Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 33

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Bremer lag wach. Seit vier Uhr morgens schon, seit die Töle von Bauer Knöß begonnen hatte, den Mond oder irgend etwas anderes anzuheulen, assistiert von einem offenbar ebenso schlaflosen Hund im Nachbardorf. Geisterstunde, dachte er resigniert und guckte zu, wie sich in den milchigweißen Morgenstunden die alten Gespenster an sein Bett setzten und vorwurfsvoll mit dem Kopf wackelten. Gegen sechs Uhr gesellten sich ein paar neue hinzu. Alle verkörperten auf ihre Weise nur eines: Verlust.

»Es soll alles so bleiben, wie es ist«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen und schob die zerwühlte Bettdecke weg. »Und wenn das noch so konservativ ist.« Er wollte seine heile Welt zurück, dachte er mit einem Anflug von kindischem Trotz, in der Gottfried untadelig war, Marianne sich nicht in ihn verknallt hatte, niemand ihm fingierte Brandsätze in den Schuppen warf. Und in der die erste Frau, die ihn seit langer Zeit wieder interessierte, keinen Mann hatte, der noch als Leiche störte.

Der Gedanke an Anne bereitete ihm Unbehagen. Er spürte Verunsicherung, wenn er an sie dachte. Desillusionierung. Fremdheit. Und, aus irgendwelchen Gründen, ein schlechtes Gewissen. Bremer ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Der Anblick der leeren Teedose löste einen inneren Tobsuchtsanfall aus, der selbst ihn verblüffte. Du mußt hier raus, dachte er, und zwar ganz schnell, während er den Katzen den letzten Rest aus der Dose von gestern in den Freßnapf schaufelte. Er packte seine kleine Reisetasche, drehte die Wasserzufuhr ab, vergewisserte sich, daß alle Lichter gelöscht waren, schloß Schuppen und Haustür zu und flüchtete.

In einem Anfall von Rebellion hatte er darauf verzichtet, sich von Gottfried oder Marianne zu verabschieden. »Ich bin schließlich nicht mehr minderjährig«, murmelte er und gab Gas.

Er erreichte Frankfurt in Rekordgeschwindigkeit. Dazu gehörte nicht viel – nur der Verstoß gegen die Verkehrsvorschriften und den allgemeinen Anstand. Paul fuhr hell erleuchtet, unbeirrbar links, hielt einen Abstand zum Vordermann, der, gelinde gesagt, unhöflich war, und schimpfte wie ein Rohrspatz auf alles, was sich ihm in den Weg stellte. Das ist zwar unfein, sagte er sich mit boshaftem Vergnügen, aber es durchblutet – seelisch und körperlich.

Im Nordend fand er zu seiner Verblüffung auf Anhieb einen legalen Parkplatz – und das auch noch wenige Schritte von der Männer-WG entfernt, in der er seit Jahren ein Zimmer hatte. Niemand war da; nach dem Innenleben des Kühlschranks zu schließen, hielt dieser Zustand schon eine Weile an. Bremer stellte die Reisetasche in seinem Zimmer ab und ging ins Café gleich um die Ecke. Danach: in die Stadt.

Erst nach dem Erwerb von fünf englischen Taschenbüchern, einem praktischen Lederbeutel, in dem man Wein kühl halten konnte, zwei Flaschen mit bestem schottischen Maltwhisky und einer Knoblauchpresse legte er eine Pause ein. Merkwürdig, dachte er und sah vom Rand des großen Brunnens auf dem Opernplatz aus den Menschenströmen zu, wie zuverlässig das wirkte – Geldausgeben gegen Unlustgefühle. Das mußte mit einem tiefverankerten psychischen Programm der Menschheit zu tun haben: Beutemachen. Es hebt den Adrenalinspiegel und damit auch die Stimmung. Und man tut es heutzutage am besten in der Großstadt.

Bremer raffte seine Plastiktüten zusammen und ging durch Freßgass’, Schillerstraße und über die Hauptwache zur Zeil, der rammelvollen Fußgängermeile Frankfurts. Er ließ sich willig anrempeln und schubsen, von Fahrradfahrern belästigen und von phalanxartig aufmarschierenden Großfamilien verdrängen. Er stellte sich alle auf der Jagd nach Beute vor, in atemloser Ausnahmestimmung, mit hellwachen Instinkten, im Kampf gegen konkurrierende Mitjäger – Sommer- und Winterschlußverkauf die Höhepunkte der Jagdsaison ...

Und das ist die Musik zum Verblasen der Strecke, dachte er, als er bei der peruanischen Kelly-Family stehenblieb, die mit ihren Kleinverstärkern die zarteren Töne von Rambling Rudi brutal erschlugen, dem Alleinunterhalter, der gleich nebenan sein Banjo spielte.

Fasziniert ließ Bremer sich treiben. Im Gewürzladen an der Konstablerwache kaufte er ein halbes Pfund Darjeeling, eine Tüte Curry, ein Döschen Safran und eine frische Ingwerknolle. Das war auf dem Land selten bis nie zu kriegen. Seine Küchenhandtücher ergänzte er bei dem Laden für Berufskleidung schräg gegenüber. Lange überlegte er, ob er sich nicht endlich einmal eine vernünftige Küchenschürze kaufen sollte.

»Die Profis tragen diese hier«, sagte die ältere Dame, die ihn bediente, breitete das Kleidungsstück vor ihm aus und rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. Fast hätte sie ihn überzeugt.

Nach einer Dreiviertelstunde gab Bremer auf. Er stellte sich an einen der hohen Tische vor seinem Lieblingscafé gleich neben der Katharinenkirche und bestellte sich bei der netten, rundlichen tschechischen Bedienung den üblichen Salat mit Putenbrust und ein Glas Champagner, erschöpft von all den Transaktionen, die ihm viereinhalb satt gefüllte Einkaufstüten beschert hatten. Er wunderte sich über sich selbst. Das war ein ausgewachsener Kaufrausch gewesen. Und er hatte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei.

Am Ecktisch stand ein Pärchen und teilte sich einen Cappuccino. Direkt neben ihm war ein rothaariger Junge in schwarzen Jeans auf Rollerblades herangerollt, der, während er die Speisekarte studierte, sein Handy aus der Brusttasche holte. »Ein Ortsgespräch gegen ein Getränk deiner Wahl?« rief Paul hinüber. Der Junge nickte, lachte und legte ihm das kleine schwarze Funktelefon auf den Tisch, das noch ganz warm war. Paul kannte die Nummer auswendig. Schon beim zweiten Klingeln hatte er sie am Apparat.

»Paul, ich muß auch mal arbeiten«, sagte sie lachend.

»Habt ihr verlängerte Ladenöffnungszeiten? Ich dachte, bei Behörden macht man pünktlich Dienstschluß!«

»Moment«, sagte sie etwas undeutlich, und er hörte Papiergeraschel. Er sah sie vor sich, wie sie in ihrem düsteren kleinen Beamtenstall saß und im Terminkalender blätterte, den Bleistift zwischen den Lippen, den Kopf mit den roten Haaren zur Seite geneigt. »Komm, Karen«, sagte er. »Karriere kannst du morgen wieder machen.«

»Um 17 Uhr 30?« fragte sie mit der Präzision einer Planstellenbesitzerin.

»Ich warte auf dich«, sagte er und lächelte. »Cola light«, sagte der Junge, als die Bedienung wiederkam. Paul bestellte sich einen zweiten Champagner und prostete ihm zu.

Ihr kleiner grüner Sportwagen war voll, als er seine Einkäufe verstaut hatte. »Alles in Ordnung?« hatte sie ihn zur Begrüßung gefragt und prüfend angesehen. »Ich weiß noch nicht«, hatte Bremer wahrheitsgemäß geantwortet. »Frag mich in ein paar Stunden.«

Als Karen die Stadt durchquert hatte und sie auf dem Zubringer zur Autobahn Richtung Wiesbaden angelangt waren, war Paul neben ihr ein schweißgebadetes Nervenbündel. Bremer als Autofahrer war ein Brutalo. Bremer als Beifahrer war – engagiert. Höflicher konnte man es nicht ausdrücken.

Karen hatte schon mehr als einmal auf der Überholspur der Autobahn eine Vollbremsung vollzogen – »Also: fast eine Vollbremsung« –, weil Bremer neben ihr aus voller Kehle »Paß auf!« geschrien hatte. Nur weil er glaubte, der Opel Astra, den sie gerade überholten, würde in der nächsten Sekunde ausscheren, sie rammen, sie an die Leitplanke drängen, und dann ... der Rettungshubschrauber ...

Sie hatte sich immer wieder geschworen, nicht mehr darauf zu achten, wenn er mit dem rechten Fuß versuchte, das Bodenblech zu durchdringen, oder ihr die Hand aufs Knie legte, weil er wieder irgendeine Gefahr auf sie zukommen sah, die sie entweder längst erkannt und abgehakt hatte oder die sich nur in seiner lebhaften Phantasie abspielte.

Aber es half nichts: Pauls spitze Schreie, das leise, entnervte Aufseufzen, sein Zusammenzucken oder sein panisches Suchen nach dem Haltegriff ließen sie innerhalb von zehn Minuten so nervös und fahrig werden, daß die Wahrscheinlichkeit für jene Schnitzer wuchs, die Paul einvorwurfsvolles »Siehste! erlaubten.

»Bremer«, sagte Karen bestimmt. »Hier fährt nur einer: ich.«

»Der kommt! Der kommt!« rief Bremer und zeigte auf einen bulligen Mercedes der S-Klasse, dessen Fahrer einen Telefonhörer am Ohr hatte und die Spur nicht so ordnungsgemäß hielt, wie Paul es bei anderen Fahrern für dringend erforderlich hielt.

»Ich bin bei dir«, sagte Karen beruhigend, »es kann nichts passieren.«

»Der Armleuchter«, schimpfte Paul. »Hup ihn doch wenigstens mal an!«

Karen seufzte. »Paul! Du hältst dich jetzt raus!«

Bremer preßte verzweifelt den rechten Fuß auf den Boden. Karen nahm den ihren lässig vom Gas. »Beruhige dich. Die anderen haben viel mehr Angst um ihr Prestige-Blech als ich.«

Als sie bei Hochheim die Autobahn verließen, fragte er kleinlaut: »Nerv ich dich?«

»Ja.« Karen sah nicht ein, daß sie ihm diese Erkenntnis ersparen sollte.

»Es ist nur ...«

»Ich weiß.«

»Ich begreif’s auch nicht, aber ...«

»Ich verstehe.«

Bremer war ein engagierter Beifahrer. Das war alles.

Sie sahen das Riesenrad schon von weitem, parkten frühzeitig auf einem Acker am Ortseingang und schlossen sich dem Strom der Besucher an. Der Hochheimer Markt fand, glaubte man der emphatischen Eigenwerbung der Stadt, seit mindestens zweitausend Jahren statt, war einer der größten seiner Art und der schönste sowieso.

»Sind die sicher?« fragte Karen spitz. Auf allen Jahrmärkten gab es ihrer Erfahrung nach unausweichlich das gleiche: die gleichen Losbuden, Gyrosstationen, Weltsensationen und Waffelstände. Nur in Hochheim gab es wahrscheinlich noch mehr – vom gleichen. »Gib die Hoffnung nicht auf«, sagte Paul. Er kannte ihre ewig unerfüllte Sehnsucht nach dem alten Rummelplatzzauber: nach dem Spiegelkabinett und der Dame ohne Unterleib und dem »Haut den Lukas« und dem Maroni-Mann.

Er hakte sie unter und steuerte die Stände mit den langen Bundeswehrunterhosen, dicken Socken und Kunststoffblusen an. Rechts führte eine Gasse zwischen Buden mit gutgemeinter Keramik, Westerwälder Steingut, Gartenzwergen, Kochgeschirr und Wurzelbürsten hindurch. Sie mündete in einen Trampelpfad, gesäumt von Knusperhäuschen mit den seit Jahren, Jahrzehnten, wahrscheinlich seit Jahrtausenden schon bewährten Süßigkeiten: weißrosa Waffeln, in allen Größen und Längen. Mohrenköpfe und Negerküsse, wie man früher noch ungestraft sagen durfte. Magenbrot. Gebrannte Mandeln. Lebkuchenherzen. Kandierte Früchte. Zuckerwatte.

An einem der vielen Weinstände kauften sie einen Becher Wein und schlenderten weiter. Das Riesenrad drehte gemächliche Runden. Aus der Geisterbahn hörte man es kreischen.

Paul war gerührt, als Karen ihm an einer Schießbude fünf Plastikrosen schoß.

»Waren dafür nicht früher die Männer zuständig?« fragte er und küßte sie auf die Wange.

»Mach dir nichts draus«, sagte Karen trocken. »Ich muß, im Unterschied zu dir, regelmäßig üben.«

Paul sah sie von der Seite an. Die meisten Männer hatten Angst vor ihr. Karen hatte mal behauptet, sie hätte sich damit abgefunden. »So merkt wenigstens niemand, daß bei mir alles nur Fassade ist«, hatte sie lachend gesagt. »Außen hart und innen fließend!« Er hatte sie an ihren ausgeprägten Bizeps gefaßt und »Du lügst!« gesagt. »Fast alles!« hatte sie sich korrigiert. Irgend etwas, dachte er bedauernd, mußte schiefgelaufen sein in der Beziehung zwischen den Geschlechtern – wenn sogar jemand wie Karen allein war. Er – nun, er hatte sich das wahrscheinlich selbst zuzuschreiben. Aber sie?

Unterhalb des Riesenrads, in seinem Schatten, kauerte ein runder Holzbau, eine Art Tonne aus soliden, bunt gestrichenen Holzbohlen, von denen die Farbe an vielen Stellen abgeblättert war. Karen zog Paul am Arm, aber der hatte den seltsamen Bau schon gesehen. Auf einem hölzernen Podium vor dem Rundbau stand ein alter Rennwagen – »Formel V«, sagte Paul. Als sie direkt davor standen, öffnete sich eine Luke in der Tonne und ein Motorrad schoß heraus.

»Eine 1000er BMW«, kommentierte Paul, was ihm einen spöttischen Seitenblick von Karen eintrug. »Steilwandrennen«, sagte er, »wetten?« Karen kriegte leuchtende Augen.

Die Karten kaufte Paul. Dann liefen sie eine Rampe hoch, bis sie am oberen Rand des Holzrondells angelangt waren. Von hier aus konnte man ins Innere und bis auf den Boden der Riesentonne sehen, etwa fünf Meter tief, in eine Art Manege, die einen Durchmesser von vielleicht zwölf Metern hatte. Bremer und Stark stellten sich zwischen die anderen Zuschauer an die Balustrade, um die eine Eisenreling horizontal zum Manegenrund verlief.

Unten in der Manege nahmen drei Männer breitbeinig Aufstellung, in schimmernder Lederrüstung, jeder Zoll Motorradfahrer. Ein schönwettergegerbter Fünfzigjähriger mit Seefahrerblick hatte die bullige 1000er BMW zwischen die Schenkel genommen, ein junger Bursche mit einer Spur Asien im Gesicht saß, wie Paul Karen erklärte, auf einer Enduro. Der Auffälligste der drei sah aus wie eine Mischung aus Gerard Depardieu und Mr. Bean. »Der fährt eine Ariel, verdammt«, flüsterte Paul, eine Ariel Square Four, wenn ihn nicht alles täuschte, das stolzeste und schönste Modell (»Von 1930!«), das ihr britischer Erfinder je auf den Markt gebracht hatte. Paul boxte Karen begeistert in die Seite, während der Mann mit dem Seefahrerblick seine Mitkämpfer vorstellte. Der Name ›Mad Kelly‹, fand Karen, paßte zu dem Mann auf der antiken Maschine.

»Damen und Herren«, rief der Boß der Truppe, der eine weinrote Lederkombi trug und schmale, schon etwas abgeschabte weiße Stiefelchen, »wir riskieren für Sie alles

»Das will ich auch gehofft haben«, flüsterte Paul.

»Keine Versicherung trägt dieses Risiko mit.«

»Gelogen!« Karen flüsterte nicht. »Da sei die Berufsgenossenschaft vor!«

»Hier«, sagte der Mann mit Tremolo und klopfte auf einen großen, massiven Holzkasten, »hier steht unsere Lebensversicherung. Sie können dabeisein. Mit Ihrer Spende.« ›Mad Kelly‹ rieb sich verlegen die ziemlich große Nase, der Mann auf der Enduro scharrte mit der Fußspitze auf dem Boden. Nur der Mann mit den blauen Seemannsaugen guckte erwartungsvoll nach oben.

»Guter Trick.« Paul lachte. Und warf die ersten Groschen.

Weitere Geldstücke fielen, die meisten waren silbern.

Karen griff in ihre Handtasche, puderte sich die Nase, zog die Lippen nach. Als der Geldregen am Verebben war, warf sie mit majestätischer Geste einen Geldschein in die Manege: grün, nicht blau. Alles starrte gebannt auf den Schein, wie er sich drehte, schwebte, im Aufwind zitterte und dann langsam zu Boden ging.

»Wollen wir uns angesichts der Todesmutigen lumpen lassen?« zischte Karen.

›Mad Kelly‹ salutierte ihr.

»Ave Caesar«, zischelte Paul zurück.

Karen lächelte huldvoll. Alles, was folgte, nahm sie als die überfällige Würdigung Ihrer Majestät.

Der Lärm war ohrenbetäubend, und die Holzwände vibrierten, als einer nach dem anderen seine Maschine über die Anfahrtsschrägen hochzog, bis kurz vor die Gesichter der Zuschauer, und in der Horizontale seine Kreise fuhr. Karen, die noch nicht einmal auf einem Fahrrad freihändig balancieren konnte, griff nach Pauls Arm, als der Seefahrer in der widernatürlichen Waagerechten auch noch im Stehen, im Liegen und freihändig fuhr.

»Auf die Fliehkraft kannst du dich eigentlich immer verlassen«, sagte Paul beruhigend.

»Bist du sicher?« fragte die Staatsanwältin zweifelnd zurück.

›Mad Kelly‹ schien verwachsen zu sein mit seiner trocken pröttelnden Ariel. Nach jedem waghalsigen Manöver strahlte er Karen an, die hingerissen zurückstrahlte. Zum Finale drehte nicht nur der kleine Rennwagen seine Kreise senkrecht an der Wand, auch die zwei Motorräder lieferten sich eine ohrenbetäubende Hetzjagd, einer schräg hinter dem Auspuff des anderen – obenauf ›Mad Kelly‹, der immer dort ganz nahe an der Balustrade vorbeischrammte, wo die große Rothaarige stand.

Karen johlte, Paul pfiff. Er war lange nicht mehr so glücklich gewesen.

Sie schlenderten über den Markt, tranken noch zwei Gläser Wein, und als Karen zum dritten Mal gähnte, gaben sie die Suche nach weiteren Weltsensationen auf. Auf dem Rückweg zum Auto versuchte Paul Karen auf den neuesten Stand zu bringen – »Bremers Privatleben, Teil drei«, sagte er und zog sich den Schal fester um den Hals. Der Brand auf dem Weiherhof. Das Gespräch mit Anne. Die Rekapitulation fiel ihm seltsamerweise schwer, Vor allem gegen Annes Stasi-Geschichte sträubte sich irgend etwas in ihm.

»Ich weiß nicht, warum sie mir das alles erzählt hat, Karen«, sagte er zweifelnd. »Das sind doch alles olle Kamellen. Und zwei Meter Akten – wegen des bißchen Konspiration?«

Karen hatte konzentriert zugehört. Jetzt blieb sie abrupt stehen und sah ihn entgeistert an. »Sag mal, Paul«, fragte sie ihn langsam und ungläubig, »willst du mir im Ernst erzählen, du hättest nicht begriffen, was sie dir da erzählt hat?«

Paul fand ihren Ton verletzend. »Offenbar nicht«, sagte er steif.

Männer, dachte Karen. So sensibel und empfindlich, wenn es um die eigenen Belange geht. Und so stur und einfallslos, wenn es um die Gefühle anderer ging. War das jetzt ungerecht? Karen ballte die Fäuste in der Manteltasche und dachte: Egal.

»Paul«, sagte sie mit demonstrativer Geduld. »Es gibt doch eigentlich nur eine Möglichkeit, warum sie unter der ganzen Stasi-Chose noch heute leidet. Und warum ihre Akten zwei Meter Regallänge einnehmen.«

»Karen«, sagte Paul, »dann erzähl es mir gefälligst auch.«

»Ganz einfach: Ihr IM hieß Leo. Ihr Mann hat sie verpfiffen.«

Bremer lachte verunsichert. »Das war ein braver Dissident, den haben sie rausgeschmissen.«

»Ich bitte dich! Das war doch bloß die Coverstory. Die waren doch an Anne Burau nicht interessiert, weil sie ein bißchen in der Friedensbewegung der DDR herumgemischt hat!«

»Warum denn sonst?« fragte Paul dickköpfig.

Karen lachte. »Das MfS hat ausgesprochen langfristig geplant. Sie müssen wohl davon ausgegangen sein, daß es den Klassenfeind noch lange geben würde.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Anne hatte offenbar interessante politische Kontakte im Westen. Die Stasi muß darauf gesetzt haben, daß diese Kontakte im Verlauf ihrer Karriere noch interessanter werden würden. Für diesen Fall wußte man einen Mann und Vertrauten an ihrer Seite, der alles loyal weiterleiten würde. Was immer sich so ergab. Das war eine Quellenabschöpfung größeren Stils.«

»Ach komm«, sagte Paul.

Karen nickte. »Die Wende hat den ganzen schönen Plan zunichte gemacht.« Sie setzten sich wieder in Bewegung, gegenläufig zur Masse der Menschen, die noch immer zum Markt strömten, obwohl es schon dunkel war. »Manchmal wüßte ich schon gern, was aus all diesen eingeschleusten Spionen geworden ist. Annes Ehemann war ja nicht der einzige.«

»Also, ich weiß nicht«, sagte Paul neben ihr zweifelnd. Karen hätte ihn am liebsten geschüttelt. »Paul, du Sturkopf, es gibt keine andere Erklärung!«

Ihm dämmerte, daß sie recht haben könnte. Das machte vieles verständlicher, dachte er. Annes Mißtrauen. Ihre Empfindlichkeit. Ihre Verschlossenheit.

»Sie hätte jeden Grund gehabt, ihren Mann umzubringen«, sagte Karen spekulativ.

Auch da, durchfuhr es Paul kalt, könnte sie recht haben. »Aber warum hat sie dann damit so lange gewartet?« widersprach er lahm.

Karen war plötzlich maßlos ungeduldig mit ihrem alten Freund, der mit hängenden Schultern neben ihr ging. »Paul«, sagte sie scharf und ärgerte sich, daß er zusammenzuckte wie ein ertapptes Kind. »Entscheide dich doch endlich mal, ob du sie für eine Mörderin hältst oder nicht – und wenn nicht, dann sei an ihrer Seite, statt wieder einmal davonzulaufen!« Auf einmal war ihr klar, warum sie mit Pauls Frauen nie etwas anfangen konnte: weil er sie stets als ideale Geschöpfe präsentiert hatte, rein, gut und groß. Karen ging unwillkürlich schneller.

Er stellt sie aufs Podest, dachte sie wütend. Aber sobald er merkte, daß sie nicht Manna ausschwitzten, sondern Körpersäfte wie alle anderen auch, zog er sich zurück.

»Ist dir schon mal aufgefallen«, sagte sie brutal, »daß du nie da warst, wenn deine Frauen dich mal brauchten?«

Er starrte sie an. »Das saß«, sagte er nur.

Mist, dachte sie, als sie sein Gesicht sah. Mußtest du blöde Kuh wieder mit der Tür ins Haus fallen?

»Paul –«

»Laß nur.« Bremer atmete tief ein. »Vielleicht hast du ja recht.«

Er ließ sich von ihr nach Hause fahren und vor der Haustür absetzen. Diesmal ohne hysterische Beifahreranfälle. Er küßte sie flüchtig auf die Wange und sagte: »Ich meld mich.«

Er tut mir leid, dachte Karen und sah ihm hinterher. Aber so wurde das nie was mit Paul Bremer und den Frauen. »Sei nicht so vernagelt, Paul«, murmelte sie und legte den Gang ein.

Paul schloß die Wohnungstür auf, nahm das Telefon mit in die Küche, wählte Annes Nummer und ließ es klingeln, bis die Verbindung unterbrochen wurde. Dann versuchte er es gleich noch einmal. Und noch einmal. Sie meldete sich nicht.

Es war Donnerstag abend. Anne konnte nicht ans Telefon gehen. Keine Menschenseele im Weiherhof konnte an diesem Abend ans Telefon gehen. Aber woher hätte Paul Bremer das wissen sollen?

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