Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 24

ANNE BURAU 1

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Das Federvieh graste auf der Wiese vor dem Löschteich, als ob es durch nichts zu erschüttern wäre. Anne wunderte sich, daß den Tieren der Anblick so gleichgültig zu sein schien: Wie nasse Lappen lagen zwei der großen weißen Diepholzer Gänse am Zaun, verrenkt und mit zerfetzten Hälsen. Vielleicht hatten sie noch versucht, dem Freigehege zu entkommen, das plötzlich zur Falle geworden war. Der Fuchs mußte sie gejagt, in die Enge getrieben und dann gerissen haben. Du selbstvergessene Trantüte, dachte Anne, die fröstelnd am Zaun stand. Der Anblick der toten Tiere ging ihr mehr ans Gemüt, als sie sich eingestehen mochte. Sie hätte das Federvieh nachts in den Stall treiben müssen. Sie hatte es vergessen. Und das war unverzeihlich.

Kannst du nicht mal zugeben, daß du kein Übermensch bist? wagte eine kleine, bescheidene Stimme in ihrem Innern einzuwenden. Und laß es nicht wieder an Rena aus! »Ach was«, murmelte Anne. Sie war gestern ungeduldig gewesen, zugegeben. Vielleicht auch etwas ungnädig. Aber das lag genausogut an Rena, die derzeit alles daransetzte, sich unbeliebt zu machen. Schon seit einer halben Stunde hatte sie ihre Musikanlage voll aufgedreht; selbst hier draußen hörte man die Bässe wummern. Anne weigerte sich, diese Klangfolgen überhaupt Musik zu nennen. Andererseits: Jede Generation ruinierte sich auf ihre Weise das Gehör. Aber muß es denn ausgerechnet Heavy Metal sein? dachte sie schlechtgelaunt und seufzte.

Rena war überhaupt ein bißchen seltsam in letzter Zeit. »Bist du verliebt?« hatte Anne sich vorgestern beiläufig erkundigt. »Quatsch«, war die einsilbige Antwort. »Wann kommt denn Alexander mal wieder vorbei?« hatte Anne, die es nicht lassen konnte, noch heute früh gefragt. »Weiß nicht«, lautete die um gerade mal eine Silbe ausführlichere Auskunft.

Anne gab sich einen Ruck und öffnete das Gatter zum Freigehege. Ein kleiner Trupp Enten stürzte sich aufgeregt schnatternd in den Löschteich. Vielleicht hatte der Tod Leos ihre Tochter ebenso mitgenommen wie sie selbst – »Schön, daß du das endlich mal zugibst!« kommentierte die innere Stimme. Rena hatte Leo zwar nie wie einen Vater akzeptiert. Aber läßt es ein junges Mädchen kalt, wenn der Stiefvater ermordet wird?

Selbst Anne hatte ihm ein solches Schicksal nicht gewünscht, selbst in den schlimmsten Zeiten nicht, als sie ihn verflucht und verdammt hatte. Nein, das wirklich nicht: an den Fleischerhaken gehängt zu werden wie das Schlachtvieh. Wie ein Kadaver. Wie sehr mußte man jemanden hassen, um ihm so etwas anzutun! Hatte sie Leo jemals so gehaßt? Sie nahm die beiden Gänse an den Stelzen, die eine in die rechte, die andere in die linke Hand. Prüfend ließ sie ihren Blick über Wiese und Löschteich gehen. Die beiden Tiere schienen, so weit sie sehen konnte, die einzigen Opfer zu sein.

Hatte sie Leo gehaßt?

Anne drückte das Gatter mit dem Ellenbogen hinter sich wieder zu und ging müde hinunter zum kleinen Pferdestall. Es war eine seltsame, eine groteske Prozession: Im Grau eines trüben Morgens sah man eine schmale Gestalt mit hängenden Schultern den Weg entlanggehen, rechts und links ein schmutzigweißes Bündel in der Hand, gefolgt von einem kläffenden roten Setter, der begeistert nach den Köpfen der toten Vögel schnappte, die über den Boden schleiften. Sogar Anne hätte Mitleid bekommen, wenn sie sich so hätte sehen können. Sie warf die beiden Vogelleichen mit Schwung auf den Misthaufen hinter dem kleinen Pferdestall. Krysztof sollte sich um alles weitere kümmern.

Der Mord an Leo hatte alles wieder an die Oberfläche gespült, was sie so erfolgreich verdrängt hatte in den letzten Jahren. Anne starrte in den Nebel, der die Wiesen und Koppeln des Weiherhofs einhüllte und in dem ihre Charolais-Rinder, die hinter dem kleinen Pferdestall grasten, wie weiße Gespenster aussahen. Sie sog in tiefen Atemzügen die feuchte Luft ein. War das wirklich Anne Burau gewesen, diese kindlich verliebte Frau, die sich in Kiel für die glücklichste aller Ehefrauen hielt? Für unendlich beschenkt mit Kind, Mann und Karriere? Wie kann man nur so naiv sein, dachte Anne und beneidete im hintersten Eckchen ihres Kopfes die Frau, die sie damals gewesen war. Die Wahrheit machte nicht glücklicher. Und die große Ernüchterung machte nicht freier. Trotzdem würde sie sich nie verzeihen, daß sie nichts gemerkt hatte. Einfach all die Jahre über nichts gemerkt hatte. Obwohl es heute selbst dem Dümmsten auffallen würde.

Aber vielleicht konnte man damals tatsächlich nicht wissen, daß es Liebesbeziehungen gab, die in Wirklichkeit eine Staatsaktion waren.

Sie gab sich einen Ruck und ging zum Hofladen zurück. Es gab Gott sei Dank Arbeit. Das half fast immer. Aus der linken Kühlkammer holte sie einen Schweine- und einen Lammrücken. Schwungvoll warf sie die Tür hinter sich zu und hätte fast Sammy die Schnauze eingeklemmt, der ihr dahin hatte folgen wollen, woher es so anregend roch. Ein Kunde hatte zehn Schweinekoteletts und sechzehn Lammkoteletts bestellt. Sie parierte mit geübten Schnitten das Fleisch und stellte die Knochensäge an. Das helle Kreischen, mit der die Säge die Koteletts vom Knochen schnitt, hinterließ ein schmerzhaftes Echo in ihren Ohren. Sie schweißte die Fleischteile in dicke Plastikfolie ein, wog sie aus, legte sie beiseite und ging dann hinüber zur rechten Kühlkammer, um zwei Kilo Rindergulasch zu holen. In der Tür machte sie kurz die Augen zu. Hier hatte er gehangen. Ob sie den Anblick je vergessen würde?

Sie gab sich einen Ruck, nahm das Fleisch aus dem Regal und schloß die Kühlkammer wieder. Dann stellte sie das Kofferradio an, das im Regal hinter der Theke im Hofladen stand, und notierte den Warenpreis in ihrem Auftragsbuch. Die Radionachrichten paßten zur Stimmung, innen wie außen. Massenkarambolage mit mehreren Toten auf der Autobahn. Zwei frustrierte Väter entführen ihre Kinder. Blutige Auseinandersetzungen in Israel. Das Wetter: regnerisch, für die Jahreszeit zu kühl. Die weiteren Aussichten: nach Auflösung örtlicher Nebelfelder vorübergehend sonnig. Das wäre ja mal was, dachte Anne. Schon seit Tagen versank der Weiherhof in dieser trüben, grauen Soße.

Dieses Abgeschlossensein in einem grauen, wattigen Kokon verstärkte in ihr das bedrängende Gefühl, in Wirklichkeit eine Gefangene zu sein – eine Gefangene der Erinnerungen, die seit Leos Tod wieder auf sie einstürmten und die sie festhielten. Einwickelten. Einschweißten. Laß mich los, Leo, dachte sie, während sie sich im Wirtschaftsraum die Hände wusch. Ich ersticke. Wie eine Fliege im Bernstein, ging es ihr durch den Kopf. Sie merkte verwundert, wie passend ihr das Klischee erschien. Eingeschlossen in der Vergangenheit. Ohne Brücke in die Gegenwart. Niemals, dachte sie mit plötzlicher Traurigkeit, könnte sie jemandem erzählen, wie es anfing. Und wie es endete.

Und warum nicht? fragte sie sich mit plötzlich aufsteigender Bitterkeit. Weil die Erinnerung so weh tut? Oder weil es dein Stolz ist, der sich gekränkt fühlt, dein ganzer verdammter hochtrabender Stolz?

Fast spürte sie ein Gefühl der Erleichterung, als die Tür aufging – obwohl es sie eigentlich ärgern sollte, dachte sie flüchtig, daß er noch nicht einmal nötig gehabt hatte, sich vorher anzumelden. Kommissar Kosinski stand lächelnd im Türrahmen, im Schlepptau eine ganze Horde von Katzen. Die kleine Schwarzweiße sprang mit einem energischen Satz auf die Theke. Anne verscheuchte sie mit einem Klaps aufs Hinterteil.

»Darf ich stören?« Kosinski tat verbindlich.

Nein, hätte sie am liebsten gesagt. Aber im Grunde kam ihr die Ablenkung nicht ungelegen. Also nickte sie, ohne Begeisterung, und setzte sich an einen der Tische. »Gibt’s was Neues?« fragte sie.

Die Autopsie hatte ergeben, daß Leo mit einer Drahtschlinge erwürgt worden war. »Es dürfte schnell gegangen sein«, sagte Kosinski. Das sollte sie wohl trösten. In die Kühlkammer hatte man ihn erst danach gehängt. Nicht gerade überraschend. Der Tatort mußte sich nahe der Stelle befunden haben, an der der Weg zum Weiherhof auf die Landstraße mündete. Spuren hatten sich, vom Weg ab, hinter einer niedrigen Wildhecke gefunden. Todeszeitpunkt: am Morgen des Tages, an dem man Leo gefunden hatte. Zwischen vier und sechs Uhr früh. Kein Hinweis auf den oder die Täter.

»Und wie ist es mit der Täterin, der potentiellen?« fragte sie den Kommisar.

Kosinski lachte. »Sie sind doch eine intelligente Person«, sagte er.

»Können Sie das überhaupt beurteilen?« gab sie schnippisch zurück.

Kosinski lachte wieder. »Die erste Tatverdächtige ist immer die Ehefrau. Und wer hätte schon ein besseres Motiv als Sie, liebe Frau Burau?«

Sie sah ihm in die grauen Augen. »Und was«, fragte sie leise zurück, »hätte mich dann damit so lange warten lassen?«

»Sie meinen – seit 1991?«

»Genau«, sagte Anne und sah ihn prüfend an. Was wußte er?

»Das ist der Punkt.« Kosinski nickte. »Das habe ich mich auch gefragt.«

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