Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 29

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»Und Sie haben Ihren Mann vor seinem Tod wirklich garnicht mehr gesehen?« fragte Frau Schneider mit vor Neugierde blitzenden kleinen Brombeeraugen im rosigen Gesicht. Der Hofladen war voll, selten ging das Geschäft so gut wie heute. Um 14 Uhr hatte Anne geöffnet und seither keine ruhige Minute mehr gehabt. Frau Schneider schüttelte ungläubig die weißen Löckchen. Sie wußte immer, wo ihr Walter war.

»Und man hat ihn – erwürgt?« fragte die kleine Bärbel aus Ebersgrund, bei der Anne sich die Haare schneiden ließ.

»Mit einer Drahtschlinge«, entgegnete Anne müde. Bärbel schüttelte sich, Frau Schneider murmelte »Herrje, herrje«.

»Und was ein Glück, daß Sie wenigstens den Brand rechtzeitig bemerkt haben, nicht?« flötete die Apothekersfrau mit falscher Herzlichkeit, während sie sich von Anne die Lammkoteletts einpacken ließ. Ihr sensationsgeilen Kühe, dachte Anne unfreundlich.

Um 17 Uhr war die Tortur endlich vorbei. Anne stöhnte vor Überdruß, schloß den Hofladen ab und zog sich Gummistiefel und Jacke an für den Rundgang über Hof und Koppeln. Sammy tanzte begeistert um sie herum. »Schon gut«, sagte sie zu ihm und tätschelte seinen Kopf, »genieß es ruhig, daß du wieder Hahn im Korb bist.« Dagobert hatte sie mittags in den Zwinger sperren müssen, aus Rücksicht auf die vielen Besucher.

Obwohl Krysztof den größten Teil der verkohlten Trümmer bereits weggeräumt hatte, tat ihr der Anblick des abgebrannten Pferdestalls weh. Natürlich würde die Versicherung zahlen, das hatte sie heute morgen schon in die Wege geleitet. Für den materiellen Verlust. Aber das war ja nicht alles, was weh tat.

Sie lief an den stinkenden Trümmern vorbei zur Pferdekoppel. Schon von weitem sah sie jemanden auf dem Gatter sitzen, umringt von vieren ihrer Pferde. Sie merkte, wie sie zornig wurde. Wer war das? Hier hatte niemand außer ihr etwas zu suchen. Die schlanke Gestalt erinnerte sie – an Paul? Nein, dessen weißes Haar war unverwechselbar. Dieser hier hatte braunes Haar. Rena konnte es also auch nicht sein.

Als sie näher kam, hörte sie gemurmelte Koseworte. Mit Erleichterung erkannte sie Alexander. »Was machst du denn hier?« fragte sie, etwas atemlos, zur Begrüßung. »Rena ist im Haus!«

Er drehte sich zu ihr um, ohne sein sonst so strahlendes Lächeln. Die Stute pflückte ihm die Möhre vom Handteller, die er ihr hingehalten hatte. »Ich weiß«, sagte er kurz angebunden und wandte ihr wieder den Rücken zu.

»Kann ich dir helfen?« fragte Anne vorsichtig. Der Ausdruck in diesem glatten, jungen Männergesicht löste in ihr ein diffuses Unbehagen aus. »Brauchst du etwas?«

»Nein«, sagte er.

Anne spürte, wie sie ungeduldig wurde. Sie hatte heute besonders wenig Lust auf unhöfliche Jungmänner.

»Also – was machst du hier?« fragte sie, grober, als sie eigentlich wollte. Er war immerhin Renas Freund. Sie mußte ihn ja nicht gleich vor den Kopf stoßen.

»Ich denke nach.«

»Gute Idee«, sagte Anne. Aber brauchte er dazu ihre Pferdekoppel? »Und worüber?«

»Über Mutter und Tochter.« Der Knabe saß noch immer auf dem Gatter, mit dem Rücken zu ihr. Anne merkte, wie ihr die Galle hochstieg. Über die Tochter durfte er gerne nachdenken – falls er Rena meinte. Die Mutter aber ging ihn gar nichts an.

»Und?« sagte sie eisig.

»Nichts und.« Täuschte sie sich? Oder hatte sie ein Zittern in seiner Stimme gehört?

»Kann ich dir irgendwie helfen, Alexander?« Sie versuchte noch einmal, versöhnlich zu sein.

»Nein«, sagte der Junge und glitt vom Zaun. »Alles in Ordnung.«

Sein Gesicht war wie versteinert, als er sich umdrehte und die Hände in den Hosentaschen versenkte. Er sah ihr nicht in die Augen.

»Ich geh dann mal«, sagte er. Gute Idee, dachte Anne.

»Bestell deinen Eltern einen schönen Gruß von mir, ja?« sagte sie. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. »Und vergiß es auch nicht!«

Den kurzen Blick, den er ihr zuwarf, bevor er sich umdrehte und ging, konnte sie nicht deuten. Gepeinigt? Verächtlich? Oder einfach nur verstockt und schlecht gelaunt?

Anne hob eine Möhre auf, die Alexander vor dem Gatter hatte fallen lassen, und hielt sie dem Zweijährigen hin, der mit seinen weichen Lippen nach ihrem Jackenärmel geschnappt hatte. Was war mit dem Jungen los? Hatte er Streit mit Rena gehabt? Sie wußte nicht, ob ihr das leid tun sollte. Oder ob sie im Grunde ihres Herzens darüber erleichtert war.

Vor dem Hofladen standen Rudolf und Werner, die beiden Jäger, neben ihrem verstaubten braunen Jeep. Der Wagen sah schwer demoliert aus. Anne merkte, daß sie sich über den Besuch freute, und lächelte den beiden entgegen. »Habt ihr eine Begegnung mit Billy gehabt?«

»Mit deinem gigantischen Stier? Um Himmels willen!« Beide Männer hielten mit gespieltem Entsetzen die Hände hoch.

»Was kann ich für euch tun?« fragte sie. »Bier? Cola? Wasser?«

»Bier«, sagte Rudolf.

»Und Geld!« forderte mit frechem Grinsen Werner.

Anne hatte es vergessen. Die beiden kamen zur monatlichen Abrechnung.

»Du hast im Moment andere Probleme, das wissen wir doch«, sagte Rudolf, der große blonde Sicherheitsingenieur aus der Kreisstadt, der zusammen mit dem sanften Werner von der Ford-Werkstatt in Pfaffenheim die Jagd im Wald hinter dem Weiherhof gepachtet hatte.

»Das kann man wohl sagen«, Anne schloß den Hofladen auf, »ich bin für jede Ablenkung dankbar.«

»Davon haben wir jede Menge zu bieten«, sagte Werner und schlüpfte aus seiner Barbour-Jacke, bevor er sich an den runden Tisch in der Mitte des Raumes setzte.

»In meinem Laden müssen Versprechen gehalten werden«, sagte Anne, hängte ihre Jacke auf, tauschte die Gummistiefel gegen ihre Birkenstocks und begann drei Bier zu zapfen.

»Wir haben letzte Nacht ein ganzes Diebeslager ausgehoben.« Rudolf streckte seine langen Beine unter den Tisch und lächelte stolz. »Die Rumänen natürlich. Die Vollidioten haben ihre ganze Beute – jetzt rat mal, wo – gebunkert.«

Anne lachte, zuckte die Schultern und brachte drei volle Biergläser zum Tisch. Die Männer hoben das Glas.

»Also, ich steig den Hochsitz auf dem Wildacker vor Klein-Roda hoch«, erzählte Rudolf, »und dacht, es haut mich um. Fast wär ich drübergefallen. Es war alles voll. Bis unter die Decke gestapelt: Konservendosen, Weinkisten, Videorecorder, Postsäcke, Waschpulver« – Werner gluckste, ausgerechnet Waschpulver –, »Schnaps, Kochtöpfe. Die ganze Litanei.«

Anne schüttelte den Kopf. Die rumänischen Banden entwickelten sich zur Landplage.

»Danach haben wir natürlich weitergesucht. Auf drei anderen Hochsitzen – die gleiche Bescherung.« Rudolf stopfte sich genüßlich seine Pfeife. »Die haben gestaunt bei der Polizei.«

»Und die Rumänen haben euch dafür euren Jeep eingedellert?« fragte Anne, die merkte, wie gut es ihr tat, von den eigenen Sorgen abgelenkt zu werden.

»Schön wär’s.« Rudolf hielt das Feuerzeug über den Pfeifenkopf und paffte. »Ich hätte die Jungs zu gern auf den Bullenfänger genommen.«

Anne hatte lange gerätselt, wozu das chromblitzende Gestänge gut sein könnte, das ein echter Kultjeep über der vorderen Stoßstange trug. Ein Bullenfänger, na klar! Und wenn man dann noch die entsprechende Zigarette dazu rauchte, stellte sich der Geschmack von Freiheit und Abenteuer ganz von selbst ein. Paul hatte kürzlich eine aparte Theorie entwickelt, warum der Jeep insbesondere bei Städtern so beliebt war – als Drittwagen. »Womit«, hatte er gefragt, »sollen sie denn sonst ihre Eier vom Bauernhof holen?«

Bei Rudolf und Werner war sie nachsichtig: Die beiden fuhren wirklich über matschige Waldwege und durch feuchte Wiesen. Und die Aufschrift auf dem Schutzüberzug über dem Ersatzrad, an der Hinterklappe, war einmal nicht die übliche eitle Protzerei, mit der Jeepbesitzer auf ihre Mitgliedschaft im Golfclub Sowieso oder im Boxverein Irgendwie hinwiesen, sondern der Name der Vogelwarte auf dem Bieberkopf: »Der Flug des Falken«.

Rudolf zog an seiner Pfeife. »Uns hat ein großer, kräftiger Sechsender erwischt.«

»Beziehungsweise wir ihn«, korrigierte Werner.

»Am vergangenen Samstag. Auf der Strecke zwischen Heckbach und Berghain. Im Dämmerlicht. Da sind die Tiere wie besoffen. Ich hab noch auszuweichen versucht, aber« – Rudolf hob die Hände – »nichts zu machen.«

»Seitlich rechts hat’s uns erwischt. Immer auf die armen Beifahrer.« Werner nahm einen tiefen Schluck. Er wirkte nicht sehr mitgenommen.

»Ich nehme an, ihr hättet ihn lieber mit einem Blattschuß erledigt, oder?«

»Na, aber wirklich«, sagte Rudolf. »Das wäre entschieden sauberer gewesen. Das Tier hatte eine geplatzte Bauchdecke ...«

»Und die Gedärme hingen schon raus«, ergänzte Werner.

»Das reicht! Mir schmeckt das Bier sonst nicht mehr!« protestierte Anne, stand auf und zapfte noch mal drei.

Sie mochte die beiden. Sie gehörten nicht zum üblichen spießigen Jagdzirkus, trugen keinen Gamsbart am Hut oder betrieben auffälligen Waffenkult oder warfen mit Jägerlatein um sich wie: »Und dann habe ich ihn weidgerecht aus der Dekke geschlagen.« Auch Flachmänner aus Sterlingsilber oder heizbare Socken traute sie den beiden nicht zu. Und die sportlich-asketische Variante schloß sie bei Rudolf und Werner erst recht aus, derzufolge man stundenlang auf dem Hochsitz bibbern mußte, um dann unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren, nicht ohne vom »einmaligen Naturerlebnis« zu schwärmen. Nein, beide lieferten ihr zuverlässig Fleisch und waren, dachte Anne dankbar, einfach richtig nette Kerle.

Anne holte ihr Kassenbuch, errechnete den Anteil der beiden am verkauften Wildbret und stellte einen Scheck aus.

»Weidmannsdank!« sagte Rudolf und legte die Handkante an die imaginäre Hutkrempe.

»Irgendwelche Wünsche?« fragte Werner.

»Wildschweinbraten«, sagte Anne. »Der geht gut weg.«

»Wie befohlen.« Rudolf klopfte die Pfeife aus.

»Man tut, was man kann!« ergänzte Werner.

Draußen war es fast dunkel. Anne brachte die beiden bis zum Auto und atmete die feuchte Abendluft ein, den Duft von moderndem Laub, von Pferdeäpfeln, den scharfen Geruch, den der große graue Kater am Türstock hinterlassen hatte. Katzweg kaufen, notierte sich Anne im Kopf. Auch wenn es nicht viel nützte – außer dem Hersteller. Dann trieb sie das Federvieh in den Stall.

Ein kühler Lufthauch bewegte die Lampe, die, zwischen zwei Seile gespannt, über dem Hof hing. »Schriek«, machte sie dabei. »Schriek.« Anne horchte auf. In den vertrauten Ton mischte sich ein anderer, von ferne her. Ein sehnsüchtiger Laut, der näher kam. Immer näher. Anne legte den Kopf in den Nacken und starrte in den dunkler werdenden Himmel, aus dem die Sterne herauszutreten begannen. Eine Schar Kraniche flog rufend über ihren Kopf hinweg – ein Ruf, der von den Weiherhof-Gänsen beantwortet wurde, mit einem ebenso sehnsüchtigen Ton, sehnsüchtiger vielleicht noch, weil er nur gedämpft aus dem Stall nach draußen drang.

Zwanzig, nein, Anne zählte nach: fünfundzwanzig Tiere flogen durch die Nacht. Die Vögel mit dem majestätisch langsamen Flügelschlag und dem langen Hals bildeten einen Keil, wechselten im Fluge seitwärts die Plätze und fächerten sich nach kurzem Durcheinander wieder aus zu einem Haken, dessen eine Seite kürzer war als die andere. Wie Rauchzeichen, dachte Anne. Wie ein Menetekel. Von seinem Zwinger neben dem Wohnhaus schickte Dagobert ein herzzerreißendes Heulen in die Nacht. Sie flüchtete in den hellerleuchteten Hofladen. Nur keine Melancholie jetzt, dachte sie. Nur keine Sentimentalitäten. Es wurde Herbst. Das war alles.

Anne spülte die Gläser von Rudolf und Werner, setzte sie auf das Trockenrost und zapfte sich ein Bier. Sie schnitt zwei Scheiben Bauernbrot ab und stellte Butter und ein Glas mit kleinen eingelegten Gurken auf den runden Tisch. Dann ging sie durch den Wirtschaftsraum, in dem die große Edelstahlspüle stand, die Knochensäge und der Hackklotz und das Gerät, mit dem man die Fleischstücke vakuumverpacken konnte. Sie öffnete die Kühlkammer rechts, in der die frisch geschlachteten Enten und eine Gans hingen, eine Wildschweinkeule und, ganz hinten, die luftgetrockneten Würste, die ihr der Metzger gestern vorbeigebracht hatte. Sie ging hinein und ließ die Tür angelehnt.

Anne schlachtete nicht selbst. Sie war froh, daß sie einen guten Metzger gefunden hatte, der nach den strengen Richtlinien des Bio-Gütesiegels arbeitete. Die langen, dünnen Lammsalami gerieten ihm, fanden alle, am besten. Anne griff nach dem Wurstpärchen ganz rechts außen, als sie, leise nur, hinter sich ein Geräusch hörte. Sie drehte sich um und sah noch, wie sich der große Hebel an der schweren Kühlkammertür langsam nach oben drehte. Irgend jemand erlaubte sich einen Scherz.

»Rena?« rief sie, halb irritiert, halb belustigt. Selbstverständlich war die Kühlkammer, ein älteres Modell zwar und nicht nach den allerneuesten Sicherheitsstandards gebaut, auch von innen zu öffnen. Dann hörte sie, wie der Schlüssel sich im Schlüsselloch drehte. Das war nun gar nicht mehr komisch. Sie war mit zwei Schritten an der Tür. Die Tür war zu, ließ sich nicht öffnen. Sie war eingeschlossen.

Anne fühlte, wie Panik sie überfiel. Sie spürte einen metallenen Geschmack auf der Zunge. Ihr Herz raste. Mit weichen Knien lehnte sie sich an die Tür, ihr war übel, fast hätte sie sich übergeben. Eingesperrtsein stand in ihrem persönlichen Katalog von Albträumen an vorderster Stelle – Rena, durchfuhr sie ein Hoffnungsschimmer, hoffentlich sucht Rena nach mir. Sie trommelte mit heiden Fäusten an die dicke, gut isolierte und gepolsterte Tür und schrie Renas Namen. Wieder und wieder »Hilfe« und »Hört mich denn niemand?«.

»Rena!« Wo war Rena, durchfuhr es sie, sie hatte sie heute abend doch noch gar nicht gesehen.

»Ich will hier raus«, schrie sie. Was, wenn Rena etwas passiert war? Und man tagelang nicht nach ihr suchen würde? Anne schrie.

Immer wieder: »Hilfe!« Und: »Hallo!« Und: »Ist da niemand?«

Und: »Verdammt!«

Schließlich schmerzten ihre Fäuste, und ihre Stimme wurde heiser. Wütend und hilflos brach sie in Tränen aus. Dann setzte langsam ihr Verstand wieder ein. Nein, schreien hatte keinen Sinn. Es würde sie niemand hören.

»Reiß dich zusammen!« zischte sie sich zu und nahm erschrocken das weiße Wölkchen wahr, das vor ihrem Mund in die Luft stieg. Die Temperatur in den Kühlkammern lag meistens um die fünf Grad. Die kalte Luft wurde durch ein Gebläse gleichmäßig in der Kühlkammer verteilt. Sie hatte nur Leggins und ein Sweatshirt an. An den Füßen Sandalen. Stirbt man an so etwas? durchfuhr es sie.

Und wann würde man auf dem Hof bemerken, daß sie nicht da war?

Wenigstens konnte man hier nicht verhungern. Anne nahm einen großen Biß von der Salami, die sie noch in der Hand hielt, und sandte ein Stoßgebet hoch zum Herrgott, an den sie normalerweise nicht sehr innig glaubte. »Laß es bald vorbei sein, lieber Gott.« Sie versuchte, langsamer zu atmen und die helle Aufregung ihres Körpers zu dämpfen. Spätestens morgen früh würde man sie suchen. Und sie finden, mit, wenn sie Glück hatte, keinem größeren Schaden als einem Schnupfen.

Wenn man wenigstens etwas tun könnte! Aber aus der Tür kam sie nicht raus. Das Schloß konnte man von innen nicht knacken, denn ein Schlüsselloch gab es nur außen. Gewalt? Eine Stahltür hob man nicht so eben mal aus den Angeln. Ein Fenster gab es nicht.

Könnte man wenigstens das Kühlaggregat von innen ausschalten? Anne biß sich nervös auf die Unterlippe. Der Sicherungskasten für die Kühlanlage war draußen. Einen Kurzschluß erzeugen? Natürlich – man konnte die Glühbirnen der beiden Lampen zerstören, die die Kühlkammer bis in jede Ecke ausleuchteten. Sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Dann sitzt du hier in der Eiseskälte auch noch in tiefster Dunkelheit, dachte sie. Das Kühlaggregat selbst hatte außerdem eine eigene Sicherung, das würde also gar nichts nützen.

Höchstens das Licht im Hofladen würde dann mit ausgehen. Es dürfte allerdings niemanden sonderlich wundern, wenn es um diese Tageszeit dort dunkel wäre.

Sie mußte abwarten. Geduld haben. Noch war ihr warm vom Rufen und Klopfen. Das konnte sich bald ändern. Sie begann durch die enge Kühlkammer zu gehen. Sechs Schritte vor, Kehrtwende, sechs Schritte zurück. Entnervt lehnte sie sich an das Regal links, in dem sie, eingeschweißt in dicke Plastikfolie, die Lammkeulen, Rinderbraten und andere kleinere Fleischstücke lagerte. Sie versuchte im Kopf den Geldwert all des toten Fleisches zu schätzen, das sie hier umgab. Für die Beerdigung würde es reichen.

Schließlich kauerte sie sich in die Ecke unter die Würste, die Kühlkammertür fest im Blick, versuchte an nichts zu denken und horchte auf ihren Herzschlag. Bald war ihr wirklich kalt. Vor allem beim Gedanken, wer sie hier eingeschlossen hatte und warum. Würde sie, wenn sich die Tür wieder öffnete, ihren Mörder sehen?

Sie sprang auf und lief zurück zur Tür, wollte dagegenschlagen, hämmern, treten. Als etwas Kaltes, Klammes nach ihr zu greifen schien, schrie sie wild auf. Sie war mit der großen Gans zusammengestoßen, die rechts neben der Wildschweinkeule am Haken hing, die feuchtkalte, gummiartige Haut des Tierkadavers fühlte sich gespenstisch an. Der Zusammenstoß hatte die Gänseleiche ins Schwingen gebracht. Anne starrte gebannt auf das große, fleckige, stoppelige Ding, das träge hin- und herschwankte, wobei der Fleischerhaken leise über die Stange schabte.

Die Veganer! schoß es ihr durch den Kopf. Sie war von den Veganern eingesperrt worden! Militante Veganer hatten kürzlich den Laden des einzigen Biometzgers von Pfaffenheim demoliert – und auch noch mit Buttersäure verpestet, dachte Anne angeekelt. Im in allen Zeitungen veröffentlichten Bekennerbrief hieß es sinngemäß, die seien ja wohl die schlimmsten, die nicht nur Fleisch, sondern auch noch das von glücklichen Tieren verkauften. In diese Kategorie paßten auch Anne und der Weiherhof. Anne schüttelte sich. In diesem Moment, allein mit so vielen toten Tieren, konnte sie plötzlich die Abneigung vieler Menschen gegen Fleisch verstehen.

Die am Haken mit einem leisen »Schrääk« pendelnde Gans hing genau da, oder jedenfalls fast an derselben Stelle, an der vor nicht ganz einer Woche Leos Leiche gehangen hatte. Ein absurder Gedanke stieg in ihr hoch. War das hier ihre Totenwache für Leo?

Anne hockte sich wieder auf den Boden, die Arme um den Oberkörper gelegt. Leo, dachte sie. Leo. So viel Glück. Und so viel bodenloses Unglück.

Das erste Jahr mit Leo in Kiel war, dachte sie damals, das schönste ihres Lebens. Leo paßte sich der neuen Situation mit der Geschmeidigkeit einer Katze an. Nichts erinnerte mehr an den Ostberliner Dissidenten mit den langen Haaren, dem Bart und den Sandalen. Noch nicht einmal mehr sein Geruch, den sie so aufregend gefunden hatte, damals, auf dem Liebeslager in der Gartenhütte. Es war ein Duft, den sie kannte. Ein vertrauter Geruch, der sie an die ersten Küsse erinnerte, damals, nach der Tanzstunde. Er roch, wie Männer früher rochen: nach ›Tabac‹ und mehrmals getragenen Nyltesthemden, vermischt mit Zigarettenrauch und dem Geruch von Bier. Es war ein Geruch, der von der Erinnerung lebte, die er auslöste. Erinnerung an Zeiten, in denen man noch auf alles hoffen durfte.

In Kiel standen die teureren Sorten von Duftwässern im Badezimmerregal, lagen die besseren Hemden in Leos penibel aufgeräumtem Kleiderschrank. Von Bier war er umgestiegen auf die leichten italienischen Weißweine, die man in ihren Kreisen bevorzugte. In denen man sich auch das Rauchen längst abgewöhnt hatte.

Leo hatte seine Vergangenheit restlos abgelegt. Er verteidigte nicht einmal die Friedensbewegung der DDR gegen ihre westdeutschen Kritiker, die Zurückhaltung predigten, weil sonst der Prozeß der Aussöhnung zwischen Ost und West Schaden nehmen könne – »Wandel durch Annäherung« und wie die Phrasen damals alle hießen, dachte Anne bitter. Sie hingegen hatte sich aufgeregt über die westdeutschen Besitzstandswahrer, die über ihrer spät entdeckten Friedensliebe die Freiheitswünsche anderer Völker – etwa der Polen – großzügig zu vergessen pflegten. Leo sagte dazu selten etwas. Überhaupt überließ er es ihr, die erste Geige zu spielen.

»Fühlst du dich als mein Anhängsel?« hatte sie ihn einmal gefragt, nach einer Party, auf der sie im Mittelpunkt und er meistens am Rande gestanden hatte.

»Nein.« Leo hatte sie liebevollspöttisch angesehen. »Ich bin der Mann einer Frau, der jeder eine große Zukunft vorhersagt. Das finde ich völlig ausreichend.«

Er spielte die Rolle des Begleiters perfekt. Überall war er dabei: auf Konferenzen, bei öffentlichen Veranstaltungen – sogar bei Parteitreffen in Hinterzimmern, auf denen Intrigen eingefädelt, Seilschaften gebildet und Gegner ausgebootet wurden. Mit ihm konnte sie Strategie und Taktik diskutieren, er war der sprechende Spiegel, der ihr eigenes Auftreten lobte oder kritisierte. Wem zu trauen war und wem nicht, wen man heranzog, wem wichtige Aufgaben zuschob – und wen man möglichst geschickt aufs Abstellgleis bugsierte: Auf Leos Urteil gründeten sich nicht wenige ihrer Entscheidungen. Sie traute seinem Instinkt, seiner Menschenkenntnis. Und seiner Verschwiegenheit.

»Du solltest dich ein bißchen mehr zurückhalten, wenn du dich mit Heike triffst«, hatte er ihr einmal geraten.

»Wieso denn das, um Himmels willen?« hatte sie scharf zurückgefragt. »Sie ist meine beste Freundin.«

»Eben. Bist du sicher, daß sie nicht klatscht?«

»Ich dachte, ihr mögt euch, du und sie?«

Leo lachte. »Sei nicht sentimental. Gefühle und Politik sollte man nicht miteinander verwechseln.«

Getroffen. Das hatte sie ihm als ihre eigene Philosophie mehr als einmal gepredigt.

»Gibt es da etwas, das ich wissen müßte?« hatte sie gefragt.

Sie sah ihn vor sich, wie er vor dem Spiegel stand, das Kinn hochgereckt, um sich den Schlips zu binden. Damals hatte sie seine Eitelkeit verliebt belächelt: Leo plante geradezu generalstabsmäßig die Reihenfolge, in der er seine elegant geschnittenen Anzüge aus dem Kleiderschrank holte.

»Nicht direkt, Liebste.« Leo zog den Windsorknoten fest und betrachtete sich kritisch im Spiegel. »Instinktsache. Trau mir.«

Heike hatte nie verstanden, warum die Freundschaft mit Anne zusehends abkühlte. Anne hatte es ihr nie erklärt.

Nur eines hatte Leo sich ausbedungen – für seine Rolle als »Aktentaschenträger der gnädigen Frau«, wie er sich selbst titulierte. Er wollte reisen: ohne sie, ohne Ziel, ohne Plan und ohne große Vorankündigung.

»Das hat mich am Westen angezogen – abhauen können«, hatte Leo ihr eines Abends mit ungewohnter Bitterkeit gesagt, »nicht eure Konsumwelt, eure Karrieren, euer langweiliger Wohlstand und eure noch langweiligere Wohlanständigkeit.«

»Eure? Unsre? Nicht auch deine?« hatte Anne zurückgefragt.

Leo hatte geschwiegen. Und war am nächsten Tag aufgebrochen – zu einer dieser Reisen, von denen er meistens schon nach vier, fünf Tagen zurückkehrte, entspannt, gelöst, bester Dinge und ohne ihr jemals zu verraten, wo er gewesen war.

Heute konnte sie es sich denken. Damals verstand sie nicht, warum, als im November 1989 die Mauer fiel, nicht nur ganze Weltreiche, Weltanschauungen, ja die Koordinaten der Weltpolitik zerbröselten, sondern auch ihre Ehe. Denn sie war glücklich – und glaubte, daß es alle anderen auch sein müßten.

Gott, hab ich geflennt, dachte sie. Sie hatte am 9. November mit Rena vor dem Fernseher gehockt und fassungslos beobachtet, wie sich das, was für die Ewigkeit gebaut war – die deutsch-deutsche Grenze, der »antifaschistische Schutzwall« –, in Stunden, ja in Minuten in nichts auflöste. Es war wie des Kaisers neue Kleider: Eben glaubten noch alle, in der Mauer eine unüberwindbare Staatsgrenze zu erkennen. Und im nächsten Moment sah man nichts als ein banales Bauwerk, das man wie jede andere Mauer behandeln konnte: Euphorisch kletterten Jugendliche hinauf und winkten in die Kameras. Mauerspechte begannen, den Beton zu zerlöchern. Breschen öffneten sich. Der Mythos war zerstört.

Anne hatte in ihrer Euphorie damals erst gar nicht gemerkt, daß Leo im Halbdunkel ihres Schlafzimmers saß, nervös eine Zigarette nach der anderen rauchte und den Whisky aus Wassergläsern trank. Erst als er zu fortgerückter Stunde böse und bitter das Deutschlandlied anstimmte – erste Strophe! –, fiel ihr auf, daß etwas nicht stimmte.

Am nächsten Tag war er verschwunden. Anne war froh, daß die Ereignisse sie ablenkten und keine Zeit war, sich Gedanken über sein langes Ausbleiben zu machen. Sie wollte an die jetzt offene Grenze fahren, die Ströme von Menschen sehen, die einander freudig begrüßten, mit Sektflaschen in der Hand und Tränen in den Augen. Noch fand es niemand aus dem Osten beleidigend, wenn man ihm zur Begrüßung nicht nur Blumen, sondern auch Geldscheine hinhielt. Noch beklagte sich keiner aus dem Westen, daß die Supermärkte in den grenznahen Orten in Windeseile leergekauft waren.

Anne erinnerte sich, wie sie immer wieder fassungslos über die ehemalige »Zonengrenze« gefahren war; an den Anblick der kahlgeschlagenen, scheinwerferausgeleuchteten, mit Minen und Selbstschußanlagen scharf gemachten Zäsur, die sich als Staatsgrenze aufgeführt hatte. Noch gab es Grenzposten und Paßkontrollen. Schon lächelten die DDR-Grenzer – was manchem von ihnen noch schwerfiel. Bald pfiff der Wind durch leerstehende Abfertigungshallen. Und später vermißte sie manchmal ein Zeichen dafür, daß Schlutup jahrzehntelang kein Kaff wie all die anderen norddeutschen Dörfer war. Sondern der von Kiel aus nächste Grenzübergang zwischen der Bundesrepublik und der DDR.

Leo war nach zwei Wochen zurückgekehrt – schlecht rasiert und schlecht gelaunt. Die begeisterten Pilgerfahrten in die DDR, die Anne und ihre politischen Freunde unternahmen, interessierten ihn nicht. Ebensowenig die Vorbereitung der ersten freien und unabhängigen Wahlen in der DDR, bei denen Annes Partei das von der Bürgerbewegung gegründete »Neue Forum« mit Geld und Engagement unterstützte: die Volkskammerwahlen am 18. März 1990.

Leo trank, wenn sie unterwegs war – wie Anne an der Zahl der in der Küche herumstehenden leeren Whiskyflaschen feststellen konnte, die Leo früher, eifrig und ordentlich, zum Flaschencontainer gebracht hätte. Er war nicht ansprechbar, wenn sie versuchte, seine Laune und ihre Beziehung zu thematisieren. Für ihren »Politkram«, wie er es jetzt abschätzig nannte, interessierte er sich nicht. Und im Bett lief gar nichts mehr zwischen ihnen. Leo hatte sich auf die Gästecouch in der Bibliothek zurückgezogen.

Nur der Einladung Frank Mathes’, das Auszählen der abgegebenen Stimmen bei den Volkskammerwahlen in seiner Wohnung im Prenzlauer Berg abzuwarten und hinterher auf welches Ergebnis auch immer ein paar Flaschen zu leeren, folgte seltsamerweise auch Leo. Ihm muß damals schon alles egal gewesen sein, dachte Anne. Dabei war noch nicht einmal ihr entgangen, wie mißtrauisch einige der alten Bürgerrechtler ihm hinterhersahen. Aber niemand hatte etwas gesagt.

Als die ersten Hochrechnungen das wahrscheinliche Ergebnis erkennen ließen, war Leo auf der Seite der Mehrheit der Anwesenden, die einander mit Fassungslosigkeit oder gar Tränen in den Augen versicherten, »dafür« gewißlich nicht auf die Straße gegangen zu sein. Der Rotkäppchen-Sekt schmeckte bitter.

»Dafür bin ich nicht auf die Straße gegangen«, wurde zum halb erbost, halb scherzhaft vorgetragenen Kommentar Leos zu allen Ereignissen des Jahres 1990, bevor sich beide Teile Deutschlands im Herbst vereinten. Anne mochte ihn nicht darauf hinweisen, daß er sich in einer komfortablen Kieler Wohnung aufgehalten hatte, während andere mit Kerzen in den Händen und Angst im Herzen durch die Straßen Leipzigs, Dresdens oder Schwerins gezogen waren.

»Dafür bin ich nicht auf die Straße gegangen«, flüsterte Anne und rieb sich mit kalten Händen die kalten Arme. Nicht für diese verdammte Depression im Lande. Es stimmte ja – die deutsche Einheit brachte nicht für alle Vorteile. Die Ostdeutschen verloren alte Gewißheiten: den sicheren Arbeitsplatz, das gesicherte Auskommen und einen Staat, der sie einengte, aber dennoch voll väterlicher Fürsorge gewesen war. Die Westdeutschen mußten ein bißchen von ihrem Wohlstand aufgeben und entdeckten, daß sie auf einer Insel der Glückseligen gelebt hatten: Plötzlich zog es ganz empfindlich aus jener Himmelsrichtung, vor der einst der Eiserne Vorhang für Windstille gesorgt hatte. Aber die DDR-Nostalgie vieler Ostwie Westdeutscher verstand sie einfach nicht. Und Leos mißmutiges Beleidigtsein hatte schließlich den ersten richtigen großen Streit zwischen ihnen provoziert.

»Ich hätte uns eine Chance gewünscht«, hatte er eines Tages während des Abendessens gesagt. Anne sah ihn vor sich, wie er lustlos an seiner Lachsschnitte herumsäbelte.

Ihr habt sie doch, die Chance, hatte sie noch gedacht. Sie hatte seine Bemerkung nicht sonderlich ernst genommen. Und im übrigen: Wen meinte er eigentlich mit »ihr«?

»Statt dessen machen sie alles platt.« Wen meinte er mit »sie«? Anne erinnerte sich noch, wie verwundert sie gewesen war über die Bitterkeit in seiner Stimme. Nein, es ging nicht alles glatt mit der deutschen Einheit, das stimmte schon. Aber wo war die Alternative?

»An einen dritten Weg glaube ich nicht, Leo«, hatte sie damals gesagt. Unter diesem Namen hatten viele Intellektuelle nach der Wende nach einer Gegenwelt zu Kapitalismus und Sozialismus zugleich gesucht.

»Das ist Anschluß, was hier passiert.« Haß war in seiner Stimme gewesen. »Kolonialisierung. Der Triumph von Konsumismus und Egoismus über den letzten Versuch, Menschlichkeit zu leben.«

Menschlichkeit zu leben? In der DDR? Plötzlich war ihr, vielleicht zum ersten Mal in ihrer Ehe, der Kragen geplatzt.

»Du hast sie doch nicht mehr alle«, hatte sie ihn angezischt. »Willst du mir etwa die gute alte DDR als neue Utopie verkaufen?«

Er hatte sie mürrisch angesehen – er ist älter geworden, war ihr damals aufgefallen. Viel älter. Illusionsloser. Als ob ihm die Zukunft abhanden gekommen wäre.

»Findest du deine Ellenbogengesellschaft vielleicht besser?« hatte er zurückgezischt.

»Meine? Deine nicht?«

»Hier ist auch nicht alles Gold, was glänzt!« hatte er zurückgegeben.

»Und in der DDR war auch nicht alles schlecht, willst du damit wohl sagen, oder?« Dieser traurige Nostalgiker wollte Leo sein, ihr freiheitsbewußter Mann? Den der Staat rausgeschmissen hatte, dem er jetzt offenbar nachtrauerte? »Wegen der vielen menschlichen Wärme, ja? Und der Ganztagskindergärten?« Sie war damals ernstlich wütend geworden. An Leo hatte sich plötzlich entladen, was ihr schon lange die Freude über den Fall der Mauer vergällte: Sie hatte keine Lust mehr auf das Ossi-Gejammere, auf die DDR-Nostalgiker, auf die Sprüche vom »Plattmachen« und »Kolonialisieren«. Und auf die Arroganz, mit der man drüben glaubte, all die Jahre im moralisch besseren Deutschland gelebt zu haben.

»Es war nicht alles schlecht in der DDR«, hatte Leo spöttisch geantwortet, der offenbar ihre Wut noch anstacheln wollte.

»Dann waren alle DDR-Bürger dumm. Die haben nämlich den Westen ganz freiwillig gewählt – mitsamt der deutschen Mark, dem Billigflug nach Mallorca und dem Weißen Riesen«, hatte sie scharf gesagt.

»Freiwillig? Du meinst, von den westdeutschen Medien manipuliert?« Leo hatte sie, das hatte sie damals erschreckt registriert, fast mit Verachtung in den Augen angesehen. In diesem Moment hatte sie sich verzweifelt gefragt, was zwischen ihnen passiert war. So waren zwischen ihnen noch nie die Fetzen geflogen. Wieso führten sie sich wie Karikaturen von Ossi und Wessi auf, bewehrt mit allen Klischees, die das deutschdeutsche Verhältnis mittlerweile so ungemütlich machten?

»Leo«, hatte sie einlenkend gesagt und die Hand auf seine Hand gelegt. Er hatte sie weggezogen.

»Wir hätten eine Chance haben müssen«, hatte er mürrisch gesagt. »Unseren eigenen Weg gehen. Der unserer Identität entspricht.«

Schon war auch ihre Wut wieder dagewesen. »Weißt du, was dann passiert wäre?« Sie war schneidend gewesen. »Sie wären alle bei uns gelandet, deine nach Bescheidenheit und Herzlichkeit dürstenden Landsleute. Mitten in der Ellenbogengesellschaft. Innerhalb von drei Monaten hättet ihr euren dritten Weg in einer leergeräumten DDR allein ausprobieren können.«

»Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Euch wird der Brocken, den ihr geschluckt habt, schon wieder hochkommen. Und ich sage dir eins, Anne« – Leos Gesicht war plötzlich knallrot geworden, er schob seinen Teller von sich und den Stuhl so abrupt zurück, daß er mit Krachen umfiel. »Es wird euch nicht gelingen, sämtliche Träume der Menschheit abzuwickeln. Plattzumachen. Totzuschlagen.«

Anne hatte sprachlos dagesessen und zugesehen, wie er aus dem Zimmer stürmte. Wie immer untadelig gekleidet und rasiert. Und nach Hermès duftend. Der, den sie manchmal als den besseren Bundesbürger empfunden hatte, der sich dem Leben im Westen so durch und durch angepaßt hatte, träumte von untergegangenen Utopien. Anne hatte Trotz in sich hochsteigen fühlen. Natürlich lief vieles schief im Prozeß der deutschen Einheit. Sie wäre ja beschränkt, wenn ihr das nicht auffallen würde. Die Ostdeutschen insbesondere zahlten einen hohen Preis. Aber noch nie war sie so tief davon überzeugt gewesen, daß nur dies der richtige Weg war. Es gab keinen dritten.

Die Stimmung zwischen ihnen war lange gereizt geblieben. Leo reiste, war ständig unterwegs, noch öfter als sonst. Und war er einmal zu Hause, vermieden beide das Thema. Es war ja auch keins mehr: Die deutsche Einheit war vollzogen, Rebellion war zwecklos geworden.

Mehr als einmal war Anne aufgefallen, daß Leo Geld ausgab, viel Geld, das nicht von ihrem gemeinsamen Konto stammte. Und eigentlich, fand sie manchmal, ging es sie durchaus etwas an, wo und womit er seine Zeit verbrachte, wenn er nicht da war. »Was ist los mit euch beiden?« hatte sogar Rena sie einmal gefragt. »Nicht mehr viel«, wäre die wahrheitsgetreue Antwort gewesen. Aber auch das hatte sie damals nicht wahrnehmen wollen.

Um vier Uhr früh schlossen Rudolf und Werner die Tür zu Annes Hofladen auf. Sie hatten schon seit Jahren einen Schlüssel, damit sie ihre Jagdbeute noch in der Nacht unterbringen konnten. Rudolf schleppte ein Jungschwein, und Werner hatte in jeder Hand einen Hasen an den Ohren. Aus irgendeinem Grund steuerten beide die rechte Kühlkammer an, um Anne das frisch geschossene Wild auf den Haken zu hängen. Sonst hatten sie meist die linke genommen. »Das war Schicksal«, sagte der blonde Werner später immer wieder bedeutungsschwer in sein Bierglas. »Das war ganz klar Schicksal.«

»Ach du liebe Güte«, murmelte Rudolf, als er die Tür aufgeschlossen und entriegelt hatte und Anne sah, die an der Wand gegenüber der Tür hockte, über ihrem Kopf eine Reihe baumelnder Würste. Sie sah verheult aus und verfroren.

»Ach du liebes bißchen«, ergänzte Werner, ließ den Schweinekadaver fallen und zog seine Jacke aus. »Anne! Was machst denn du hier!« Er legte Anne die Jacke um die Schultern und half ihr hoch.

»Du mußt ja halb erfroren sein!« sagte Rudolf.

»Nur halb«, antwortete sie mit belegter Stimme, fiel Rudolf um den Hals und fing an Werners Brust hemmungslos zu schluchzen an.

»Wir müssen sie ins Warme bringen«, flüsterte Werner über Annes Kopf hinweg, »ins Haus! Ein Bad einlaufen lassen! Einen Arzt holen!«

Rudolf nickte besorgt. »Gibt’s bei solchen Temperaturen schon Erfrierungen?«

»Glaub ich nicht. Vielleicht eine Unterkühlung – kommt darauf an, wie lange sie schon hier gesessen hat.«

Die beiden Jäger reichten sich die Hände zum Notsitz, auf dem sie Anne im Laufschritt hinüber ins Wohnhaus trugen. Annes Zähne schlugen heftig und hörbar aufeinander. Das war nicht nur die Kälte, dachte sie noch. Sondern der Schock, der jetzt endlich rausdurfte. Wie hinter einer Nebelwand hörte sie Dagobert heulen. Vage erinnerte sie sich, daß sie ihn in den Zwinger gesperrt hatte, gestern, vor langer, langer Zeit – in einer anderen Welt. Das war ganz offensichtlich ein Fehler gewesen.

Werner, der ehrenamtlich für das Malteser Hilfswerk arbeitete, glaubte sich auszukennen mit unterkühlten Personen. Während Rudolf in der Bibliothek das Kaminfeuer entzündete, in der Küche Wasser heiß machte und oben im Badezimmer die Wanne vollaufen ließ, packte Werner Anne aufs Sofa und in warme Decken.

»Was um Himmels willen war da los?« fragte Rudolf und hielt ihr einen Becher mit warmem Grog an die Lippen. »Was zum Teufel wolltest du in der Kühlkammer?« Erst nach ein, zwei Schlucken hatte sich Anne halbwegs im Griff und konnte ihre Geschichte erzählen. Es gab da, stellte sie fest, nicht viel zu berichten. Was ihr wie eine Ewigkeit erschienen war, ließ sich mühelos in zwei Sätzen unterbringen.

»Man hat mich eingesperrt. Gestern abend.«

Wer?

»Keine Ahnung.«

»Wir sollten die Polizei holen«, schlug Werner vor.

»Einen Arzt!« verbesserte ihn Rudolf.

»Nicht jetzt«, flüsterte Anne. »Bad. Bett.«

»Haben die Schweine was gestohlen?«

Werner folgte Annes Instruktionen und sah in ihrem Schreibsekretär nach. Scheckhefte und Geldkassette waren noch da.

»Soll ich Rena holen?« fragte Rudolf.

»Laß sie schlafen«, antwortete Anne müde. »Sie kann mir jetzt doch nicht helfen.«

Langsam kehrte die Wärme in ihren verfrorenen Körper zurück. Und mit der Wärme kam eine überströmende Dankbarkeit, eine tiefe Rührung beim Anblick der beiden Männer, die sie, so empfand es Anne, gerettet hatten. Sie wußte nicht, ob sie lachte oder weinte, jedenfalls schluchzte sie an Rudolfs Brust, der sie wie eine besonders leichte Last auf den Arm genommen hatte, um sie ins Bad zu bringen.

»Das ist der Schock«, flüsterte Werner beruhigend, während die beiden Männer sie geübt von Leggins, Unterhose und Sweatshirt befreiten, bevor sie ihr ins warme Wasser halfen.

»Ihr seid einfach großartig«, murmelte Anne und klammerte sich an Rudolfs Hand.

»Zu heiß?« fragte Werner. Unterkühlte Menschen, das hatte er gelernt, mußte man langsam wieder auf die richtige Temperatur bringen.

Anne verzog das Gesicht. »Es kribbelt«, sagte sie.

»Das ist schon in Ordnung«, beruhigte sie Werner. »Die Blutzirkulation normalisiert sich wieder.«

Anne öffnete die Augen. Weit weg, in großer Ferne sah sie verschwommen die Gesichter der beiden Männer, die besorgt auf sie heruntersahen.

»Geht’s?« fragte Werner.

»Alles klar?« sagte Rudolf. Anne nickte selig. Alles war gut. Erst als die beiden sie ins Bett gebracht, sich ein letztes Mal nach ihren Wünschen erkundigt hatten und gegangen waren, wich die wohlige Watte in ihrem Hirn einem Moment von Klarheit. Rena! Sie mußte sofort nach Rena sehen! Dann war der Gedanke auch schon weg. Anne schlief, tief, fest.

Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band

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