Читать книгу Das ehrbare Dorf - Andy Glandt - Страница 6
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ОглавлениеSeidenbach ist ein kleiner, ruhiger Ort am Fuße der Leuchtenburg, nahe den Kleinstädten Kahla, Stadtroda und Neustadt/Orla. Die nächste Großstadt ist das zwanzig Kilometer entfernte Jena. Dort hatte Carl Zeiß am 17. November 1846 seine erste Werkstatt für Feinmechanik und Optik eröffnet, woraus später der weltbekannte Zeiss Konzern erwuchs.
In Seidenbach passierte nicht viel Aufregendes, wenn man von Lutz Ahrens absah, der sich hin und wieder voll laufen ließ und herum krakeelte.
Nur einmal im Jahr, am zweiten Septemberwochenende, ging es munterer zu. Dann fand die Kirmes statt und alle Dorfbewohner sowie Besucher aus Nachbarorten feierten gemeinsam im Gasthof 'Zur Leuchtenburg'.
Auf einer Anhöhe, etwas abseits vom Dorfkern, stand ein großes Haus mit hellgelbem Anstrich und einem Spitzdach. Nachdem es bis 1960 als Schule diente, beherbergte es danach für einige Jahre ein Kulturzentrum, bevor es mehrere Firmen als Lagerhaus nutzten. Erst nach der Wende wurde es zu einem Wohnhaus, besser gesagt, zu einer Villa umgebaut. So geschah es mit vielen Gehöften und Häusern dieses und einiger Nachbarorte. Die Immobiliengesellschaft Frank & Partner aus Frankfurt am Main hatte einen Großteil der Gebäude aufgekauft und renoviert. Man muss der Firma zugute halten, dass sie die Häuser, soweit es ging, im Originalzustand beließen. Es wurden hauptsächlich Elektro- und Wasserleitungen ersetzt, kleinere Reparaturen durchgeführt und die Fassaden verschönert. Dann wurden sie für gutes Geld verkauft, viele von ihnen an Leute aus dem Westen, die hier arbeiteten, um den Aufbau Ost voranzutreiben. Die Einwohnerschicht Seidenbachs bestand aus Professoren und Doktoren, aus Firmenbossen und Geschäftsführern, aber auch aus Alteingesessenen, die nach der Wende ihre Häuser behalten und selbst renoviert haben. Alt- und Neubürger verstanden sich verhältnismäßig gut, was nicht in jedem Dorf der Fall war.
Peter Grabow ging ungeduldig in dieser Villa hin und her, und das schon seit drei Stunden. Als Verwalter der Häuser von Frank & Partner wartete er auf eine Interessentin, denn die Villa stand zum Verkauf.
Zur Wendezeit arbeitete er als Elektriker bei der Neustädter Firma, die in all diesen Häusern die Elektrik erneuert hatte. Als dann ein Verwalter gesucht wurde, hatte er sich beworben und war unter sieben Bewerbern auserwählt worden. Dass er die Häuser kannte und in Seidenbach wohnte war sein Vorteil gewesen.
Bis vor vier Monaten gehörte die Villa einem Professor der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität. Als dieser an die Uni Tübingen berufen wurde, hatte er Frank & Partner beauftragt, einen neuen Käufer zu finden. Mit 650.000 Euro war es das teuerste Haus, das Peter Grabow zu verwalten hatte.
Als die potentielle Käuferin ihn gestern anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie heute zwischen 10 und 14 Uhr kommen werde, hatte Peter Grabow gefragt, ob sie den Termin nicht konkretisieren könne, da er noch andere Dinge zu tun habe. Daraufhin hatte sie bissig geantwortet: „Nein, das kann ich nicht. Ihr Chef, Dr. Werner Frank, bezeichnete Sie als zuverlässig und versicherte, dass Sie mir nach meinen Wünschen zur Verfügung stünden. Sie möchten sicher nicht, dass ich Ihm sage, er hätte sich in Ihnen getäuscht.“
Eine Antwort hatte sie nicht abgewartet.
Von dem Moment an wusste er: Diese Frau wird die Ruhe im Dorf stören, falls sie das Haus kaufte. Hoffentlich tat sie es nicht. Im Internet hatte er sich über die Dame kundig gemacht. Sie hieß Sylvia von Gahlen. Die Familie war eine große Nummer in der Fitness- und Kosmetikbranche. In ganz Deutschland hatte sie Studios und Sylvia von Gahlen war für die Thüringer Filialen zuständig. Der Hauptsitz der Firma befand sich in Frankfurt am Main. Daher kannte sie bestimmt seinen Chef Dr. Werner Frank, der ihr die Villa angeboten hatte.
Er hörte ein Auto vorfahren und schaute aus dem Fenster im oberen der beiden Stockwerke. Staub wirbelte hoch, als die Bremsen einen schwarzen BMW zum Stehen brachten. Durch die getönten Scheiben konnte Peter nicht erkennen, wie viele Personen im Fahrzeug saßen, aber er hätte schwören können, dass Frau von Gahlen einen Fahrer hatte. Darum staunte er nicht schlecht, als sich die Fahrertür öffnete und eine hochgewachsene schlanke Frau ausstieg. Kurze blonde Haare wurden von ein paar roten Strähnen durchzogen. Ihre schwarze Hose flatterte im Wind, eine hellblaue Jacke hielt sie mit der linken Hand über einer weißen Bluse zusammen. Es war zwar Ende August, doch der heutige Tag hatte nichts Sommerliches an sich. Auch wenn die Sonne gerade zwischen den Wolken hervorschaute, wehte ein frischer Wind. Der Herbst kündigte sich in diesem Jahr früh an.
Mit der rechten Hand nahm sie ihre Sonnenbrille ab und schaute zur Villa herüber. Als sie sich mit elegantem Schritt auf das Haus zubewegte, eilte Peter die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Während sie näher kam, betrachtete er sie eingehend und ihm fiel als erstes ein Leberfleck zwischen ihrem linken Nasenflügel und der Oberlippe auf. Ob der echt war? Er hatte davon gehört, dass sich manche Frauen als Schmuck einen Leberfleck anmalten, warum auch immer. Und als Chefin von Kosmetikläden dürfte ihr so etwas nicht schwer fallen.
„Guten Morgen“, grüßte sie. „Ich bin Frau von Gahlen und Sie sind sicher der Hausverwalter.“
Guten Morgen ist gut, dachte Peter. Es war nach eins und er wartete bereits über drei Stunden in dem leeren Haus, in dem es nicht einmal mehr einen Stuhl gab.
„Guten Tag, Frau von Gahlen. Ja, ich bin Peter Grabow, der Hausverwalter. Willkommen in Seidenbach. Darf ich Ihnen das Haus zeigen und Sie herumführen?“ Er ärgerte sich innerlich, ihr nicht trotziger gegenüber aufzutreten, aber das würde dann sein Chef erfahren. Er hatte keine Lust, wegen so einer hochnäsigen Dame seinen Job zu verlieren.
„Erklären Sie mir bitte erst einmal die Aufteilung der Räume“, bat Frau von Gahlen.
„Das Haus besteht aus sechs Räumen, die früher als Klassenzimmer dienten. Auch wenn sie kleiner sind, als die heutigen Klassen, haben sie erhebliche Maße und sind sicher zu groß für Wohnräume...“
„Bitte überlassen Sie es mir, zu entscheiden, was groß ist und was nicht!“, fuhr sie ihn an. „Da werden wir unterschiedlicher Meinung sein. Fahren Sie fort!“
Peter Grabow schluckte seinen Groll hinunter.
„Zwei der Räume befinden sich im Erdgeschoss und vier im Obergeschoss. Hier unten gibt es außerdem die Küche, ein Bad und eine Gästetoilette. Ein zweites Bad befindet sich oben. Zur Talseite gibt es eine Terrasse und oben einen Balkon mit Blick zur Leuchtenburg. Außerdem...“
„Danke“, schnitt sie ihm erneut das Wort ab. „Warten Sie hier. Ich schaue mir das Haus allein an.“ Sie ließ ihn stehen und ging die Treppe nach oben.
Peter Grabow schaute ihr mir offenem Mund nach. Sein erster Eindruck hatte sich wieder einmal bestätigt. Trotz der paar Minuten, die er sie erst kannte, verabscheute er sie bereits, vor allem, weil sie ihn so herablassend behandelte. Wie einen Menschen zweiter Klasse. Aber das war er sicher in ihren Augen auch. In diesem Ort hatte er es mit vielen wohlhabenden Leuten zu tun, aber so war er bis jetzt noch nie behandelt worden. Sicher gab es mit dem einen oder anderen Bewohner hin und wieder Meinungsverschiedenheiten, aber die wurden immer höflich ausgeräumt. Hoffentlich zieht die nicht hier ein.
„Ahhh!“ Ein Schrei aus der Küche riss ihn aus seinen Gedanken. Was war passiert? Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie wieder nach unten gekommen war. Er eilte zu ihr.
„Was soll das denn!?“, keifte sie und deutete mit dem Zeigefinger der linken Hand auf die Küchenmöbel. „Was soll diese Einbauküche hier drin?“
„Die haben wir noch nicht ausgeräumt. Dr. Frank meinte, dass der neue Hauseigentümer sie vielleicht übernehmen wolle, da sie erst ein halbes Jahr alt und in sehr gutem Zustand ist.“
Frau von Gahlen betrachtete ihn mit einem geringschätzigen Blick: „Ich kaufe doch nicht so eine teure Villa mit einer gebrauchten Küche. Ich dachte, Dr. Frank hätte eine bessere Meinung von mir. Wie man sich doch täuschen kann.“
Woher sollte er da schon gewusst haben, dass sich eine Frau von Gahlen für die Villa interessiert, würde er ihr am liebsten an den Kopf knallen. Ein anderer Käufer wäre vielleicht glücklich über die Küche gewesen.
„Bis übermorgen muss die Küche raus sein! Ich werde meine Innenarchitektin beauftragen, das Haus für mich einzurichten. Sie wird Sie morgen anrufen und Ihnen mitteilen, wann sie sich das Haus anschaut und alles ausmisst.“
„Das heißt also, Sie werden das Haus kaufen“, stellte er missmutig fest.
„Ja. Es entspricht genau meinen Vorstellungen und ich möchte so schnell wie möglich einziehen. Oder passt es Ihnen nicht?“ Sie grinste ihn hämisch an.
Nein, das passte ihm ganz und gar nicht. Da er aber in Zukunft öfter mit ihr zu tun haben wird, durfte er es sich nicht mit ihr verderben.
„Doch, ausgezeichnet. Ich dachte nur, Sie wollten sich vorher noch ein weiteres Haus anschauen. Im Nachbarort steht auch eins zum Verkauf.“ Zwar hätte er dann auch mit ihr zu tun, aber dort wohnte er nicht und würde ihr nicht so oft begegnen.
„Warum sollte ich mir das andere Haus ansehen, wenn mir dieses hier bestens gefällt?“ Ihre Gedanken schweiften ab. Elke wird das Haus auch gefallen. Sie musste es ihr unverzüglich mitteilen. Ein Blick auf die Uhr machte sie traurig. Ihre Freundin war jetzt nicht zu erreichen. Sie schrieb ihr eine SMS und bat um einen schnellen Rückruf. Hoffentlich ging ihr Wunsch in Erfüllung und Elke gab ihren Zweitjob auf.
„Das andere Haus ist etwas kleiner. Da fühlt man sich allein vielleicht etwas wohler“, versuchte es Grabow ein letztes Mal.
„Hab ich nicht gesagt, mir die Entscheidung zu überlassen, was groß ist? Übrigens ziehe ich nicht allein ein.“
Grabow schaute sie erstaunt an. Sein Chef hatte gesagt, sie sei alleinstehend. Ihre Zeit war zu sehr damit ausgefüllt, ihre Geschäfte zu leiten, sodass ihr keine Zeit für eine Beziehung blieb. Da hatte er sich wohl geirrt. Grabow glaubte, sein Chef hatte auch mal Interesse an ihr bekundet. Sie war ja auch hübsch, aber…eine Hexe in Engelsgestalt.
„Oh, das wusste ich nicht“, sagte er.
„Das geht Sie auch nichts an.“ Sie schaute ihm in die Augen. „Lassen Sie schnellstens die Küche verschwinden und erwarten Sie den Anruf meiner Architektin. Auf Wiedersehen.“
Sie wandte sich der immer noch offenen Tür zu und ging zu ihrem Wagen. Bevor sie einstieg setzte sie ihre Sonnenbrille wieder auf, obwohl der Himmel nun vollkommen mit Wolken verhangen war
Das kann ja heiter werden, dachte Grabow. Er schaute auf die Uhr. Halb vier. Würde er jetzt noch den Grobmülldienst erreichen? Er musste es versuchen.