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Wie alles begann: von Makedonien zur Oikoumene Das Vermächtnis des Vaters (ca. 356–336 v. Chr.)
ОглавлениеWer im Jahr 343 v. Chr. Mieza, eine kleine Stätte am Fuß des Bermion-Gebirges, besuchte, bewunderte wahrscheinlich zunächst die atemberaubende Schönheit der Landschaft: bewaldete Berghänge, klare Wasserläufe und ein paar Höhlen in einer Felswand. Die Schönheit dieses Ortes hatte seine Einwohner inspiriert, in ihm einen Wohnsitz der Nymphen, ein Nymphaion, zu sehen. Unser imaginärer Besucher hätte überrascht festgestellt, dass die Nymphen männliche Gesellschaft bekommen hatten: ein bärtiger Lehrer Anfang vierzig und eine Gruppe von Jugendlichen und jungen Männern diskutierten dort über Lyrik, Geographie, Mythen und Naturphänomene.
Niemals wäre unser Besucher auf den Gedanken gekommen, dass die an diesem idyllischen Ort versammelten Personen dazu bestimmt waren, die Weltgeschichte nachhaltig zu beeinflussen. Einer von ihnen, Aristoteles, sollte die Grundlagen der westlichen Philosophie und Wissenschaft legen – erst Descartes hatte wieder einen vergleichbar maßgeblichen Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte. Aristoteles war vom makedonischen König Philipp zum Erzieher von dessen Sohn Alexander und den Sprösslingen der Elite seines Königreichs bestimmt. Kallisthenes, ein Neffe von Aristoteles, sollte mit Ende zwanzig eine einflussreiche Geschichte der Taten Alexanders verfassen, und dieses Werk sollte später den Verfasser des Alexanderromans inspirieren, der in griechischen, lateinischen, syrischen, armenischen und slawischen Adaptionen im Umlauf war und zu einem der meistgelesenen Bücher der Vormoderne wurde. Der 13-jährige Alexander würde weniger als zehn Jahre später eine Militäroperation in Gang setzen, die das Antlitz der damals bekannten Welt veränderte; elf Jahre darauf gründete er Alexandria, eine Stadt, die alle anderen Städte des östlichen Mittelmeerraums hinsichtlich Wohlstand, Bevölkerungszahl und Kultur in den Schatten stellen sollte. In dieser Stadt begründete Ptolemaios, ein weiterer dieser Jugendlichen, eine Dynastie, die länger Bestand hatte als jede andere bekannte Dynastie der antiken Welt; aber noch bedeutsamer war, dass er das größte Bildungszentrum errichtete, das die Welt je gesehen hatte: das Mouseion mit seiner berühmten Bibliothek.
Derartige Konstellationen von außergewöhnlichen Persönlichkeiten zur selben Zeit am selben Ort begegnen in der Geschichte nicht häufig. Falls sie zu einer Zeit auftreten, in der der Wunsch nach Veränderung groß ist, können großartige Dinge geschehen, wie die Renaissance, die Aufklärung oder die Französische Revolution. Im Jahr 343 v. Chr. war in Griechenland der Wunsch nach Veränderung in der Tat groß. Im späten 5. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. hatten verschiedene Hegemonialmächte einander abgelöst – jeder gelang es nur für kurze Zeit, sich als Anführer in der Welt der freien Städte und Städtebünde zu etablieren. Die kontinuierlichen Kriege zwischen Hegemonialmächten und rebellierenden Verbündeten lieferten den Achämenidenkönigen von Persien die Gelegenheit, Rache zu nehmen für die Niederlagen, die sie in einer Reihe von Kriegen gegen die Griechen (490–449 v. Chr.) erlitten hatten. 387 v. Chr. verleibten die Achämeniden die griechischen Städte Kleinasiens wieder ihrem Reich ein. Jetzt, nachdem die Stadtstaaten Athen, Sparta und Theben hatten mitansehen müssen, wie ihre jeweilige Führungsrolle etabliert, herausgefordert und dann zunichtegemacht worden war, trat in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. am Rand der griechischen Welt eine neue Macht in Erscheinung: die Makedonen (Makedones) unter der Herrschaft des Argeadenkönigs Philipp II.
Das Königshaus der Argeaden herrschte seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. über die Makedonen. Die Dynastie führte ihren Ursprung auf Temenos, den König von Argos, und letzten Endes auf Herakles zurück. Die Makedones waren ein Stamm mit einem griechischen Namen, vermutlich mit der Bedeutung „die Hochlandbewohner“ – von makednos (hoch). Sie verehrten griechische Götter, insbesondere den Olympischen Zeus. Ihre bedeutendsten Siedlungen trugen griechische Namen: Dion, „das Heiligtum des Zeus“, und Aigai, „der Ziegen-Ort“. Ihre Personennamen leiteten sich aus dem Griechischen ab: Philippos, „der, der Pferde liebt“; Ptolemaios, „der Kriegerische“; Perdikkas, „das Rebhuhn“; Amyntas, „der Verteidiger“; Alexandros, „der Männer-Abwehrer“; Berenike, „die Frau, die Sieg bringt“; Kleopatra, „die Tochter eines ruhmreichen Vaters“; Archelaos, „der Führer des Heeres“. Und sie sprachen einen griechischen Dialekt. Was sie von den Griechen des Festlands und der Kolonien unterschied, war aber nicht so sehr ihr Dialekt – im Ohr eines Atheners klang das vermutlich so wie das Englisch eines amerikanischen Südstaatlers im Ohr eines Oxford-Professors – als vielmehr ihre Lebensweise. Bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. waren die Makedonen in erster Linie Hirten, die in kleinen Siedlungen lebten. Anders als die Griechen im Süden, die das Erbkönigtum vor dem 6. Jahrhundert v. Chr. abgeschafft hatten – Spartas Doppelkönigtum war eine Ausnahme –, wurden sie von einem König regiert. Die in öffentlichen Dokumenten gelegentlich getroffene Unterscheidung zwischen „den Hellenes und den Makedones“ beruht nicht auf ethnischen Kriterien, sondern bezieht sich auf verschiedene Organisationsformen der Gemeinwesen.
Abb. 1 Miniaturkopf aus Elfenbein von Philipp II. Vergina, ca. 350–336 v. Chr. Archäologisches Museum Aigai/Vergina.
Bis Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. lebten die Makedonen im Schatten der Achämenidenkönige und später Athens. König Archelaos (412–399 v. Chr.) stärkte das Königreich und förderte städtisches Leben und Kultur; an seinem Hof verfasste Euripides seine Bakchen. Auf Archelaos’ Tod folgten jedoch dynastische Konflikte und Kriege. Als König Perdikkas III. 359 v. Chr. auf dem Schlachtfeld fiel, ergriff sein Bruder Philipp die Macht anstelle seines minderjährigen Sohnes Amyntas. In den 25 Jahren seiner Herrschaft veränderte Philipp II. (s. Abb. 1) Makedonien und die gesamte griechische Welt auf so dramatische Weise, wie sein Sohn später den Rest der bekannten Welt verändern sollte. Der Historiker Arrian legte Alexander im 2. Jahrhundert n. Chr. eine Würdigung dessen in den Mund, was Philipp für die Makedonen getan hatte:
Er fand euch als mittellose Streuner, die meisten von euch in Schafhäute gekleidet, als ihr in den Bergen ein paar wenige Schafe weidetet und um diese erfolglos mit den Illyrern, den Triballern und den Thrakern, euren Nachbarn, kämpftet. Er gab euch Mäntel, die ihr anstatt der Schafhäute tragen konntet; er führte euch von den Bergen in die Ebenen hinab; er versetzte euch in die Lage, gegen die Feinde an euren Grenzen kämpfen zu können, sodass ihr nicht mehr auf die befestigte Lage eurer Siedlungen vertrauen musstet, sondern euch durch euren eigenen Mut verteidigen konntet. Er machte euch zu Stadtbewohnern und sorgte durch Gesetze und gute Bräuche für Ordnung.
Auch wenn dieses Bild von Makedonien vor Philipp mit Sicherheit überzeichnet ist, wie archäologische Forschungen vor Ort gezeigt haben, waren seine Errungenschaften durchaus beachtlich. Philipp war ein militärisches Genie, ein geschickter Diplomat, ein begabter Propagandist und großartiger Organisator, und er war begierig, von anderen zu lernen, erkannte mit scharfem Verstand Herausforderungen und Gelegenheiten und verfügte über einen grenzenlosen Ehrgeiz – damit verdient er den Beinamen „der Große“ nicht weniger als sein Sohn. Während seiner mehrjährigen Geiselhaft als Jugendlicher in Theben hatte Philipp die neue Taktik der thebanischen Armee erlernt: Bei dieser Schiefen Schlachtordnung war der linke Heeresflügel stärker als das Zentrum und der rechte Flügel; während der schwächere rechte Flügel den Feind in den Kampf verwickelte und so lange wie möglich seine Stellung hielt oder sich zurückzog, hatte der linke Flügel die Gelegenheit, gegen den traditionell starken rechten Flügel des Gegners vorzustoßen, ihn zu durchbrechen und so den Feind einzukesseln. Philipp verbesserte diese Taktik mit einer genialen Erfindung. Er stattete seine Infanterie mit langen Speeren (sarissai) aus, die alle im selben Moment gesenkt wurden; mit einer Länge zwischen 4,5 und 5,5 Metern schützten sie fünf Reihen von Soldaten. Er verbesserte auch die Ausbildung der Kavallerie. Seine militärischen Erfolge begleitete er mit verwaltungstechnischen Maßnahmen. Den Nachwuchs des makedonischen Adels ließ er unter Aufsicht des Hofes erziehen, er gründete Städte, nutzte die natürlichen Ressourcen der neuen Gebiete – Holz und Silber – zum Bau einer Flotte und teilte den Soldaten im Gegenzug für ihren Militärdienst Land zu.
Dass Philipp mit Aristoteles einen aufgehenden Stern auf dem Gebiet von Philosophie und Wissenschaft dazu einlud, seinen Sohn zu erziehen, weist ihn als Mann der Tat aus. Sein Palast in Aigai (heue Vergina) lässt ideologische Raffinesse erkennen. Einer der Höfe war mit einem symbolträchtigen Motiv verziert: der Entführung der phönizischen Prinzessin Europa durch Zeus. Zeitgenössische Betrachter hätten darin eine Anspielung auf den Konflikt zwischen Europa und Asien erkannt. Herodot beginnt seine Schilderung der Perserkriege mit einem Hinweis auf diesen Mythos, um zu erklären, worin die anhaltenden Konflikte zwischen Griechen und Barbaren ihren Ursprung hätten. Philipp bereitete die Griechen ganz bewusst auf den nächsten Schritt in ihrer Auseinandersetzung mit dem jetzt geschwächten Perserreich vor: auf einen neuen Feldzug gegen Asien, unter seinem Kommando. Während Philipps Palast gebaut und ausgeschmückt wurde, drängte ihn 346 v. Chr. ein athenischer Intellektueller, Isokrates, in einem offenen Brief dazu, „sich für die Eintracht der Griechen und einen Feldzug gegen die Barbaren einzusetzen“, also gegen das Perserreich.
Um seinen Plan einer Eroberung des Perserreichs in die Tat umzusetzen, baute sich Philipp nach und nach ein Netzwerk von Unterstützern auf – seinen Höhepunkt fand dies 337 v. Chr. in einem Bündnis, seinem genialsten diplomatischen Schachzug. Die Erweiterung von Philipps Einflussgebiet außerhalb der geographischen Grenzen Makedoniens nach Süden hatte bereits viel früher, mit der De-facto-Annektierung Thessaliens um 352 v. Chr., begonnen. Sobald er zum Oberbeamten (archon) des Thessalischen Bundes ernannt war, kontrollierte Philipp dieses Land, das reich an Getreide und Pferden war, und verfügte über die Einnahmen aus dessen Häfen und Märkten. Philipps Erfolg beruhte nicht allein auf militärischer Macht. Er bestach Staatsmänner in Athen, das mit ihm um die Führungsrolle in Griechenland wetteiferte, und unterzeichnete immer dann, wenn es ihm als geeignetes Mittel erschien, einen Gegner zu neutralisieren, einen Bündnisvertrag – jedoch ohne die Absicht, diesen auch einzuhalten. Viele haben von Philipp das Bild eines alten betrunkenen Vaters, der mit seinem talentierten Sohn und seiner ehrgeizigen Frau in Konflikt geriet. Doch tatsächlich war er ein Mann, der den größten Redner der Antike allein durch seine Gegenwart zum Schweigen bringen konnte. Als Demosthenes von Athen 347 v. Chr. als Botschafter die einmalige Gelegenheit hatte, Philipp von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, verließ ihn seine beste Waffe: seine Redegewalt. Zunächst sprach er noch einige einleitende Worte, hörte dann aber plötzlich auf zu reden und brach zusammen.
Philipps größte Leistung bestand darin, die Griechen zum ersten Mal seit 477 v. Chr. zu einer Allianz vereinigt zu haben. Sein Heer besiegte die verbündeten Truppen der Athener und Böoter 338 v. Chr. in der Schlacht von Chaironeia. Für Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts markierte diese Schlacht das Ende der freien Stadtstaaten und damit das Ende griechischer Geschichte – oder zumindest des Teils davon, den sie als untersuchenswert betrachteten. Aus einer anderen Perspektive markiert die Schlacht von Chaironeia auch den Anfang vom Ende der achämenidischen Geschichte. Anstatt seine besiegten Feinde zu zerstören, lud Philipp sie zu einer Versammlung ein – einer seiner unerwarteten und genialen diplomatischen Schachzüge. Der Versammlungsort war sorgfältig gewählt: Korinth. An diesem Ort, an dem eine schmale Landbrücke Zentralgriechenland mit der Peloponnes verbindet, befand sich ein Heiligtum des Poseidon, wo eines der vier traditionellen panhellenischen Festspiele abgehalten wurde. Von größerer Bedeutung war jedoch, dass sich die Griechen in Korinth 480 v. Chr. zum ersten Mal zu einem Bündnis gegen die Perser zusammengeschlossen hatten. Ebendieser erste Korinthische Bund schlug Xerxes 480 v. Chr. bei Salamis und 479 v. Chr. bei Plataiai, brach aber nur ein Jahr später auseinander. Philipp stellte sich in die Tradition dieser Siege; er erinnerte die Griechen daran, dass sie die Perser nur dann würden besiegen und die eigene Freiheit bewahren können, wenn sie sich zusammenschlössen; und er erinnerte sie an ihre Pflicht, die griechischen Städte Kleinasiens von der persischen Herrschaft zu befreien, wie sie es 478 v. Chr. getan hatten.
Die meisten griechischen Städte und Städtebünde – Ausnahmen bildeten Sparta und Epirus – folgten seiner Einladung. Die Abgeordneten schlossen ein Friedensabkommen, das den Griechen garantierte, was ihnen das Wichtigste war: ihre Unabhängigkeit, Abgabenfreiheit, und dass es keine Besatzungstruppen geben würde. Wer den Eid des Abkommens schwor, verpflichtete sich dazu, den Frieden einzuhalten und nicht zu versuchen, die Verfassungsordnung der Mitgliedsstaaten oder die Königsherrschaft Philipps und seiner Nachfolger zu stürzen. Die Mitglieder des Bündnisses waren in einer Ratsversammlung (synhedrion) vertreten, vermutlich proportional zu ihrer Bevölkerungszahl oder ihrer Truppenstärke; kleine Gemeinwesen stellten möglicherweise gemeinsam einen Abgeordneten. Im Fall von Konflikten zwischen Mitgliedern fungierte der Rat als Schiedsgericht. Wurde das Territorium oder die Verfassung eines Mitgliedstaates angegriffen, waren die Mitglieder dazu verpflichtet, dem Angreifer den Krieg zu erklären. Der Bund wählte einen Anführer (hegemon), der im Kriegsfall den Oberbefehl über das Heer innehatte und die Größe der von jedem Bündnispartner zu entsendenden Truppenkontingente festlegte. Wie erwartet, wurde Philipp zum hegemon gewählt und mobilisierte die Griechen zu einem Krieg gegen die Perser. Vermutlich zielte er letzten Endes darauf ab, sein Reich zu vergrößern, die Griechenstädte Kleinasiens von der persischen Herrschaft zu befreien und sie in sein Bündnis einzugliedern; es ist unwahrscheinlich, dass er beabsichtigte, das Perserreich zu zerstören. Zwar können wir viele Einzelheiten dieses Abkommens nicht fassen, fest steht aber, dass es beträchtlichen Einfluss auf die künftige Geschichte hatte. Dieser Korinthische Bund oder Hellenenbund bildete die Grundlage für Alexanders Führungsposition auf seinem Feldzug, und er wurde in regelmäßigen Abständen von späteren Königen wiederbelebt, wenn sie die Führerschaft der Griechen für sich beanspruchten.
Philipp mag die Angelegenheiten in Griechenland erfolgreich in Ordnung gebracht haben, es gelang ihm jedoch nicht, die Spannungen innerhalb seiner eigenen Familie abzubauen. Dass er 338 oder 337 v. Chr. eine neue Frau – seine siebte – heiratete, war nichts Außergewöhnliches: Die makedonischen Könige praktizierten Polygamie. Anders als seine übrigen Frauen gehörte diese neue Gemahlin, Kleopatra, jedoch einer Familie der makedonischen Elite an; alle Söhne, die sie zur Welt bringen würde, würden Alexanders Nachfolgeansprüche infrage stellen. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wurde so angespannt, dass Alexander den Hof kurzzeitig verlassen musste. Kurz bevor der Perserfeldzug beginnen sollte, söhnte er sich mit seinem Vater aus und kehrte nach Aigai zurück.