Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 28

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Anne hörte, wie Pauls Schritte sich entfernten. Es ist besser so, dachte sie. Er versteht das alles nicht. »Ach!« höhnte ihre innere Stimme. »Was erwartest du denn? Soll er sozusagen intuitiv verstehen, was du jahrelang nicht kapiert hast?« Sie seufzte und ließ sich vom Balken hinunter ins Stroh gleiten. Dagobert, der zu ihren Füßen lag, klopfte zur Begrüßung mit der Rute aufs Stroh. Nein – aus dem bißchen, was sie ihm erzählt hatte, konnte er wahrscheinlich gar nichts schließen. Sie aber hätte damals alles begreifen können. Die Zeichen hatten an der Wand gestanden – in feurigen Lettern, dachte Anne und lachte auf. Sie hätte sie nur lesen müssen. Aber sie hatte sie nicht lesen wollen.

Sie erinnerte sich an den Tag vor vielen Jahren, als ob es gestern gewesen wäre. Es war einer der letzten sonnigen Oktobertage in Kiel gewesen, kühl, es roch schon nach Herbst. Die Kastanienbäume in ihrer Straße leuchteten feuerfarben – der nächste Regen, die nächsten Windstöße würden ihnen die Blätter von den Zweigen fegen. Am Wochenende wurden die Uhren umgestellt. Die dunkelsten vier Monate des Jahres begannen – und auch die brennendste Liebe würde eine ungeheizte Gartenhütte nicht wärmer machen. Sie wußte nicht, wie es weitergehen sollte mit Leo. Auf Liebe nahm die Grenze zwischen Ost und West keine Rücksicht.

Ihre Liebe hatte keine Zukunft. Oder wollte sie wirklich jedes Wochenende die Transitautobahn von Kiel nach Berlin nehmen? Oder ihre Parteikarriere in Kiel sausenlassen, nach Westberlin umziehen und jeden Abend pünktlich um Mitternacht die Grenze ansteuern? »Und wenn sie dich auch rausschmeißen?« hatte sie Leo am letzten Wochenende gefragt. »Wegen schlechter Gedichte?«

»Und dann?« hatte er geantwortet.

»Ich hab ein Gästezimmer in Kiel«, hatte sie lachend gesagt und ihn umarmt.

Sie würden ihn nicht gehen lassen. Sie war sich ganz sicher.

Sie hatte an diesem Abend in Kiel lange vor dem Briefkasten am schmiedeeisernen Tor zum kleinen Vorgarten gestanden und mit wachsender Melancholie der alten Frau Altmann von nebenan zugesehen, die ihren Pudel unter den Bäumen Gassi führte, durchs Laub, in dem das Tier lustvoll wühlte. Der ziemlich häßliche Hund trug den Namen »Annette«, auf den er, was Anne verständlich fand, nur selten hörte. Im Briefkasten hatte sich auch nichts Spannendes gefunden – nur unerwünschte Werbebriefe, die Telefonrechnung, ein Rundbrief des Kreisverbandes, der Handzettel eines Pizzaauslieferservice.

Anne hatte die Werbebriefe in die Papiertonne geworfen, die Plastiktüten mit ihren Einkäufen wieder aufgenommen und war zum Haus gegangen, als sie hinter sich das Eisentor quietschen hörte. Sie hatte sich nicht umgedreht und schon den Schlüssel in die Haustür gesteckt. Dann stand er plötzlich hinter ihr.

»Ich bin’s, Liebste«, hatte er leise gesagt. »Erschrick nicht.«

Man hatte Leo abgeschoben, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Das machte man damals gern mit unbequemen Leuten; er war nicht der erste und nicht der einzige, der ausgebürgert wurde. So ging man in der DDR mit notorischen Kritikern um – seit man sie, dank der Aufmerksamkeit der Medien, nicht mehr einfach in den Knast stecken konnte. Man bestrafte sie mit dem Verlust der Heimat und des Freundeskreises. Anne hatte versucht, ihn zu trösten. In Wirklichkeit war sie schamlos glücklich gewesen über diese Fügung der Dinge.

Komisch, dachte Anne, wie mehr oder weniger gelassen fast alle die Tatsache aufnahmen, daß Leo plötzlich da war und blieb. Rena hatte eine Weile geschmollt und theatralisch »Ich hasse ihn!« geschrien. Und ihre Mutter ein bißchen verachtet für die Zuneigung zu einem dazu auch noch jüngeren Mann. »In deinem Alter!« hatte sie einmal gerufen. Anne grinste, die Szene vor Augen. Irgendwann hatten Leo und Rena Waffenstillstand geschlossen. Oder, was auch möglich wäre – sie hatte einfach nicht mehr hingeguckt, wenn die beiden sich angifteten. Sie hatte es damals schon zu einer gewissen Meisterschaft im Weggucken gebracht.

Heike war skeptisch gewesen, jedenfalls zuerst. »Es ist ein bißchen zu schön, um wahr zu sein«, hatte ihre beste Freundin gesagt. Ihr Widerstand hielt Leos Charme nicht lange stand. Er hat sie um den Finger gewickelt, dachte Anne. Wie alle.

Fast alle. »Paß auf dich auf. Du kennst ihn kaum.« Sie hatte noch heute die warnende Stimme von Wolfgang im Ohr. Der Schriftsteller hatte die DDR schon vor Jahren verlassen, sie traute seinem Urteil. Es machte ihr zu schaffen, damals, daß gerade er Leo zu mißtrauen schien.

Wolfgang hatte sich vorsichtig ausgedrückt. Er habe aus der Ostberliner Dissidentenszene von Bedenken gegen Leo gehört: Der habe bis zu seinem Rausschmiß in einer geräumigen Vierzimmerwohnung in Berlin-Friedrichshain gewohnt. Anne war nie dort gewesen. Vor einigen Monaten sei in diese Wohnung eine Etagenheizung eingebaut worden, seien die Elektroleitungen erneuert worden. Wovon wohl ein nicht sehr erfolgreicher Lyriker so etwas finanziere? Und als man ihn gezielt mit einer Falschmeldung versorgt habe – eine Aktion ankündigte, die gar nicht stattfinden sollte –, seien Spitzel gesehen worden am Schauplatz jener angeblichen Aktion. Wer die wohl alarmiert habe?

»Desinformationskampagne der Stasi«, hatte Leo diese Gerüchte genannt. »Alles erfunden und erlogen.« Er hatte in ihrer Küche gesessen und war ganz ruhig gewesen. »Sie wollen die Friedensbewegung spalten und mich isolieren – du kennst doch das Spiel.«

Es stimmte: Man wußte damals, daß die Stasi so operierte. Man wollte vermeiden, daß die Ausgewiesenen für die Dagebliebenen zu Märtyrern wurden. Natürlich waren das die allgemein anerkannten Methoden, dachte sie bitter. Und wer kannte die besser als Leo? Der sich einer Tatsache ganz sicher sein konnte, weil sie offen zutage lag – in dem Blick, mit dem Anne ihn jeden Morgen ansah: daß sie die Wahrheit nicht wissen wollte. Ihr war die Wahrheit egal. Hauptsache, er war da.

Dagobert trottete hinter Anne her, die sich aus der duftenden Wärme des Stalles herausschälte wie aus einem alten, vertrauten Wintermantel, den man nur ungern ablegte. Der Gedanke an ihre damalige Naivität quälte sie.

Denn da war noch jemand anders gewesen, der Leos Charme, seinen dunklen Augen und guten Manieren nicht erlegen war: ihre Mutter. Sie und Leo hatten Erika Burau damals besucht, im Frühsommer, zwei Wochen vor der Hochzeit – der hat sie beigewohnt, als ob es zur Beerdigung ginge, dachte Anne mit einem Anflug der alten Bitterkeit.

»Wie findest du ihn?« hatte sie glückstrahlend gefragt. Nicht, daß sie auch nur für eine Sekunde geglaubt hätte, ihre Mutter und sie könnten sich in grundsätzlichen Fragen einig sein. Dennoch hatte Erikas Antwort sie überrascht.

Sie hatten auf der Terrasse im Garten hinter dem kleinen Reihenhaus aus den fünfziger Jahren gesessen, in dem Anne aufgewachsen war. Erika wohnte nach dem Tod ihres Mannes allein dort, in Sehestadt, in Schleswig-Holstein, fast am Kanal. Leo war spazierengegangen, wahrscheinlich wollte er Mutter und Tochter Gelegenheit zum Reden geben, glaubte Anne: Er war so rücksichtsvoll. Sie schälten Spargel, so, wie es Anne von ihrer Mutter gelernt hatte: oben an der Spitze zart beginnen, unten am Schaft tiefer schneiden.

Annes Mutter ließ sich Zeit mit der Antwort. »Er ist hart«, sagte Erika schließlich. »Es ist eine große Härte in diesem Mann.« Leo? Anne hatte ihre Mutter ungläubig ausgelacht.

Erika legte einen frisch geschälten Spargel ins Sieb zu den anderen und prüfte kritisch Annes Exemplare.

»Er liebt dich nicht«, fügte sie hinzu, ebenso lakonisch. Immerhin besaß sie den Anstand, ihrer Tochter dabei nicht in die Augen zu sehen, hatte Anne damals gedacht, die sich noch heute an die ungeheure Wut erinnerte, die in ihr hochgestiegen war.

»Das sagst ausgerechnet du?« hatte sie empört gerufen.

Erika glaubte nicht an die Liebe. Jedenfalls nicht an die romantische Liebe, die heiße Leidenschaft, das ungezügelte Begehren – »Das ist Lore-Roman«, hatte sie einmal abschätzig gesagt, Anne erinnerte sich nicht mehr, aus welchem Anlaß. »Das ist was für pubertierende Mädchen.«

Hatte sie Annes Vater geliebt? Anne hatte das damals nach dem Tod ihres Vaters wissen wollen – fast an Vaters Totenbett, dachte sie mit einem Anflug von Scham. »Zu Beginn unserer Ehe nicht«, hatte Erika in ihrer gnadenlosen Ehrlichkeit gesagt. »Später allerdings ...« Diese Einschränkung aber hatte ihre Tochter schon nicht mehr hören wollen. Sie, dachte Anne, hatte sich selbstgerecht aufregen wollen über das mütterliche Geständnis, über diesen schockierenden Satz, der gegen alles verstieß, woran Anne damals glaubte. Vor allem gegen das bedingungslose Primat der Liebe.

Erika hatte »Viel Glück« gesagt, als Anne ihr 1991 knapp mitteilte, daß sie Kiel und Leo verlassen werde. Kein rechthaberisches »Siehste«, kein »Ich hab’s dir gleich gesagt«. Das hatte sie ihrer Mutter nie vergessen. Und irgendwann hatte sie begriffen, daß Erika von der Liebe nichts hören wollte, weil sie deren Kehrseite zu gut kannte.

Ihre Mutter, wußte Anne heute, hatte Annes Vater geheiratet, um einem anderen Mann zu entkommen: dem herrschsüchtigen, tyrannischen Vater, der seiner Frau zum Vorwurf machte, daß sie ihm Töchter, aber keinen Sohn geboren hatte. »Es ist ihr nie gelungen«, dachte Anne bedauernd.

Der alte Maier war im Frühsommer 1945 in der sowjetisch besetzten Zone verhaftet worden. Seither galt er als verschollen. Jahre-, jahrzehntelang hatte Erika, die sich rechtzeitig in den Westen absetzen konnte, nach ihm suchen lassen. Erst spät erfuhr sie von einem ehemaligen Mithäftling, daß er im Lager Buchenwald gestorben war, im Winter 1947, an Lungenentzündung und allgemeiner Erschöpfung.

»Er war ein Mitläufer, kein Verbrecher, Anne«, hatte sie ihrer Tochter zu erklären versucht, die von der Überzeugung nicht abzubringen war, ausnahmslos alle seien damals Nazis gewesen. »Es muß eine Verwechslung gegeben haben. Eine Denunziation.« Sie hatte seine Rehabilitation gewollt. Heute, dachte Anne traurig, würde sie die wahrscheinlich kriegen. Heute war es zu spät.

Warum hatte sie ihrer Mutter eigentlich nie gesagt: »Dein Vater ist nicht an dir gestorben – höchstens an den Verhältnissen«? Erika hatte viel zu lange damit verbracht, ein tiefes Schuldgefühl gegenüber dem Vater abzutragen, den sie für einen anderen verlassen hatte – und der nun erst recht nicht mehr von ihr ließ. Liebe ist der Strick, der Menschen auch über den Tod hinaus aneinanderfesselte.

Anne seufzte. Sie hatte lange gebraucht, um die Zusammenhänge zu verstehen. Wie denn auch? Als junges Mädchen hatte sie Erikas Kühle in allen Gefühlsdingen gehaßt – das nahm den Träumen allen Glanz. Oder was sollte man als Siebzehnjährige mit Sätzen anfangen wie: »Mach dich rar!« oder »Wer Liebe sagt, der lügt!« In Wirklichkeit hatte Erika zu sehr geliebt. Und das hatte sie irgendwann erkannt.

»Er liebt dich nicht«, hatte ausgerechnet ihre Mutter über Leo gesagt.

»Seit wann ist das denn ein Nachteil, deinen gesammelten Grundüberzeugungen zufolge?« hatte Anne wütend geantwortet.

»Mich kränkt das wenig.« Erikas Gelassenheit hatte sie noch wütender gemacht. »Aber dich.« Ihre Mutter hatte sie fast liebevoll angesehen, damals. »Oder?«

Anne verzog angewidert die Nase, als sie an der nassen Ruine des kleinen Stallgebäudes vorbeikam, die Krysztof notdürftig zugänglich gemacht hatte. Irgend etwas mußte ihre Mutter damals in Annes Gesicht gesehen haben, irgend etwas, das sie plötzlich fast weich, ja geradezu zärtlich zu ihrer Tochter hatte werden lassen.

»Du brauchst einen Mann, der dich liebt, Anne. Nicht einen, den du liebst. Das ist auch wichtig. Aber das kommt von ganz allein.« Erika hatte den letzten geschälten Spargel ins Sieb gelegt und sammelte die Schalen zusammen.

»Er liebt mich, Mutter. Ich weiß es.« Anne rang um ihre Selbstbeherrschung. »Und was verstehst du schon davon!«

»Nichts, glaubst du.« Erika hatte die getönte Brille abgelegt und sie müde angeschaut. »Ich habe deinen Vater nicht aus ›Liebe‹ geheiratet« – selbst das Wort ging ihrer Mutter kaum über die Lippen, war Anne aufgefallen –, »sondern aus Gründen, von denen ich annehmen konnte, daß sie auch nach Jahrzehnten noch Bestand haben würden.«

»Und die wären?«

»Ehrlichkeit. Verläßlichkeit. Respekt.« Was für ein konservatives Langweilerprogramm, hatte Anne damals in ihrem Größenwahn geglaubt.

»Und das hatte Bestand?« fragte sie kritisch.

»Bis zuletzt.«

»Ganz ohne Liebe?«

»Das«, hatte Erika bestimmt gesagt, »habe ich nicht behauptet.« Sie war vom Tisch aufgestanden, das Sieb mit dem Spargel in der Hand, und hatte ihrer Tochter den Rücken zugewandt. »Und jetzt wollen wir nicht mehr darüber reden.«

Die Sünden der Väter – und der Mütter. Es gab wohl nichts und niemanden, der diesem unseligen Zusammenhang entrinnen konnte. Entweder wiederholte man die Fehler der Alten. Oder man rebellierte dagegen. Aber die Rebellion befreite nicht. Auch sie fand sich im Handbuch der Psychologie unter dem Stichwort »Wiederholung«. Du bist in die Falle gerannt, dachte Anne. In die Falle der Liebe. Sonst wäre ihr vielleicht aufgefallen – nicht, daß Leo sie nicht geliebt hatte. Sondern daß es den, den sie liebte, gar nicht gab.

Anne fühlte, wie die Müdigkeit ihren Kopf ganz leicht werden ließ. Sie ging mit dem Hund zum Haus zurück. Lautes Wummern empfing sie, das sich aus Renas Zimmer über den Hof ausbreitete. »Mach es mir nicht nach, Rena«, murmelte sie inbrünstig. »Und versuch auch bitte nicht, es ganz anders zu machen.« Denn den Umweg, das wußte sie, konnte man sich sparen.

Rena hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und öffnete auch auf energisches Klopfen nicht. Wenigstens drehte sie die Musik leiser. Boris, der dicke graue Kater, räkelte sich schon auf Annes Lieblingsplatz und gähnte ausgiebig, als sie ins Wohnzimmer kam, um den Kamin zu säubern und Feuer zu machen. Sie goß sich einen großen Schluck Whisky ein und horchte am Fenster auf die Geräusche der beginnenden Nacht.

»Auf dein Wohl, Erika Burau«, sagte sie leise.

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