Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 36

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Karen hatte tief und traumlos geschlafen – wie eigentlich immer. Sie räkelte sich im Bett und dankte dem Schöpfer für diese natürliche Gabe. Bei allen anderen in etwa ihrer Berufsposition oder Altersklasse waren präsenile Schlafstörungen verbreitet, zumal nach einem Tag wie dem gestrigen. Aber nicht bei mir, dachte sie voller Genugtuung.

Mit Schadenfreude hörte sie im Flur das Telefon klingeln. Heute nicht, murmelte sie. Gleich – jetzt! – schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Sprechen Sie bitte nach dem Pfeifton!« Und wenn nicht, ist es auch egal.

Karen lag auf der linken Seite ihres geräumigen Bettes. Suchend tastete sich ihre rechte Hand auf die andere Seite vor. Die Zeitung von gestern lag noch da, der »Spiegel« von letzter Woche, ein Kommentartext, den sie dringend lesen müßte, ein Vorgang, den sie aus dem gleichen Grund mit nach Hause genommen hatte, der Krimi, den sie gestern abend statt dessen gelesen hatte. Sie seufzte zufrieden, griff sich das große Kissen, das rechts von ihrem Kissen lag, und stopfte sich beide hinter den Kopf. Ihr Bett war aus alter Gewohnheit für zwei ausgelegt: ein großes Kissen und ein kleines Kissen und eine Bettdecke für sie. Und: ein großes Kissen und ein kleines Kissen – und eine Bettdecke: für jedermann und niemanden. Für einen Gast aus der Vergangenheit, vielleicht. Für Ralph, wahrscheinlich.

Fehlt nur noch ein Hinweisschild, dachte sie mit Selbstironie. »Hier hat Ralph sein Haupt gebettet« – an jedem Abend. Oder vielmehr an jedem Abend, an dem er nicht bei seiner Familie war. Bei seiner Frau genaugenommen, korrigierte sich Karen. Bei der er geblieben sein dürfte, als er vor vier Jahren eines Morgens Abschied von ihr nahm und nie mehr zurückkehrte. Irgendwo, nun ja, mußte er ja geblieben sein.

Seither war diese Seite ihres Bettes frei geblieben. Was auch gut so war, dachte Karen und gähnte. Sie brauchte diese Hälfte des Bettes dringend – als Zwischendeponie für all die Akten, die sie aus dem Büro mit nach Hause brachte, um sie morgens vor dem Aufstehen in Ruhe zu studieren. Einen Milchkaffee und ein Diktiergerät an ihrer Seite, die einschlägige Akte auf dem Schoß – so begann ein vernünftiger Tag. Ein Mann würde dabei nur stören. Karen vermißte nichts. Meistens jedenfalls.

Es wäre natürlich schon ganz nett, wenn man sich nicht immer selbst den Kaffee machen müßte, dachte sie und angelte mit den nackten Füßen nach ihren Sandalen. Und wenn einem jemand morgens freundlich den Rücken kraulte. Wie das mit der Sexualität ging, hatte sie auch schon fast vergessen. »Eigentlich bist du noch nicht reif für den erotischen Vorruhestand«, sagte sie sich, als sie in die Küche ging. Aber wahrscheinlich war alles irgendwie gut so – so, wie es war.

In Wirklichkeit, dachte Karen oft, waren die Männer die Sehnsüchtigen. Die Frauen lebten und überlebten. Wie ihre Freundin Marion, die sich in Liebesdingen ebenfalls nie sonderlich zielstrebig angestellt hatte. »Liebste«, hatte sie zu Karen gesagt, als beide des ganzen Themas noch nicht überdrüssig waren, »rational kalkuliert ist es schon angesichts der geringeren Lebenserwartung der Männer besser, sich an keinen zu binden. Es tut ja schon weh genug, wenn das Haustier stirbt.« Sie hatten beide schrecklich darüber gelacht – auch jetzt mußte Karen wieder grinsen. »Von wegen: Nur Männer sind sexistisch«, brummelte sie und goß den Espresso in die heiße Milch.

Im Bett griff sie zufrieden zur Zeitung. Es war Samstag und erst neun Uhr. Nichts lag an, was nicht warten konnte.

Um halb zwölf zog sie ihren rosa Dufflecoat an – Ja, Paul, dachte sie, ich weiß: Das beißt sich mit meiner Haarfarbe – und ging zu Fuß zur Konstablerwache, zum Bauernmarkt. Ausnahmsweise war heute der Himmel einmal klar, und es sah nicht nach Regen aus. Schade nur, dachte Karen, daß um diese Jahreszeit die Sonne schon so tief stand, daß die Häuser lange Schatten auf Straßen und Plätze warfen. Sie freute sich darauf, an einem der Biertische in der Sonne zu sitzen, Wein zu trinken und sich das ganze Spektakel um sie herum in Ruhe anzuschauen.

Auf dem Markt drängelte sich halb Frankfurt. Die Buden und Verkaufsstände mochten im Vergleich zum Sommer weniger geworden sein, die Besucher, wollte ihr scheinen, nicht. Karen fädelte sich ein in den Menschenstrom, der sich im Prozessionstempo durch die schmalen Gassen zwischen den Buden und Ständen bewegte. Zum samstäglichen Bauernmarkt kamen die Lebensmittelproduzenten aus der Region, keine fliegenden Händler mit dem ewig gleichen Angebot. Die Frankfurter kamen begeistert, allerdings nicht nur zum Einkaufen, sondern um zu essen, zu trinken, Freunde zu treffen. Karen hatte an den Tischen und Ständen schon englische Brokerinnen und polnische Putzfrauen, Frankfurter Zahnärzte und ungarische Frühpensionäre, deutsche Kabarettisten und italienische Modehauschefinnen getroffen – und wer weiß, wer all die anderen waren, die sie ausnahmsweise mal nicht neugierig ausgefragt hatte.

Gleich vorn saß heute der Bauer, wie er im Bilderbuch stand: ein rotgesichtiger Alter im zerschlissenen blauen Trojer, der für ein paar Mark verhutzelte Äpfel und die letzten Astern der Saison feilbot. Der junge Mann mit den Küchenkräutern vier Stände weiter hatte sich bereits auf Winter eingestellt und verkaufte Kräuterglühwein. Vor dem Stand für die leckersten Käse weit und breit Rohmilchziegenkäse aus dem »Biosphärenreservat Rhön« – stand die übliche lange Warteschlange. Darauf hatte sie heute keine Lust. Karen kaufte sich eine Vogelsberger Bauernbratwurst, wie immer bei Vater und Sohn, beide im blaugestreiften Hemd und mit einer speckigen Batschkapp auf dem Kopf. Die beiden lachten sie an, man kannte sich mittlerweile. Treue, dachte sie gut gelaunt, lohnt sich eben.

»Ei wie?« begrüßte vor ihr ein Herr in Schlips und Anzug einen Mann in Lederjacke und Jeans. »Und selbst?« antwortete der. Karen grinste. An Tagen wie diesen mochte sie Frankfurt. Sie schlenderte über den Platz und drängelte sich zwischen kauenden, schwatzenden und flanierenden Menschen hindurch. Die meisten machten einen für die Stadt und die Jahreszeit ungewohnt glücklichen Eindruck. Karen konnte das nachvollziehen: Ihr ging es ähnlich.

Sie kaufte ein bißchen Gemüse, ein bißchen Schinken, Rote-Beete-Salat, ein Lammkotelett, Eier, zwei Hühnerbeine. Dann balancierte sie einen Teller mit Handkäs und ein Glas Wein an einen Stehtisch, den noch ein paar Sonnenstrahlen erreichten, und amüsierte sich mit den üblichen soziologischen Studien: In welchem Alter bekommen Männer heutzutage ihre Kinder? Was trägt die Frau über dreißig im Herbst? Woran erkennt man Studienräte? Und wieviel Wein verträgt eine Frankfurterin jenseits der 75 – drei von dieser Sorte deklinierten am Nebentisch im breitesten Frankfurterisch die Weltlage im Nahbereich durch: die Schwangerschaften ihrer Enkelinnen. Karen seufzte zufrieden auf und nahm einen großen Schluck.

Am Nachbartisch betätigte ein elegant gekleideter Inder mit Geduld und Ausdauer sein Handy, gottlob ohne den gewünschten Erfolg. Zwei Ureinwohner stritten sich über die Zukunft der Frankfurter Eintracht. In wehendem Mantel, rotem Schal und breitrandigem Hut vollzog ein stadtbekannter Universitätsprofessor seinen samstäglichen Auftritt. Und die weißhaarige alte Dame mit dem leicht geröteten Puppengesicht und den vielen Plastiktüten war wieder da, die vor dem Stand mit den gerösteten Maiskolben schwer atmend ihre Habe ablegte, um die kostenlose Mahlzeit entgegenzunehmen, auf die sie bei fast jedem der Marktbeschicker ein Gewohnheitsrecht hatte.

Karen erkannte Dani Ebinger erst, als sie vor ihr stand. Dani hatte ein geradezu sagenhaftes Talent, sich unsichtbar zu machen. Selbst Karen Stark, die Unübersehbare, versuchte, sich in Danis Nähe kleiner zu machen. »Es kommt einem einfach unanständig vor«, hatte sie ihr mal gestanden, »in deiner Gegenwart aufzutrumpfen.« Dani war die Bescheidenheit in Person. Und das in einer Branche, die vom Exhibitionismus lebt, dachte Karen und legte ihre Wange an Danis Wange, erst rechts, dann links. Dani Ebinger war die künstlerische Leiterin des »Trapez«. Sie entwarf das artistische Programm, dem das Frankfurter Varieté seinen Ruf verdankte.

Als Karen sich wieder aufrichtete, blickte sie in ein Paar karamelfarbene Augen, die sie voll gespannter Aufmerksamkeit beobachteten. Irritiert merkte Karen, daß ihr warm wurde.

»Das ist David«, sagte Dani und drehte sich zu dem Mann um, der hinter ihr stand. »David Wlassow – Karen Stark.«

»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte der Mann, den sie vorgestern in ihrem Trainingsstudio getroffen hatte, und neigte höflich den Kopf.

»Kennt ihr euch schon?« fragte Dani, nur mäßig verblüfft.

»Nein!« sagten beide gleichzeitig und lachten. Karen konnte sich auch später nicht erklären, warum sie beide über ihre Begegnung schwiegen. Soviel Einverständnis zwischen Fremden?

Dani holte sich einen Apfelwein und brachte David ein Wasser mit. Er prostete Karen zu und sagte erklärend, mit Blick auf das Glas: »Ich muß heute noch arbeiten.«

»Ich nicht!« antwortete Karen, hob das ihre und lachte ihn an.

Wer war er? Jongleur, Schwerttänzer, Katzenbändiger? Es konnte nur ein Artist sein, mit dem Dani an einem Samstagmittag durch die Gegend zog. Er ließ sie nicht aus den Augen. »Entweder macht er das immer so«, dachte Karen. »Oder es geht ihm wie mir.«

Sie war dabei, dachte sie heiter und schon etwas beschwipst, sich zu vergucken. In einen Mann. In einen Mann, der einen guten Kopf kleiner war. Wahrscheinlich kaum Deutsch sprach. Und von dem sie nur eines ganz sicher wußte: Er war erheblich stärker als sie.

»Mach keinen Quatsch, Karen«, mahnte die Kontrollinstanz in ihrem Inneren. »Und warum eigentlich nicht, zum Teufel?« fragte ihr unbelehrbar leichtsinniges Ich zurück. Karen trank noch einen Schluck Wein und spürte, wie ihr wieder die Wärme ins Gesicht stieg. Du errötest doch hoffentlich nicht, durchfuhr es sie, du bist schließlich nicht mehr dreizehn.

Dani, die sensible Dani, die noch die Schneeflocken fallen hören konnte, mußte plötzlich dringend etwas erledigen und versprach scheinheilig, gleich wieder dazusein. Karen sah sie dankbar an. Und strahlte ungeniert in die schönsten braunen Augen, die ihr je begegnet waren.

»Karen Stark«, sagte David, jede Silbe betonend. »Ist das – ein Künstlername?«

»Nein, der ist echt. In meiner Branche braucht man kein Alias. Und Wlassow?« fragte sie und fuhr mit dem Finger über den nassen Fuß ihres Weinglases, einmal rechts, einmal links herum. »Ist das ein Künstlername?«

»Wer weiß?« sagte David und lachte sie an. »Angeblich stammen wir auf irgendwelchen verschlungenen Wegen von Tolstoi ab. Mein Vater liebte es, damit anzugeben.«

»Und?« Karen interessierte sich für die feine Narbe, die der Mann mit der weichen Stimme im Gesicht hatte, weit mehr als für den berühmten und mausetoten Urahn. Der dünne weiße Strich zog sich von der Nasenwurzel bis zur linken Augenbraue, von der schmalen, geraden Nase bis zu den dünnen, fast weißen Härchen über den hellen braunen Augen, die sie nicht aus dem Blick ließen.

»Ich hab da meine Zweifel.« David grinste. »Wir galten in der Sowjetunion als reinrassige Proletenfamilie ...«

Karen horchte seiner Stimme hinterher, der seltsamen, ungewohnten Klangfärbung – und merkte plötzlich, wie sich der Boden unter ihren Füßen bewegte. Ganz leicht nur hob – und senkte. Das war kein Erdbeben. Und auch nicht die U-Bahn. Das war ein Gefühlszustand. »Gewöhnungsbedürftig«, konstatierte sie. »Aber es könnte süchtig machen.«

David hatte die Hand auf ihren Arm gelegt. Seine langen, schmalen Finger lösten bei ihr Assoziationen aus, die nicht zu einem Handkäs mit Musik paßten, weshalb sie den längst beiseite geräumt hatte.

»Daß ich schon als Kind zum Zirkus wollte, war zu Hause überhaupt nicht gern gesehen«, sagte er.

»Mutter schluchzte, und Vater griff verzweifelt zur Flasche?«

Jetzt lachte er. »So ungefähr.«

David hakte Karen unter, als sie über den Markt schlenderten, wo man an manchen Ständen schon mit dem Abräumen begann. Dani hatten beide vergessen. Auch worüber sie sich unterhielten, konnte Karen später nicht lückenlos rekonstruieren. Sie taten das, was alle Verliebten machen: Sie erzählten einander ihr Leben. Die biografische Kurzversion, die David ihr offerierte, verzauberte sie mehr, als sie später nachzuvollziehen vermochte. Die Eltern hatten sich irgendwann mit Davids Berufswunsch abgefunden. Er ließ sich im Moskauer Studio für Zirkuskunst in etwas ausbilden, was sich »Equilibristik« nannte – »Bei Valentin Gneuchev«, hauchte er andächtig. Der Name sagte Karin nichts. Dann ging er zum Moskauer Staatszirkus. Blieb, nach einer Tournee, 1986 in der DDR. Reiste 1988 mit dem Staatszirkus der DDR nach Paris und wurde dort fahnenflüchtig. Gewann 1992, beim 16. Internationalen Zirkusfestival von Monte Carlo, den Silbernen Clown. Wohnte seit der Wende in Berlin. Lebte allein.

»Was ist Equilibristik?« fragte Karen.

»Immer Haltung bewahren«, sagte er und lachte.

»Das kann ich auch!«

»Das Gleichgewicht halten, egal was passiert?«

»Eine meiner leichtesten Übungen!«

»Kopfüber? Auf einer Hand?«

»Na ja!« sagte Karen.

Die Menschenmenge preßte beide aneinander, während sie sich wie im Traum über den Markt bewegten, ohne Blick für anderes. Er hatte ihren Arm genommen, dann ihre Hand. Mit leiser Stimme auf sie eingeredet. Sie ausgefragt. Über die erste Liebe hatte sie ihm bereitwillig erzählt. Über ihre Vorliebe für klassische Sportwagen. Wie oft sie trainierte und daß sie ziemlich gut schießen konnte. Doch sie hatte ihm nicht gesagt, wo und wie sie ihren Arbeitstag verbrachte – aus Gründen, die sie nicht interpretieren mochte. Es war wohl auch nicht das, was ihn an ihr interessierte.

Dann war es Zeit. Er hatte ihre Hände gefaßt, ihr in die Augen gesehen und war gegangen. Ohne etwas zu sagen. Was auch? Über das Unausgesprochene waren sie sich längst einig.

Karen ging zu Fuß nach Hause, geistesabwesend. In einem Zustand, von dem sie geglaubt hatte, er sei in ihrem Leben nicht mehr vorgesehen. Zu Hause ließ sie Wasser in die Badewanne einlaufen, legte die Callas-CD auf, ließ sich vom heißen Bad durchwärmen und wunderte sich gründlich über sich selbst. »Was willst du denn mit einem Artisten, um Himmels willen?« fragte sie sich. »Ja, was wohl?« fragte der Leichtsinn in ihr zurück. »Oder hast du etwa Klassendünkel?«

Sie war schon aus der Wanne gestiegen, hatte sich das große Handtuch umgelegt und überprüfte im Spiegel ihr Gesicht, als die Callas »Sola, perduta, abbandonata« anstimmte, mit dieser vom Schmerz fast schartigen Stimme. Plötzlich spürte Karen ein ganz und gar unzulässiges Gefühl in sich emporsteigen: »Einsam, von aller Welt verlassen« – Manon Lescaut. Puccini. »Du warst zu lange allein«, durchfuhr es sie. Der Gedanke tat weh. Sie legte ihn sorgfältig beiseite.

David hatte sie nicht gefragt, oh sie zur Vorstellung kommen würde heute abend im »Trapez«. Die Frage war auch gar nicht nötig gewesen. Dani, die diskrete Seele, verstieg sich zu keinem Kommentar, als Karen sie kurz vor der abendlichen Vorstellung anrief und fragte, ob es noch einen Platz für sie gäbe in dem notorisch ausverkauften kleinen Varieté. Für Karen, sagte sie nur, sei immer Platz.

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