Читать книгу Duftapotheke Bundle. Bände 1-3 - Anna Ruhe - Страница 16
Оглавление8. Kapitel
Es roch viel zu intensiv, um natürlich zu sein. Der Duft haute mich für einen Moment regelrecht um und ich konnte mich ein paar Sekunden kaum bewegen. Selbst Benno stand ganz still da, ohne einen einzigen
Ton von sich zu geben.
Was vor uns lag, war unglaublich. Über die gesamten Wände zogen sich polierte Holzregale. Geschnitzte Blüten,
Pflanzen und Ranken verzierten die Bretter, genau wie am Treppengeländer der Villa Evie. Darauf reihten sich Glasflakons in den verschiedensten Formen und Farben aneinander. Dazwischen gab es Kisten und Schubladen mit funkelnden Kristallen und Mineralien. Von ganzen Steinen bis feinem Pulver schien es alles zu geben.
Über uns flammten die Gaslampen so warm wie das Sonnenlicht. Ich vergaß völlig, dass ich gerade unter dem Gewächshaus stand, also unter der Erde. Langsam traute ich mich Schritt für Schritt vorwärts. So musste sich Ali Baba gefühlt haben, als er endlich die Höhle betreten hatte, in der sich Tausende glitzernde Gegenstände türmten. Das hier war zwar ganz sicher keine Schatzkammer, aber es sah wie eine aus.
Der Geruch in der Villa Evie kam also von hier.
In Körben an der Wand lagerten getrocknete Blüten und darüber hingen getrocknete Sträuße aus Kräutern. In der Mitte des Raumes stand ein Holztresen, ähnlich einer Theke. Darauf stapelten sich mehrere Notizbücher.
Der Raum hatte etwas Magisches an sich. Alles hier unten wirkte wie in einer alten vornehmen Apotheke und gleichzeitig erinnerten die zahllosen bunten Flakons an eine verrückte Hexenküche.
Ich überlegte, ob das früher einmal ein Laden gewesen war. Aber unter der Erde? Wie waren die Leute dann hierhergekommen? Eins war schließlich nicht zu übersehen: Dieser Raum war absichtlich versteckt worden.
Mats streifte mit seiner Hand über die alten Notizbücher auf dem Tresen. Das Papier darin war abgegriffen und die Tinte darauf halb verblasst.
»Handbuch der wirkungsvollsten Rezepturen«, las er laut vor, dann blätterte er die ersten Seiten um.
Ich ging an den unzähligen Glasflakons entlang. In einigen von ihnen wallten die farbigen Flüssigkeiten wie Rauchwolken, aus manchen glitzerte und funkelte es, in einigen blubberten dicke Blasen schwerfällig auf und ab und in anderen sprudelte es wieder wie in einem Glas mit Mineralwasser.
Jeder einzelne Flakon war mit einem handgeschriebenen Etikett beklebt. Um die alte Schrift überhaupt entziffern zu können, musste ich ganz nah an die Fläschchen herangehen. Es gelang mir nicht bei allen, aber ein paar der Aufschriften bekam ich hin. Ein schmaler Flakon mit rundem Bauch hieß »Wahrhaftiges Aroma«, ein zartrosa Fläschchen »Traumhafte Brise« und ein schnörkeliger hellblauer nannte sich »Ein Duft von Freiheit«.
An die Regalbretter waren Metallschildchen angebracht, in die genau wie bei den Bilderrahmen etwas eingraviert war. Scheinbar waren es Duftkategorien. Sie hießen: »Ewige Düfte« oder »Flüchtige Düfte«. Ich las aber auch von heilenden, vergangenen, zeitverschiebenden, gefährlichen, traumhaften und sogar schmerzhaften Düfte.
Bei den schmerzhaften Düften konnte ich nicht mehr anders und kicherte los. »Mit schmerzhaft sind bestimmt diese eklig stinkenden Altdamenparfüms gemeint, bei denen man immer versucht, nicht mehr einzuatmen, bis man fast dabei erstickt?« Ich schüttelte mich und lachte. »Das ist also das Geheimnis, warum eure Stadt so aus dem Häuschen ist? Der Hexenmeister und der gruselige Alchemistenclub waren in Wirklichkeit nur eine alte Parfümerie?«
»Mag sein, aber warum versteckt die jemand unter der Erde?«, fragte Mats. Er lachte nicht mit und er sah auch nicht so erleichtert aus, wie ich mich fühlte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaute er sich stattdessen weiterhin alles ganz genau an. Dabei sah er aus, als erwartete er jeden Moment, dass etwas schiefging.
Ich strich mit der Hand an dem Regal mit den flüchtigen Düften entlang. Ein großer Flakon mit grüner Flüssigkeit fiel mir auf. Ich griff danach und nahm ihn aus dem Regal. Das Glas war kalt, trotzdem spürte ich unter meiner Handfläche, wie sich die Flüssigkeit darin sanft hin und her bewegte.
»Duftranke«, las ich auf dem Etikett. Gespannt zog ich den Korken heraus und wartete. Der Duft von Gras und frischem Grünzeug stieg mir in die Nase. Dabei erinnerte ich mich plötzlich an einen Waldspaziergang letztes Jahr mit Pa, bei dem es in Strömen geregnet hatte. Unter den tropfenden Blättern der Bäume mussten wir eine Ewigkeit warten, bis wir endlich wieder nach Hause konnten. Der feuchte Wald hatte an diesem Tag genauso gerochen wie das, was jetzt aus dem Flakon aufstieg.
»Oh, verdammt! Was ist das denn?« Mats riss mich aus meinen Gedanken. Ich war so vertieft in meine Erinnerung, dass ich erst jetzt die hellgrünen Pflänzchen entdeckte, die sich auf einmal aus dem Fußboden schoben. In Windeseile verschwand ein komplettes Regal hinter wachsenden Blättern.
Wahnsinn! Während uns allen noch die Kinnladen herunterhingen, überwucherte längst eine Ranke das nächste Regal. Sie war so dicht und kräftig, als müsste Dornröschen dahinter schlafen.
Benno gluckste. »Luzie! Was machst du da?«
Unsicher, ob ich lachen oder schreien sollte, hielt ich mir meine Hand vor den Mund und starrte zu Mats.
Dem war jedenfalls gar nicht nach Lachen zumute.»Mach das Ding sofort zu, Luzie!« Er klang fast panisch.
Ich nickte, verkorkte die »Duftranke« wieder und stellte das Fläschchen zurück ins Regal. Direkt daneben stand ein Flakon mit der Aufschrift »Verblühende Note«. Vielleicht ließ der die Ranken ja wieder verschwinden? Also öffnete ich auch das Fläschchen, bevor Mats mich davon abhalten konnte. Diesmal durchströmte ein Geruch von duftenden Blüten den Raum. Es roch nach Flieder und Rosenblättern.
Und wirklich, an den kräftigen Stängeln entwickelten sich plötzlich Knospen, die größer wurden, immer größer, bis sie sich auseinanderfalteten. Zwischen die dunkelgrünen Blätter der Ranke schoben sich Blüten in allen Farben und Formen. Ein wahres Blumenmeer rauschte über die Wand. Aber bevor jemand von uns wusste, was er dazu sagen sollte, ließen die Blüten ihre Blätter herabfallen und auch die Ranke verwelkte. Als alle Blätter auf dem Boden lagen, verdorrten sie langsam und alles fing an, sich aufzulösen, bis der Raum wieder so aussah wie vorher.
Mein Kopf schwang zwischen Benno, Mats und dem Regal mit den »Flüchtigen Düften« hin und her. Benno bückte sich nach einem welken Blütenblatt, aber sobald er es aufhob, löste auch das sich in seiner Hand auf und verflog als farbige Rauchwolke.
»Unglaublich«, brachte ich schließlich hervor.
»Das muss ein Traum sein«, murmelte Mats ratlos.
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich mich wirklich ein bisschen wie in Trance fühlte. »So verrückte Träume habe ich nicht.«
Auf der Suche nach einer Erklärung durchsuchte ich die Regale. Auf dem für »Zeitverschiebende Düfte« las ich Namen wie »Jahrhundertduft«, »Ein Hauch Zeitverschiebung«, »Der gestrige Geruch« oder »Rückspulender Dampf«.
Ich drehte mich zu Mats um und wartete darauf, was er sagen würde. Um die Nase herum wirkte er richtig blass, außerdem guckte er immer noch viel zu ernst. Vor ihm auf dem Tresen lag das aufgeschlagene Notizbuch, in dem er geblättert hatte.
»Was steht denn dadrin?«, fragte ich.
Mats beugte sich über den Tisch und ich stellte mich neben ihn. Ein paar der Blätter waren lose, wahrscheinlich weil jemand sie herausgerissen hatte. Vielleicht war das Notizbuch aber auch nur sehr oft benutzt worden und die Heftung deshalb so mitgenommen, dass die Seiten herausfielen?
Das Buch bestand aus handschriftlichen Notizen, die zu unterschiedlichen Zeiten aufgeschrieben worden sein mussten. Die Tinte mancher Sätze war hell und verblichen, während andere noch gut lesbar waren. Wirre Skizzen, noch mehr lateinische Pflanzennamen, Formeln und Rezepte, wie in einem Backbuch, verteilten sich auf den Seiten.
Mats blätterte zurück zum Anfang und schob mir das Buch hin. Geheime Aufzeichnungen, stand dort in Schönschrift. Und etwas kleiner darunter: Wer die Geheimnisse der Duftapotheke aufdeckt, trägt größte Verantwortung und wird in ständiger Gefahr leben.
»Eine Duftapotheke?« Ich kicherte, als ich Mats’fassungsloses Gesicht sah. »Ach komm schon, guck nicht so. Was auch immer das gerade war, gefährlich sind ein paar Blümchen jetzt wirklich nicht.«
Mats strich sich über die Stirn. »Vielleicht haben wir einfach nur Glück gehabt.« Er sah richtig mitgenommen aus.
Ich versuchte, mich von seinem mulmigen Gefühl nicht anstecken zu lassen. »Du glaubst doch nicht wirklich an die Märchen vom alten Hexenmeister? Das ist Quatsch. Hier stehen ein paar Fläschchen mit lustigen Namen rum. Okay, das mit den Blumen war echt der Hammer, aber gefährlich? Komm schon!«
Mats klappte das Notizbuch zu und hob einen seiner Mundwinkel in die Höhe. »Na ja, wenn du meinst …« Aber wirklich überzeugt klang er nicht. »Wir haben also eine Duftapotheke gefunden! Was auch immer das sein soll.«
Benno hatte in der Zwischenzeit eins der unteren Regale mit den »Flüchtigen Düften« ausgeräumt und baute fröhlich einen Turm aus den Fläschchen. Wie eine Pyramide aus Bauklötzchen wackelten und schwankten die bunten Flakons aufeinander. Noch bevor ich etwas sagen oder tun konnte, setzte Benno einen viel zu großen auf die Turmspitze und brachte das gesamte kleine Bauwerk zum Einsturz. Der oberste Flakon knallte auf die Steinfliesen und zersprang in tausend Scherben.
»Was machst du denn da?«, blaffte ich Benno an. »Muss man wirklich jede Sekunde auf dich aufpassen?«
Mein kleiner Bruder sah mich mit Kulleraugen an und kniff die Lippen aufeinander. Ich folgte Bennos Blick, der zur Flüssigkeit zwischen den Scherben wanderte. Sie war hell, aber nicht so klar wie Wasser, stattdessen schillerte sie blaugrün wie Öl. Ein feiner Dunst in der gleichen blaugrünen Farbe hatte sich knapp über dem Boden gebildet und schwebte wolkig darüber. Langsam stieg immer mehr Nebel aus den Scherben auf. Erst nur ganz schwach, doch im nächsten Moment zog er dichter und immer dichter um Benno herum. Bald füllte er den gesamten Raum aus. Um uns herum schwebten farbige Dunstschwaden zur Decke hinauf.
Ich kniete mich neben Benno und fing an, in den Scherben nach dem Etikett des Flakons zu suchen. Mittlerweile roch ich es auch.
Es war ein schneidender Geruch, der mir in die Naselöcher stach und der sofort Bilder in meinem Kopf entstehen ließ: Eisgletscher, Schnee und Windböen auf Gebirgsspitzen. Dabei war ich in meinem ganzen Leben noch nie auf einem Gletscher gewesen.
Ich hob das tropfende Etikett auf, von dem die Flüssigkeit die halbe Tinte gewaschen hatte. Aber ich erkannte noch genügend Buchstaben, um mir die verschwommenen zusammenzureimen: »Der Duft von Kälte«.
Mats suchte nach einem Lappen oder Tuch, fand aber nichts, also zog er sich sein Sweatshirt aus und wischte die Flüssigkeit damit auf. Darunter hatte er immerhin noch ein T-Shirt an, worüber ich ganz erleichtert war. Benno räumte kleinlaut einen Flakon nach dem anderen zurück ins Regal. Zum Glück war nur einer von ihnen zersprungen und nicht alle. Wer weiß, welcher Gestank uns sonst benebelt hätte.
»Lass mich mal lieber«, sagte ich und nahm Benno die Fläschchen aus der Hand. »Das hier ist wirklich nichts für kleine Jungs.«
Benno setzte an zu protestieren, ließ es dann aber doch sein und nuschelte: »Ist nur aus Versehen passiert.«
Mats grinste. »Na ja, wenn man kleine Türmchen aus Fläschchen stapelt, dann kann einem das natürlich aus Versehen passieren.« Er zwinkerte Benno zu und ich konnte fast hören, wie meinem Bruder ein Stein vom Herzen fiel.
»Trotzdem«, meinte Mats und warf Benno einen strengeren Blick zu. »Hier unten fasst du nichts mehr an, klar? Wer weiß, welche Kräfte in diesen Flaschen stecken. Vielleicht sind die Dämpfe ja sogar giftig …«
Erst nachdem Mats das ausgesprochen hatte, machte es auch bei mir Klick. Er hatte recht! Schneidende Dämpfe waren in der Regel nicht übermäßig gesund.
Also stolperten wir auf direktem Weg und so schnell wir konnten aus der Duftapotheke.