Читать книгу Duftapotheke Bundle. Bände 1-3 - Anna Ruhe - Страница 9
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Das Erste was mich weckte, war dieser seltsame Duft. Fremd und ziemlich intensiv wehte er um mich herum. Er kam nicht nur aus den Möbeln oder der dunklen Holzvertäfelung an der Wand. Er kam von überall.
Das Zweite war mein kleiner Bruder, der von unten nach mir brüllte.
»Luzie! Kooomm!«
Eisern zog ich die Bettdecke höher. Ich war einfach noch nicht bereit für das, was auf mich wartete. Außerdem war es viel zu früh zum Aufstehen, auch wenn die Vögel draußen schon wie verrückt vor sich hin zwitscherten und es in meinem Zimmer taghell war. Aber das lag vor allem an der blöden Oma-Gardine. Die hing nämlich nur vor der unteren Hälfte des Fensters. Mein erster Gedanke, als ich das hässliche Teil gestern bei unserer Ankunft gesehen hatte, war, es sofort nach dem Aufstehen verschwinden zu lassen. Schließlich war ich nicht hundertzwanzig wie dieser gehäkelte Lappen an der Stange. Aber dann dachte ich, wenn die Gardine es trotz ihres Aussehens geschafft hatte, dort hundert Jahre zu hängen, dann sollte sie wenigstens eine faire Chance bekommen.
Jedes andere Mädchen hätte bestimmt keinen einzigen Gedanken darüber verschwendet und einfach einen neuen Vorhang verlangt. Aber Ma hatte mir schon immer viel zu viel Respekt vor allem, was alt war, eingebläut. Manchmal sagte sie alberne Sätze wie: »Gebrauchte Dinge hüten Geschichten.« Ob irgendjemand diese Geschichten hören wollte oder nicht, interessierte sie dabei überhaupt nicht. War etwas alt, war es automatisch wertvoll. Punkt. Diesen Grundsatz stellte man in meiner Familie besser nicht infrage. Außer man wollte Ärger mit Ma bekommen. Und Ärger war nicht so mein Ding.
»Luuuzie! Früüühstück!«
Benno war wie immer hartnäckig.
Ich seufzte. Für meinen Bruder war unser Umzug ein riesiges Abenteuer. Die alte Villa, der Garten und der ganze altmodische Krimskrams. Alles war höllisch aufregend.
Klar, Benno war ja auch erst fünf.
Ein letztes Mal betrachtete ich die Risse in der Stuckdecke und rutschte dann aus dem Bett. Meine erste Nacht in der Villa Evie hatte ich also schon mal hinter mich gebracht. Und so wie es aussah, würden noch Hunderte folgen.
Ich schlüpfte in Jeans und T-Shirt und stieg die Treppe runter. Dabei knarrte jede einzelne Holzstufe und kündigte mich Schritt für Schritt an.
Hier unten roch es genauso komisch. Irgendwie nach zu vielen Dingen gleichzeitig. Nicht unangenehm, aber definitiv komisch. Und dieser Geruchsmischmasch waberte mir gleichzeitig hinterher und entgegen. Er hing überall wie ein zu stark aufgesprühtes Parfüm, das Leute manchmal in engen Räumen wie Fahrstühlen zurückließen und dort einsperrten. Hoffentlich blieb er ab jetzt nicht auch an mir hängen und kündigte mich in Zukunft schon aus der Entfernung an, ob ich das wollte oder nicht.
Zum Glück gab es auch ein paar vertraute Gerüche, wie den Duft von heißem Toast, geschmolzener Butter und Kaffee, also drückte ich mich im Erdgeschoss zwischen den Umzugskisten durch Richtung Küche. Alle anderen in meiner Familie saßen längst am Esstisch. Benno leckte gerade die Marmelade von seinem Toast und kippelte auf seinem Stuhl.
»Marmelade pur zählt nicht als Frühstück!« Pa hörte sich an, als erwähnte er das heute nicht zum ersten Mal.
»Morgen«, sagte ich.
»Guten Morgen, mein Schatz!« Ma schlürfte ihren Kaffee und blätterte in einer Zeitung.
Es war also alles wie immer. Ich schnappte mir einen Toast, beschmierte ihn ebenfalls, so dick es ging, mit Marmelade und setzte mich neben Benno.
»Gut geschlafen?« Ma warf mir einen ihrer Blicke zu, die Eis zum Schmelzen bringen konnten. Normalerweise gelang ihr das. Heute nicht.
»Geht so«, nuschelte ich und biss in meinen Toast.
Pas rechter Mundwinkel schob sich nach oben. »Jaja, die erste Nacht ist immer die härteste. Bei uns im Schlafzimmer zieht’s wie auf einer Bergspitze. Mein Nacken ist steif wie ein Brett.« Übertrieben rieb er sich die Schulter. Dazu zog er eine selbstmitleidige Grimasse, als müsste er gleich sterben. So war Pa eben. Er versuchte, jede Situation mit einem Scherz zu retten. Aber auch mit denen biss er bei mir heute auf Granit.
»Wir hätten ja einfach zu Hause bleiben können«, sagte ich nur. »Oder wenigstens in ein richtiges Haus ziehen. Eins mit elektrischer Heizung zum Beispiel?«
Ma lachte ungläubig auf. »Wie bitte? Die Villa Evie ist ein Traum! Wir können froh sein, dass wir sie so günstig bekommen haben. Alle anderen Mädchen würden platzen vor Neid!«
»Ja, aber nur, wenn unser bröckeliges Museum nicht vorher zusammenkracht und sie unter sich begräbt.« Ich atmete einmal tief ein. »Und wenn ich ihnen erst erzähle, dass ich den Badeofen eine Stunde vorheizen muss, damit mal ein bisschen warmes Wasser aus dem Hahn kommt, dann platzen sie ganz sicher alle sofort vor Neid.«
»Luzie!« Ma klappte ihre Zeitung zu und funkelte mich an. »Das bisschen Vorheizen haben die Leute früher auch hinbekommen. Du solltest froh sein, dass die Villa Evie kein gesichtsloses Neubauhaus ist! Sie ist alt und genau deshalb ist sie so atemberaubend schön. Wer hat heutzutage schließlich noch einen antiken Badeofen?«
»Eben! Niemand!«
Ich verdrehte die Augen. Meine Ma arbeitete als Restauratorin, was bedeutete, dass sie alles anhimmelte, was verstaubt oder kaputt war. Am glücklichsten sah sie immer aus, wenn sie Altes wieder zum Glänzen brachte. Manchmal nannten wir sie deshalb nur Flohmarktkrankenschwester, aber nicht mal das ärgerte sie. Das Kleidungsstück, das ich an Ma am häufigsten sah, war ihr mit Farbe und Gips verschmierter Arbeitskittel. In dem saß, kniete oder lag sie oft in irgendwelchen Kirchen auf Baugerüsten und pinselte Wandgemälde nach, die außer ihr niemand mehr erkannte. In der Villa Evie gab es zwar keine Wandgemälde, dafür aber haufenweise gruftigen Kram, der – zugegebener Weise – ihre Hilfe ziemlich nötig hatte.
Ich beobachtete Benno, der die Gelegenheit genutzt hatte: Die Marmelade war in seinem Mund verschwunden und der Toast irgendwo unter dem Tisch. Jetzt stand er auf und machte sich auf die Suche nach seinem Lego. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, um ihn nicht zu verraten.
»Leider hat der Bäcker hier am Samstag nur vormittags geöffnet.« Ma nahm einen letzten Schluck aus ihrer Tasse und sah mich an. »Wir brauchen dringend noch ein Brot für morgen. Ich weiß, du bist gerade erst aufgestanden, aber wir müssen so viel …«
»Jaja, ich mach das schon. Kein Problem.« Seit letztem Jahr zählte es zu meinen Aufgaben, am Wochenende zum Bäcker zu gehen.
»Danke, mein Schatz«, flötete Ma mir zu. »Die Bäckerei ist gleich die Straße runter, nur bis zur Kreuzung.«
»Okay.« Schnell stellte ich meinen Teller ins Waschbecken. Eigentlich war ich ganz froh über einen Grund, vor die Tür zu kommen.
Beim Zähneputzen überlegte ich einen Moment, wie ich am schnellsten meine Haare zu einer Frisur überreden konnte. Aber auch heute fiel mir zu meinen dunkelblonden Schnittlauchlocken nicht viel ein. Also machte ich mir einfach einen Zopf. Das war erstens nichts, womit man übermäßig auffiel, und zweitens ging es schnell.
In der Diele griff ich mir das Geld, das Ma mir hingelegt hatte, schlüpfte in meine Turnschuhe und ließ die Eingangstür nach einem »Bis gleich!« hinter mir zufallen. Die vier Stufen unserer Veranda sprang ich nach unten und lief den Lavendelweg entlang Richtung Bäcker. Rechts und links reichten mir die Gartenzäune nur bis zum Knie, was echt ungewohnt war für ein Großstadtkind wie mich.
Zum Bäcker war es wirklich nicht weit. Das Schild mit dem aufgemalten Croissant erkannte ich schon von Weitem. Am Ende des Lavendelwegs öffnete ich die Ladentür und erschreckte mich kurz über das Bimmeln einer Messingglocke über mir. Der Raum war altmodisch eingerichtet, eng und die Leute drängelten sich. Ein richtiger Tante-Emma-Laden! Ich mochte unseren neuen Bäcker sofort und stellte mich ans Ende der Warteschlange. Es roch herrlich nach warmen Brötchen, Vanille und Zimtschnecken.
Vor mir standen zwei Jungs, von denen sich einer zu mir umdrehte. Er war fast einen Kopf größer als ich und bestimmt zwei Klassen über mir. Bevor ich weggucken konnte, hob er eine seiner Augenbrauen. Sofort wurde mir warm. Jetzt fing er auch noch an zu grinsen. Hoffentlich lief ich nicht gleich wieder rot an! Das konnte ich nämlich super, wenn mir etwas unangenehm war.
»Hi«, sagte er. »Bist du neu hier?«
Zack! Sofort begann sich mein Körper in ein Streichholz zu verwandeln. Stocksteif und mit knallrotem Kopf.
»Ähm … wir sind gestern in die Villa Evie gezogen«, sagte ich, um einfach irgendwas zu sagen. »Das ist das alte Haus mit dem –«
»Echt jetzt? Du wohnst in der Villa Evie?« Der Junge riss die Augen auf und stieß den dunkelhaarigen Jungen neben ihm in die Seite. Dann grinste er noch breiter. »Hey, Mats, was sagst du dazu? Die wohnt neben uns, in deiner geliebten Gruselvilla!«
Gruselvilla? Na, das fing ja toll an. Noch keinen Tag hier und schon war es für einen Lacher gut, dass ich in der Villa Evie wohnte. Ich holte tief Luft und kniff die Lippen aufeinander.
Mats, der Junge mit den dunklen Locken, verzog nur ärgerlich den Mund. »Halt doch die Klappe, Leon!«
Der Blonde lachte und klopfte Mats auf die Schulter. »Hör nicht auf ihn«, meinte er und drehte sich wieder zu mir. »Mein Bruder ist von der Villa Evie total besessen. Bestimmt kommt er dich jetzt ständig besuchen und will dann jedes Mal eine Führung durchs Haus bekommen.« Kurz beugte er sich ein Stück näher und flüsterte: »Um das ›große Geheimnis‹ zu lüften.«
»Mann, du nervst!« Mats lief jetzt genauso rot an. Aber bei ihm sah es mehr nach Wut als nach Verlegenheit aus. Für den Bruchteil einer Sekunde warf Mats mir einen Blick zu, den ich schwer deuten konnte. Dann drehte er sich einfach zu der Frau hinter der Theke um. »Äh, hallo. Sechs Brötchen, zwei Croissants und ein Krustenbrot, bitte.«
Leon grinste mich weiter an. »Und? Hast du auch einen Namen, Mädchen aus der Villa Evie?«
»Ja. Hab ich«, sagte ich nur und hob mein Kinn, weil mir das alles so unangenehm war. Im gleichen Moment bezahlte Mats und drückte Leon eine seiner Tüten in den Arm. Mit einem Nicken in meine Richtung verschwand er samt seinem Bruder durch die Ladentür. Schnell bestellte ich ein Brot und vier Hörnchen und tat so, als hörte ich Leons »Tschüss dann, Mädchen mit Namen!« einfach nicht mehr.
Zurück lief ich doppelt so schnell. Erst vor unserem Haus blieb ich stehen. Ich überlegte, was dieser Leon damit gemeint haben könnte, dass sein Bruder von der Villa Evie besessen war. Welcher Junge war bitte schön von einem alten Haus besessen? Und was meinte er überhaupt mit »Gruselvilla«? Langsam öffnete ich das Gartentor und sah an den Hausmauern hinauf.
Von außen betrachtet sah die Villa Evie eigentlich wie ein in Zuckerguss getauchtes und verziertes Minischloss aus. Zumindest wenn man ganz weit weg stand und dabei die Augen halb zukniff. Gestern bei unserer Ankunft hatte Ma ständig das Wort »zauberhaft« geflötet und dabei auf die gusseisernen Schnörkel-Geländer, die endlosen Fenstersprossen und bunten Glasscheiben gezeigt.
Aber spätestens wenn man direkt davorstand, war klar: Die Hütte war einfach nur kurz vorm Zusammenkrachen. An allen Ecken bröckelte die Fassade, die Fenster schlossen kaum noch, der Lack blätterte, es roch superkomisch und überall wucherte wilder Efeu die Hauswände und Glasscheiben hinauf. Aber das Schlimmste von allem war der Ort, an dem die Villa stand. Ganze sechs Stunden hatten wir uns im Auto gelangweilt, bis wir endlich hier angekommen waren – irgendwo kurz vor der holländischen Grenze in einem verträumten Kleinstadt-Nirgendwo. Mit fünf fand man solche Umzüge vielleicht lustig, aber mit dreizehn? Bestimmt nicht!
Langsam ging ich auf die Veranda vor der Eingangstür zu. Hätte Pa sich nur nicht mit dem Direktor seiner Schule verkracht, dann hätte er nicht nach freien Stellen für Musiklehrer gesucht und er hätte niemals vorgeschlagen umzuziehen. Und ich würde jetzt nicht im Lavendelweg 33 von Schnarchhausen hocken.
Wie so oft stellte ich mir vor, was wäre, wenn ich geheime Superkräfte hätte, mit denen ich alles verändern könnte. Da gab es nämlich ein paar Dinge. Als Erstes würde ich natürlich jemand sein, der nicht immer gleich rot anlief. Ich würde nie mehr vor mich hin stammeln, wenn mich jemand anquatschte, und mir müsste nichts mehr peinlich sein.
Vor allem aber würde ich mich zurück in mein altes Zuhause zaubern.
Aber leider konnte ich nicht zaubern und Superkräfte hatte ich erst recht keine. Ab jetzt würde mein Leben also nicht nur langweilig werden, ich war auch noch völlig allein.
Mit Gänsehaut auf den Armen dachte ich an die bevorstehende Zeit, in der ich auf die Schule gehen würde, in der mein Papa unterrichtete. Sehr viel uncooler konnte es gar nicht mehr werden. Schnell schob ich den Gedanken beiseite. Jetzt waren erst mal Sommerferien und ein bisschen Schonfrist hatte ich noch, jedenfalls wenn ich diesen Leon nicht mehr traf.
Ich griff nach meinem Handy, aber es war das Gleiche wie gestern: kein Empfang. Ich konnte also nicht mal meiner besten Freundin Mona ein paar »Bruchbuden«-Fotos von hier schicken und auf Mitleid hoffen. Ich seufzte. Wenn Mona nur nicht in Berlin und Hunderte von Kilometern weit weg wohnen würde, dann wäre alles halb so schlimm. Was machte ich jetzt plötzlich ohne sie? Ob ich schon anrufen konnte? Aber bestimmt lag sie noch im Bett. Wenn keine Schule war und Mona nicht aufstehen musste, tat sie es auch nicht so schnell. Außerdem war sie, genau wie jede Sommerferien, mit ihren Eltern in Italien. Ich tröstete mich damit, dass es eh zu teuer war, dort anzurufen, und steckte mein Handy wieder weg.
So gut es ging, verscheuchte ich meine Gedanken und sah zu Benno, der im Vorgarten einen Ball hin und her kickte. Also legte ich erst mal die Brötchentüte neben der Haustür ab, setzte mich auf die Stufen unserer Veranda und sah ihm zu.
Über mir klapperte ein Emailleschild im Wind. Die Buchstaben darauf waren angeschlagen und nur noch schwer zu entziffern. Die Augen sind der Schlüssel zur Seele, aber die Nase ist das Tor, las ich mit Mühe.
Nase? Sollte das eine Anspielung auf die vielen seltsamen Gerüche im Haus sein? Ein komisches Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich das alles lustig oder doch ein bisschen unheimlich fand.
Wo waren wir hier nur hingezogen?