlichen Frau, bevor er auf die Kanzel stieg. Sie lächelte ihm kurz zu, ließ aber nicht durchblicken, ob sie ihn erkannte.
Langsam begann er zu sprechen.
„Ich begrüße Sie alle zum sonntäglichen Gottesdienst, vor allem unsere neuen Bewohnerinnen Frau von Gahlen und ihre Begleitung, die sie uns sicher im Anschluss vorstellen wird.“
Sylvia von Gahlen nickte erneut.
Niemand achtete auf des Pfarrers Worte. Viele stellten sich die Frage, wie es sein konnte, dass ausgerechnet sie in diesen Ort zog? Hatte sie etwa vor, ihre Kunden aus diesem Dorf zu erpressen? Einigen Männern fiel es schwer, so zu tun, als kannten sie die Frau nicht. Wenn deren Ehefrauen es erführen, wäre in der Kirche die Hölle los. Die Gärtners hatten zwar dieses Problem nicht, da sie beide Kunden bei ihr waren, aber ihr Sohn Thomas musste davon nichts erfahren
Wernke wusste nicht, was er davon halten sollte. Seine Frau und sogar seine Kinder wussten zwar, dass er zu einer Prostituierten ging, allerdings nicht, dass es Viola war und schon gar nicht, dass er sie wiederholt eingeladen hatte, mit ihm wegzufahren. Das konnte er nun vergessen.
Erst als der Pfarrer sagte: „Nun bitte ich Frau von Gahlen, sich und ihre Begleitung vorzustellen“, schauten alle wieder aufmerksam nach vorn. Pfarrer Krause stieg von der Kanzel. Er wollte die andere Frau näher betrachten, wollte sich überzeugen, ob es wirklich Elke Harnisch war.
Frau von Gahlen stand auf und wandte sich den Anwesenden zu. „Guten Morgen. Mein Name ist Sylvia von Gahlen, aber ich nehme an, das werden Sie bereits wissen. Ich leite hier in Thüringen mehrere Fitness- und Kosmetikstudios und freue mich, unter Ihnen einige meiner Kundinnen und Kunden zu erkennen.“
Sie ging zu ihrer Begleitung, nahm deren Hand und führte sie nach vorn. „Dies ist Elke Märtens. Sie ist meine Freundin und Lebenspartnerin. Zurzeit arbeitet sie halbtags in einer meiner Kosmetikfilialen.“
Professor Ahrens Blick klebte an ihren Lippen, genau wie der einiger anderer. Würde sie jetzt preisgeben, womit sie den Rest des Tages verbrachte? Hier im Gotteshaus? Es gab keine Anzeichen, dass Elke Märtens jemanden in der Kirche erkannte. Sie schaute in die Runde und hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
Erleichterung war zu spüren, als Frau von Gahlen fortfuhr: „Sie wird demnächst meine neue Filiale in Stadtroda übernehmen.“ Elke Märtens riss den Kopf herum und schaute ihre Freundin mit großen Augen an. Ihr Lächeln war verschwunden. Das war nicht abgesprochen und noch nicht entschieden, dachte sie. Frau von Gahlen beachtete sie nicht. „Und in naher Zukunft werden wir heiraten.
Totenstille. Obwohl während der letzten Minuten schon kaum Laut zu hören gewesen war, überkam einem jetzt das Gefühl, die Erde hätte aufgehört sich zu drehen. Die meisten Besucher hielten die Luft an und wagten nicht, sich zu bewegen. Elke Märtens funkelte ihre Freundin an. Alle konnten den zornigen Blick erkennen und viele warteten auf einen Wutausbruch dieser zierlichen Person.
Diese spürte die Spannung in dem hohen Gebäude. Nein, die Freude machte sie ihnen nicht. Sie werde sich nicht dazu hinreißen lassen, diesen Zuschauern eine Show zu bieten. Sie wird zu Hause klären, mit welchem Recht diese Frau hier Behauptungen von sich gibt, die weder mit ihr abgesprochen waren, noch in irgendeiner Weise stimmten. Von Hochzeit hatten sie noch nie gesprochen. Und die wird es auch nie geben. Sie holte tief Luft und ihre Gesichtszüge entspannten sich. Dann löste sie ihren Blick von ihrer Freundin.
Auch Thomas Gärtner war sprachlos, aber nicht schockiert. Er war eher erregt darüber, dass die zwei Frauen sich öffentlich zu ihrer Homosexualität bekannten. Und das in diesem Dorf. Kaum zu glauben. Nun sah auch er Chancen, seine Liebe zu Hannes öffentlich zuzugeben. Aber erst wollte er sehen, wie seine Eltern reagierten. Vielleicht konnte er heute Abend mit ihnen reden.
Genauso hatte sie sich die Dorfbewohner vorgestellt, dachte Sylvia. Viele der netten Herren betrogen ihre Frauen mit Elke, aber ein lesbisches Ehepaar passte nicht in hierher. Diese Heuchler. Sie hatte diese Szene geplant, auch wenn sie nicht mit Elke abgesprochen worden war und sie nahm in Kauf, nachher eine harte Auseinandersetzung mit ihr zu haben. Sie kostete den Blick in die schockierten Gesichter aus. Dann sagte sie: „Ich bin mir sicher, dies ist ein fortschrittliches Dorf, in dem man nichts gegen eine lesbische Ehe hat.“ Sie schaute auf die Uhr. „Leider müssen wir nun gehen, da bei uns auch am Sonntag gearbeitet wird, aber wir werden uns in nächster Zeit noch besser kennen lernen. Ihr Bürgermeister und der Pfarrer waren so freundlich, uns zum Kirmestanz einzuladen und wir werden dieser Einladung gern folgen.“ Sie wandte sich an den Pfarrer, der ebenso betroffen dreinschaute, wie der Rest seiner Schäfchen. „Vielen Dank, Herr Pfarrer. Es wird uns auf Grund unserer Geschäfte nicht jedes Mal realisierbar sein, dem Gottesdienst beizuwohnen, aber sooft es uns möglich ist, werden wir kommen. Auf Wiedersehen.“
Sie wartete keine Antwort ab, nahm Elkes Hand und zog sie, durch die immer noch fassungslos dreinschauenden Kirchgänger, dem Ausgang entgegen.