Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 32
KAREN STARK 1
ОглавлениеKaren Stark atmete pfeifend aus, hielt kurz inne und setzte dann das Gewicht behutsam ab. Sie war naßgeschwitzt unter dem T-Shirt und fühlte, wie die Muskeln ihrer Oberschenkel vibrierten. Ein weiterer Versuch war nicht mehr drin. Sie öffnete den Sitzgurt, trocknete sich mit dem Handtuch Nacken und Stirn ab und wischte aus alter Gewohnheit einmal über Sitz und Lehne der Kraftmaschine. Nicht schlecht, meine Liebe, dachte sie befriedigt.
Sie lächelte die kleine, schmale Frau entschuldigend an – Karen schätzte sie auf mindestens sechzig Jahre –, die mißbilligend zu ihr herübergeguckt hatte. Karen hatte gegen das ungeschriebene Gesetz des Trainingsstudios verstoßen, das Geräuschlosigkeit verordnete. Aber immerhin hatte sie nur laut ausgeatmet, nicht gestöhnt. Stöhner waren im Kraftraum die Pest. Männer mit kurzen Hosen auch, dachte Karen. Und all die, die mit schmerzverzerrtem Gesicht demonstrierten, wie hart sie arbeiteten. Völlig unnötig. Anstrengung war anstrengend. Aber keine Folter.
Die ältere Dame legte, wie Karen neugierig feststellte, ganz ordentlich was auf. Das gefiel ihr. Krafttraining, dachte sie mit Befriedigung, ist doch eine wunderbare Sache. Man kann es in jedem Alter tun und in jedem Zustand. Mit wenig Gewicht und mit sehr viel. Es tut gut und verbessert die Figur. Und es verlangt mitnichten nach engen Trikots und dekorativen Schweißbändern – Leggins und T-Shirt tun’s auch.
In ihrem Bekanntenkreis hielt man das, was Karen nun schon seit Jahren machte – zwei- bis dreimal die Woche, jeweils eine Dreiviertelstunde –, für verdächtig, gefährlich oder unnatürlich. Zuhälter polierten mit Krafttraining ihre durch Nichtstun lädierte Kondition auf. Bullen stemmten Gewichte – und die meisten Gefängnisinsassen passenderweise auch. Machos taten es, schwachsinnige Bodybuilder. Die Mafia. Aber eine Staatsanwältin?
Karen Stark sagte dazu nur noch selten etwas. Höchstens, daß Menschen mit gut ausgebildeten Muskeln mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit kriminell oder blöde seien wie Blondinen dumm. Im Grunde war Karen die Antwort egal. Wenn sie nicht regelmäßig trainierte, kriegte sie schlechte Laune.
Und die konnte sie nicht brauchen. Das Leben war kurz genug.
Heute morgen war noch nichts los auf den beiden Etagen des Trainingsstudios. Dafür tobte draußen um so mehr das Leben. Als Karen ihr Auto abgestellt hatte und zum Parkautomaten gelaufen war, war sie zwischen zwei junge Italiener geraten, die lautstark und heftig gestikulierend in ihre Handys schrien. Ob die miteinander telefonieren? dachte Karen kurz. Vielleicht sollte man das krisengeschüttelten Ehepaaren empfehlen: Wer nicht mehr miteinander redet, kann sich ja immer noch anrufen.
In dieser und den beiden Nebenstraßen war Frankfurts Little Italy. Hier standen verwegene, zerknitterte Eddie-Constantine-Replikanten im Trenchcoat und mit der dazugehörigen Kippe im Mundwinkel an den Straßenecken und alerte Jungmänner in mafiosen Zweireihern. Und drinnen waltete Mamma, in allen Variationen: Im »Cinque«, einer winzigen Hinterzimmerkneipe, stellte sie mittags die gleichen riesigen Portionen vor ihre Landsmänner wie vor deutsche Büromenschen. Bei »Vicenze« dirigierte sie die Küche mit lauter, rauchiger Stimme. Im vollgestopften Ecklädchen, in dem Karen ihren Espresso kaufte, war Mamma schon etwas älter und glich ihr schlechtes Deutsch mit überströmender Herzlichkeit aus. Im Laden in der Parallelstraße war sie jung, vielsprachig und schön. Aber man wußte genau, wie sie in fünf Jahren aussehen würde: wie Mamma eben.
Während der Fußballeuropameisterschaft im letzten Sommer hatten die Fans Straßen und Nebenstraßen von Little Italy in den italienischen Nationalfarben beflaggt. Bei »Vicenze« hatte man, um den entscheidenden Wettkampf stilvoll und luftgekühlt beobachten zu können, den Fernseher ins Fenster gestellt und die Stühle auf die Straße. Wer mit dem Auto passieren wollte, wie die wenig fußballinteressierte Karen auf dem Weg zum Trainingsstudio, wurde formvollendet um Geduld gebeten, während die Stühle aus der Fahrgasse geräumt wurden, und dann mit ausladenden Handbewegungen und strahlendem Lächeln durchgewunken. Danach nahm man wieder Platz, mitten auf der Straße, und kommentierte lautstark den Spielverlauf. Ohne die Italiener, hatte Karen damals gedacht, würden die Frankfurter Kneipenwirte noch heute bis Pfingsten warten, bevor sie die Tische und Stühle nach draußen stellen.
Von Idylle konnte allerdings in dieser Ecke hinter dem Frankfurter Hauptbahnhof nicht die Rede sein. Dafür sorgten schon die ausgemergelten Gestalten, die sich, an eine Hauswand gelehnt oder auf dem Bordstein sitzend, die Spritze setzten. Karen machte es Mühe, bei diesem Anblick wegzugucken. »Du bist nicht im Dienst«, hatte sie sich heute morgen zugeredet. Die Staatsanwältin Stark mußte Drogenmißbrauch verfolgen. Die Privatperson Karen Stark plädierte für die Freigabe von Drogen. Nicht aus Mitleid mit den Süchtigen. Sondern weil leicht auszurechnen war, daß das Elend sich fortsetzen mußte, solange mit den Gewinnen aus dem Drogenhandel ganze Bürgerkriege finanziert werden konnten.
Die ansässigen Geschäfte und Kleinunternehmen – griechische Pelzhändler, deutsche Uniformschneider und italienische Lebensmittelimporteure – bezahlten wegen der Drogenszene uniformierte Wachmänner. »Ich versteh euch ja«, hatte sie Vetter, dem Leiter des Trainingsstudios, ihre professionellen Einwände gegen die Hilfssheriffs einmal zu erklären versucht. »Aber ich will das Gewaltmonopol des Staates nicht durch Selbstjustiz gefährdet sehen. Und wir brauchen eine Polizei, die allen verpflichtet ist.« Vetter hatte etwas von »Verantwortung der Bürger fürs Gemeinwesen« geantwortet. Karen sollte das recht sein – solange es nicht als Vorwand zum präventiven Lynchen diente. Oder friedliche Nachbarn in Blockwarte und Spitzel verwandelte.
Das hatten wir alles schon mal, dachte sie. Und daß viele, die heute bei privaten Wachdiensten im Westen arbeiteten, früher im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes der DDR ihre Mitbürger bespitzelten, schmälerte ihr Mißtrauen auch nicht gerade. Karen Stark hatte – nicht nur berufsbedingt, glaubte sie – erheblich mehr Vertrauen in einen bundesrepublikanischen Polizisten als in rechtsradikale Hilfssheriffs oder oberflächlich gewendete ehemalige Mitarbeiter einer Diktatur.
Und das ist doch wohl verständlich, oder? dachte sie beim Anblick zweier dieser Burschen, die zur Tür hereingekommen waren. Die Kerle trugen paramilitärische Uniformen mit verwegen drapierten Baretts auf dem Kopf und ließen unter der kurzen Lederjacke Handschellen sehen, die am Hosengürtel hingen. Sie kamen regelmäßig vorbei und grüßten dann zu Vetter oder Henry oder Alf hinüber, den Trainern, die ebenso rituell »Alles klar!« zurückriefen. »Aber wenn es dem Sicherheitsempfinden dient ...« Insbesondere die Frauen ängstigte die Umgebung, in der das Studio lag. Vor drei Tagen erst hatte Karen eine Frau im Umkleideraum über die Wahrscheinlichkeit, zum Gewaltopfer zu werden, zu beruhigen versucht. »Für Frauen in unserem Alter interessieren die sich nicht mehr«, hatte sie gesagt. Das war zwar statistisch richtig, aber nicht sonderlich höflich ausgedrückt.
Die beiden Wachmänner hatten im Grunde nichts zu tun – außer irgendwie abschreckend zu wirken. Fast taten sie ihr leid, wenn sie sich im Hof hinter dem Studio auf das Sims vor einem der großen Fenster setzten, eine heimliche Zigarette rauchten und einander von Lebensträumen erzählten, denen Karen keine große Chance gab. Zum Film wollte der eine. Von einer Hundeschule träumte der andere. Auf die Übernahme in den regulären Polizeidienst spekulierte ein dritter. War das Kippfenster geöffnet, hörte Karen jedes Wort, das die Uniformierten wechselten.
Karen war jetzt fast allein auf der unteren Etage des Trainingsstudios. Die ältere Dame war gegangen, die beiden schwatzenden Frauen (undisziplinierte Gänse, hatte Karen unwillig gedacht) hatten ebenfalls ihren Rundgang durch den Maschinenpark absolviert. Karen Stark hielt nichts von halbherzigen Bemühungen um körperliche Fitneß. Paul Bremer hatte das mal spöttisch ihren unerbittlichen Willen zur Leistung genannt. »Ich unterwerfe mich lediglich dem Gesetz des Hantelns«, hatte sie grinsend geantwortet.
Der Mann hinter ihr setzte das Gewicht hart und geräuschvoll ab. Jetzt war es Karen, die tadelnd guckte. Stöhnen war im Kraftraum nicht erlaubt – und das Gewicht, das man gehoben hatte, sollte man gefälligst auch wieder geräuschlos ablegen können. Mit scharfem Blick kontrollierte sie, wieviel der Angeber aufgelegt hatte. Nicht schlecht, dachte sie überrascht und blickte auf. Der Mann grinste sie belustigt an, hob die Schultern und breitete die Arme mit geöffneten Handflächen aus. Karen lächelte zurück. Einem Mann mit guter Muskulatur verzieh sie so manches.
Der Mann legte auch beim Bankdrücken ein imponierend hohes Gewicht auf. Karen mußte sich bremsen, um ihm nicht allzu neugierig zuzusehen. Er sah nicht wie ein Kraftprotz aus, er war schlank, fast zierlich. Sie registrierte kurze, dunkelblonde Haare, hellbraune Augen, sanft gebräunte Haut, Haut, unter der sich jeder Muskelstrang abbildete. Keine dieser üppigen, fülligen Muskelwälle, wie sie bei Schwarzenegger-Anhängern beliebt waren. Ihr gefiel der Typ.
Irgendwo, dachte sie plötzlich, habe ich den Kerl schon mal gesehen. Der Kerl schob nun schon zum fünften Mal mit entrücktem Blick und in stoischer Ruhe das gewaltige Gewicht bis in Augenhöhe vor. Die Ärmel seines weiten T-Shirts waren zurückgefallen. Auf dem rechten Unterarm trug er ein dunkelblaues, etwa fünfmarkstückgroßes, kreisförmiges Mal. Ein Muttermal? Ein blauer Fleck? Eine Tätowierung? Auch das hatte sie schon mal gesehen. Sie wußte nur nicht mehr, wo.