Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 26

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Paul Bremer legte die Strecke zum Weiherhof in Rekordgeschwindigkeit zurück. Der Anblick der rauchenden und stinkenden Ruine schockierte ihn. Krysztof, der mit dem Trecker heruntergefallene Balken und Dachsparren aus dem Weg räumte, grüßte ihn. Der Pole hob vielsagend die Schultern, wiegte den Kopf und deutete mit dem Daumen hinter sich – zum großen Pferdestall, der, was Paul beruhigte, anscheinend nichts abbekommen hatte.

In der ersten Box vorn rechts traf er auf die sichtlich mitgenommene Daniela, eine Dreizehnjährige, die zwei –, dreimal die Woche zum Stalldienst kam. Daniela sparte auf ein eigenes Pferd. Bis es soweit war, versorgte sie Killroy, den Palomino-Wallach, den sie als Belohnung für den Stalldienst reiten durfte. Daniela hatte ein Kehrblech mit Pferdeäpfeln in der Hand, die sie aus dem Stroh geklaubt hatte, und schob, auf dem Weg zur Schubkarre, wahrscheinlich zum zigsten Mal das große Pferd zur Seite, das sich begeistert an der Suche nach Pferdeäpfeln beteiligte, indem es mit dem Huf das Stroh zerwühlte.

»Na, alles klar?« fragte Paul. Daniela strich sich die dunkle Haarsträhne aus der Stirn. »Ich bin so froh, daß Killroy nichts passiert ist.«

»Und den anderen natürlich«, fügte sie schnell hinzu, erschrocken über ihre Selbstsucht.

Aus der dritten Box links empfing ihn ein tiefes, grollendes Knurren. Dagobert verteidigte mit gesträubtem Nackenhaar den Zugang zu Anne, die auf dem Balken neben Bucephalus saß, dem Araber, dem Tier mit dem großen Namen, dem Pferd, an dem sie am meisten hing.

»Ich mußte Dagobert von der Kette nehmen, es hätte ihn sonst erwischt. Und jetzt bringe ich es nicht über mich, ihn wieder einzusperren«, erklärte Anne und zog den großen schwarzen Hund liebevoll am Ohr. »Ich hoffe, daß diese eindrucksvolle Verteidigungsbereitschaft irgendwann mal etwas nachläßt – Sammy jedenfalls hat sich in irgendeine Ecke verkrochen und ward nicht mehr gesehen.«

»Das schadet dem verwöhnten Kerl gar nicht, mal Platz für einen aus der hart arbeitenden Hundeplebs machen zu müssen«, fand Paul.

Dagobert knurrte noch immer, obwohl Anne ihm beruhigend zuredete. Paul beschloß, lieber draußen vor dem Gatter stehen zu bleiben, als sich auf die Auseinandersetzung mit einem Tier einzulassen, dessen Zuneigung nur einem einzigen Menschen galt.

Er legte die Arme auf den Balken und schaute sie an. »Und? Wie schlimm ist es, alles in allem?«

Anne fuhr Butz durch die seidige Mähne und klopfte ihm den Hals, unter dessen dünner Haut sich die Adern abzeichneten. »Hätte wahrscheinlich schlimmer kommen können.« Ihre Stimme klang gefaßt.

»Die alte Hella hat’s erwischt. Der Ziegenbock ist vorhin zurückgekommen, die Ponys hat Krysztof eingefangen. Das Hängebauchschwein fehlt noch.«

»Ich hatte gehofft, man würde dich verschonen«, sagte Bremer leise.

»Schön wär’s gewesen.« Anne flocht geistesabwesend Zöpfchen in die Mähne des Arabers.

»Aber was ziemlich furchtbar ist ...« Anne schluckte. »Die alte Hella war schon vorher tot.«

Sie begriff erst langsam, was das bedeutete. »Die Polizei war hier. Ich hätte es sonst erst gemerkt, wenn der Abdecker gekommen wäre.«

Die Stute war an den Hinterbeinen gefesselt gewesen. Der Täter hatte ihr die Genitalien zerschnitten und den Bauch aufgeschlitzt.

Annes Stimme klang angestrengt. »Rena ist völlig aufgelöst und nicht mehr ansprechbar.«

Bremer hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Aber das war ja wohl nicht angesagt. Schon weil der Hund ihn nicht aus den Augen ließ.

»Es ist ein Fluch«, sagte Anne plötzlich. »Es liegt ein Fluch auf diesem Hof.« Ihre Stimme war plötzlich seltsam hoch und gepreßt.

Jetzt dreht sie durch, dachte Paul. Den Gedanken mußte man ihm überdeutlich angesehen haben, denn Anne lachte, verschluckte sich und hustete. »Nein, Paul, mach dir keine Sorgen, ich bin völlig bei Verstand. Es ist nur ...« Sie stockte.

»Klar, es ist ein bißchen viel auf einmal«, sagte Paul verständnisvoll.

Anne nickte. Wahrscheinlich. Aber das war es nicht.

»Man kann der Vergangenheit nicht entkommen«, sagte sie lahm und dachte dabei: Ich muß es ihm erzählen. Ich muß es irgend jemandem erzählen. Wenn sie jetzt nichts sagte, würde es irgendwann aus ihr herausplatzen. Wie eine dunkle schwarze Fliegenwolke.

»Die Geschichte ist lang, Paul«, sagte sie und schaute ihm in die Augen.

»Macht nichts. Ich habe Zeit.«

»Und ich weiß nicht, ob ich sie auch zu Ende erzählen kann –« Bestimmt nicht, dachte sie. Niemals.

»Versuch es doch einfach«, sagte Paul. Anne legte ihre Hand auf die Hinterbacke von Bucephalus, der ihr ungerührt den Rücken zugedreht hatte, und holte Luft.

»Ich war mal was Besseres«, sagte sie leise. »Ich fing an als feindlich-negatives Element. Als revanchistische Hetzerin. Asozial, staatsfeindlich und antisowjetisch. Und habe dann Karriere gemacht – als operativ bedeutsame Person, als wichtige Quelle, die abgeschöpft werden mußte. Um mich haben sich mindestens vier verdiente Männer persönlich bemüht – sehr persönlich, zum Teil. Und meinen Platz im Pantheon habe ich schon zu Lebzeiten eingenommen. In Gestalt von vielleicht einem bis zwei Metern Akte – ich hab’s nicht nachgemessen. Soviel jedenfalls ist übriggeblieben. Vom operativen Vorgang Anne Burau. In der Gauck-Behörde.«

»Eine Stasi-Akte?« Paul war überrascht. Das also war die Verbindung zur DDR ...

Anne lachte freudlos. »Guck bitte etwas begeisterter, Paul. Das hat nicht jeder!« Sie lehnte sich gegen ihr Pferd, das sein Maul in die Futtertraufe gesteckt hatte und gemütlich malmte, und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

»Nur DDR-Bürger haben eine Stasi-Akte, dachte ich immer«, meinte Paul. »Oder wichtige Personen des öffentlichen Lebens der BRD.«

»Was ich natürlich nicht war«, sagte Anne, »damals, Anfang der 8oer Jahre. Ich war ein völlig unbeschriebenes Blatt, ein bißchen naiv, eine Idealistin, eine Weltverbesserin. Und sehr, sehr engagiert: in der Friedensbewegung.«

Paul guckte sie erstaunt an.

»Das hättest du mir nicht zugetraut, oder?«

Paul lachte. In der Tat nicht. Anne bei Mahnwachen und Sitzblockaden? Anne in einer gelben Regenjacke, mit einem Palästinensertuch um den Hals und Kerzen in der Hand? »Mein Ding war das nicht«, sagte er. »Diese organisierte Massenhysterie.«

Aber was war schon sein Ding gewesen, damals? Plötzlich sah er Anne vor sich: vierzehn, fünfzehn Jahre jünger. Weicher. Ohne die Härte in der Stimme. Ohne die Unnachgiebigkeit gegen sich selbst. Nicht so verdammt desillusioniert. Unverletzt. Jünger und idealistischer, als er jemals gewesen war.

»Du hast ja recht: heute ist das kaum noch nachvollziehbar. Wie alle damals den Dritten Weltkrieg kommen sahen. Die große Blockkonfrontation. Ost gegen West. Und Deutschland als Aufmarschgebiet.«

»Alle? Ich habe damals um den Werbeetat einer großen Zigarettenmarke gekämpft. Das war mein Fronterlebnis!« Er war, während Anne die Welt zu retten glaubte, auf dem besten Weg zum Zyniker gewesen.

»Ich fand Mutlangen großartig«, sagte Anne mit leichtem Trotz in der Stimme. Sie hatte das Gefühl, daß Paul sie nicht ganz ernst nahm. »Und am großartigsten war Petra Kelly – erinnerst du dich? Wie sie sich vor dem Staatsratsgebäude in Ostberlin angekettet hat, auf der Brust die Parole der Friedensbewegung der DDR: ›Schwerter zu Pflugscharen‹?«

Paul erinnerte sich gut. Medienpolitisch (werbestrategisch, um genau zu sein) war die Aktion einfach brillant gewesen: Die Bilder gingen um die Welt. So etwas wirkte besser als jedes Argument.

»Die DDR hat zwar die westdeutsche Friedensbewegung unterstützt, aber die eigene Friedensbewegung unterdrückt. Frieden aber kann man nicht nur von der einen Seite fordern – man muß ihn auch der anderen Seite abverlangen.« Anne klopfte ihrem Pferd geistesabwesend auf den Hintern. Diese Kompromißlosigkeit hatte sie damals für die Sache gewonnen.

»Ich habe der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ in Ostberlin zugearbeitet. Habe Pamphlete, Bücher, Papiere geschmuggelt. Illegale Radiosendungen organisieren geholfen. Kontakte gemacht, Spenden gesammelt. Die westdeutschen Medien informiert.« Es war, dachte sie oft, die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. In Kiel, trotz – oder vielleicht wegen? – des permanenten Flügelstreits in ihrer Partei. Und in Westberlin, wo sie in einer Wohngemeinschaft übernachtete, wenn man Aktionen mit den Ostberlinern plante.

Paul bewunderte ihren Mut. Ganz ungefährlich konnte das nicht gewesen sein. »Ich habe meiner Mutter die Päckchen nach drüben zum Postamt gebracht«, sagte er selbstironisch. »Mit dem guten Bohnenkaffee. Und der Seife mit den zwei Buchstaben.«

»Es gibt doch nüscht!« hatte seine Großmutter immer gesagt, die einmal im Jahr aus der »Zone« zu Besuch in den »Westen« kam. Und »Geh doch nach drüben, wenn es dir hier nicht paßt!« hatte sein Vater gebrüllt, wenn der Sohn aufzumucken wagte. Für Paul war die DDR ein unwirklicher Ort gewesen, ein Land voll schlechter Laune und mit einer bemerkenswerten Unterproduktion von Rasiercreme und Jeans.

Anne sah ihn ernst an. »Ich zweifle manchmal an unserem damaligen Mut. Rena war gerade vier Jahre alt – bei Freunden in Kiel untergebracht, wenn ich unterwegs war. Ich habe keinen Gedanken darauf verschwendet, was aus dem Kind geworden wäre, wenn man mich erwischt und eingebuchtet hätte.« Sie schüttelte sich. »Wir Westdeutschen haben uns überhaupt nicht klargemacht, wie riskant das war, eine Diktatur zum Abenteuerspielplatz zu machen. Und wie leicht wir unsere ostdeutschen Freunde gefährden konnten. Wir hatten Spaß. Und konnten uns auch noch einbilden, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen.«

In der Ostberliner Dissidentenszene organisierte man seine konspirativen Treffen nach Art einer ununterbrochenen Party – jede Woche traf man sich in einer anderen Privatwohnung. Bei Frank Mathes ging es am engsten, aber meist am fröhlichsten zu. Er wohnte in einer Neubauwohnung mit DDR-spezifischem Heizungssystem: Es war immer zu heiß, weil sich die Wärme nicht drosseln ließ, weshalb auch im Winter mindestens ein Fenster stets weit offen stand.

»Auf einer dieser zahllosen Partys bei Frank Mathes habe ich später Leo kennengelernt. Auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die Friedens- und Umweltbewegung. Die Prominenz war schon ausgewiesen, andere saßen im Knast.« Anne erinnerte sich genau an diesen Abend: an die trotzige, von Galgenhumor geprägte Stimmung. »Wir tranken Radeberger, rauchten mitgebrachte Westzigaretten, redeten über Thomas Mann, das neueste Buch von Wolfgang Hilbig oder Christa Wolf oder Christoph Hein und spekulierten, wer als nächster das Land würde verlassen müssen. Irgend jemand las aus den eigenen Werken vor. Später am Abend griff Leo zur Gitarre und sang. Er sang«, sagte sie mit plötzlicher Bitterkeit in der Stimme, »nicht schlecht.« Frauen, dachte sie, haben sich immer schon in Barden, Troubadoure und in Liedermacher verliebt. Oder in Boy-Groups. Das mußte eine angeborene Schwäche sein.

Paul sagte nichts. Er hatte Sibylle bei einer Vernissage kennengelernt. Und gesungen hatte nur einer: der Künstler selbst. Als der Sekt schon lange alle war und irgend jemand begonnen hatte, Whisky auszuschenken.

»Leo war das Klischee eines Ostberliner Dissidenten«, sagte Anne. »Die Haare lang, ausgefranster Vollbart, rotkariertes Hemd, Jesuslatschen.« Sie sah zu Paul hinüber, dessen Gesichtsausdruck erkennen ließ, daß ihm solche Leute und diese Szene gründlich fremd waren. Er hätte das wahrscheinlich nie verstanden: daß sie Leo trotz seiner Verkleidung umwerfend fand. Humorvoll und witzig und ungeheuer gutaussehend. Und daß sie sich, während sie sich stundenlang über den Sozialismus unterhielten, über das Ideal, nicht die Realität – und darüber, daß man Marx wieder völlig neu lesen müsse –, und über den »dritten Weg« und über die Frauenbewegung – im Grunde nur eines mitgeteilt hatten: »Ich will mit dir ins Bett.«

Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich losgerissen – sie mußte vor Mitternacht die Hauptstadt der DDR in Richtung Westberlin wieder verlassen haben. Leo hatte sie begleitet. Fast eine Stunde lang waren sie in der kühlen Frühlingsluft durch das spärlich beleuchtete Ostberlin gelaufen.

»Vor allem hörte er zu«, sagte Anne und seufzte und zupfte sich zwei Strohhalme vom Hosenbein. »Er hörte sehr gut zu. Er war der allerbeste Zuhörer, den ich je gekannt habe.«

Beinahe hätte Paul laut gelacht. Das hatte Sibylle auch gesagt, über ihn. Zu Anfang ihrer Beziehung, als sie ihn noch für ein sensibles und lernfähiges Exemplar seiner Gattung gehalten hatte. »Das ist alles Technik, Anne«, hätte er ihr am liebsten gesagt. »Den Frauen in die Augen sehen, ab und an nikken, an dramatischen Stellen ihre Hand ergreifen. Und insgeheim an die neue Kollegin, die Bürointrige und den eigenen Etat denken.« Frauen wollten, daß man sie reden ließ. Mehr nicht. Und Gott sei Dank redete endlich auch Anne.

»Ich bin schon am nächsten Wochenende wieder nach Ostberlin gefahren. So fing das an, meine Geschichte mit Leo«, sagte Anne leise. Sie sah Bremer nicht an. Er würde das nie begreifen, glaubte sie fest, was sie so verzaubert hatte in den ersten Monaten mit Leo Matern.

Voller Unruhe hatte sie sich damals, am Samstagmorgen um fünf Uhr, in ihren verrosteten R 4 gesetzt, mit dem es kein Kunststück war, die von der Vopo streng überwachte Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Transitautobahn nach Westberlin einzuhalten. Leo wollte sie am Bahnhof Friedrichstraße abholen, durch den sie sich als »BRD«-Bürgerin bei jedem ihrer Besuche quälen mußte. Er wartete schon, als sie endlich aus dem stickigen Bahnhof heraus war. Sie hatte es geschafft, die kleinen Machtdemonstrationen der Grenzbeamten über sich ergehen zu lassen, ohne Widerworte zu geben: Man mußte die Brille absetzen und die Haare hinters Ohr streichen, damit die Ohrläppchen sichtbar waren, sich lange und intensiv mustern und auf das Verfallsdatum des Ausweises hinweisen lassen.

Und dann waren sie mit seinem Auto durch die Stadt gefahren, durch das heruntergekommene Ostberlin, das in der Frühjahrssonne stündlich schöner wurde. Sie hatten die Fenster von Leos »Rennpappe«, wie er seinen bronchitischen Trabant nannte, weit geöffnet, und Anne genoß lachend die harte Federung, die jede der unzähligen Unebenheiten der schlecht geflickten und oft noch kopfsteingepflasterten Straßen auf die Wageninsassen übertrug. Hatte Leo ihr übelgenommen, daß sie die Unvollkommenheiten seines Fortbewegungsmittels genoß, wie ein Kind den Bollerwagen? Sein Gesicht hatte nichts verraten. Oder hatte sie doch einen verächtlichen Blick gesehen, als sie lachend bemerkte: »Und dafür habt ihr jahrelang Schlange gestanden?«

»Jemals mit einem Trabi gefahren, Paul?« fragte sie verträumt. Paul grinste zurück. »Bei mir passierte es in einem himmelblauen VW-Käfer, Anne.« Danach in einer weichgefederten Ente, bei heruntergerolltem Verdeck. Später in einem Golf. Und einmal, auf dem Höhepunkt dessen, was er seine Yuppie-Phase nannte, in einem Porsche. »Von Sportwagen rate ich ab«, sagte er und lehnte sich an das Gatter, das ihn von Anne, dem Pferd und dem Hund trennte. Dagobert hatte sich ins Stroh gelegt, öffnete aber sofort ein mißtrauisches Auge, als Paul sich bewegte.

Anne lachte schallend auf. »Paul, du hast eine schmutzige Phantasie. Nein, im Trabant ist es natürlich nicht passiert. Um Himmels willen.« »Es« war in dem passiert, was Leo seine »Datsche« nannte, eine Hütte in einem handtuchschmalen Schrebergarten.

»Und die Details gehen dich eigentlich auch nichts an.« Anne merkte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. Du kannst doch einem Verehrer nicht von den alten Bettgeschichten mit einem anderen Mann vorschwärmen, ermahnte sie sich. Insbesondere nicht von diesem hier – und vor allem nicht von diesem ersten Mal, an das sie sich genau erinnerte, an jedes Detail. An den lauwarmen Rotkäppchensekt, den er geöffnet hatte, ein scheußliches Zeug, das sie damals himmlisch fand. An die Bank vor der Tür, auf der sie sich das erste Mal geküßt hatten. An die Art, wie er sich sein Hemd über den Kopf zog. Wie er sie berührte. Mit welcher Geduld er auf sie wartete. »Wir haben doch nach Feierabend nichts Besseres zu tun«, hatte er lachend ihre zärtlichen Komplimente kommentiert.

Will ich das jetzt alles wirklich so genau wissen? dachte Bremer und betrachtete sie nachdenklich. Er glaubte ihr anzusehen, daß sie ihn noch immer liebte, ihren Leo. Sie hatte gerötete Wangen. Und glänzende Augen. Einmal so geliebt werden, dachte Paul. Und: einmal so lieben.

Sibylle und er: Nun, man paßte zueinander, das fanden alle. Man hatte sich verständigt. Man hatte die gleichen Interessen. Aber geliebt? Geliebt hatte er sie erst, als sie für ihn verloren war. Soweit er wußte, war das der sozusagen klassische Gemütszustand des männlichen Neurotikers. Er sah Anne an und atmete einmal tief ein. »Erzähl ruhig, Anne«, sagte er.

Sie sah ihn nicht an. Nein, sie konnte ihm das nicht erzählen. Nicht, daß sie Wochenende für Wochenende nach Berlin gefahren war – keineswegs, um Leute aus der DDR-Friedensszene zu treffen oder gemeinsame Aktionen zu planen oder wenigstens an den Partys am Prenzlauer Berg teilzunehmen. Sondern um Leo zu sehen.

Er habe keine Lust, sie mit anderen zu teilen, hatte Leo behauptet. Also machten sie endlose Spaziergänge und liebten sich in seiner Gartenhütte – ebenso endlos, wie ihr schien. Verliebte brauchen selten mehr.

Manchmal fiel ihr auf, wie wenig er von sich erzählte. Manchmal fragte sie sich, wo er wohl hinging, wenn sie um Mitternacht über die Grenze mußte. Manchmal wunderte sie sich, daß sie noch nicht einmal wußte, wo er wohnte. Manchmal verdächtigte sie ihn, eine andere zu haben. Oft sorgte sie sich um ihn, wenn wieder einmal eine Aktion der Berliner Dissidentenszene aufflog oder mit Verhaftungen endete.

»Es war ein sehr heißer, ein sehr intensiver Sommer, Paul«, sagte sie schließlich. »Ich habe meinen ganzen Idealismus, die Politik, die Moral und die Friedensbewegung sausenlassen. Für einen Mann.«

»War das eine so schlechte Idee?« Er, dachte Bremer, hatte es wesentlich weniger geschickt angestellt: Er hatte seine Frau sausenlassen. Für ein paar Gehaltsstufen mehr.

»Für einen Mann, über den ich im Grunde nichts wußte.«

Paul zuckte mit den Schultern. Er verstand nicht, warum sie sich plötzlich Selbstvorwürfe zu machen schien.

»Um mich herum wurden die Leute aus der Friedensbewegung terrorisiert, verhaftet, ausgewiesen – und ich habe nichts gemerkt!«

»Was hättest du denn merken sollen?« fragte Paul, im naiven Wunsch, sie gegen ihre eigenen Vorwürfe zu verteidigen. »Du warst verliebt!«

»Macht Liebe dumm?« fragte sie ihn zurück, mit einem leichten Zittern in der Stimme. Warum, zum Teufel, war er so begriffsstutzig?

»Manchmal«, sagte Paul. »Meistens.« Er betrachtete Anne, ihren gesenkten Kopf mit den zerzausten blonden Haaren, und seufzte innerlich auf. Keine Ahnung, was er jetzt schon wieder falsch gemacht hatte. Aber er spürte, wie sie sich wieder verschloß.

Anne streichelte Dagobert, der zu ihren Füßen gelegen hatte und sich nun streckte, gähnte und sich erwartungsvoll aufrichtete. Ihr war kalt geworden.

»Paul«, sagte sie und sah ihn nicht an. Aber er begriff auch so.

»Laß dir Zeit«, sagte er, mit trockenem Mund.

»Mach’s gut«, sagte sie. Und: »Ich meld mich bei dir.«

Er verließ den Weiherhof, ohne auf den braunen, zerbeulten Jeep zu achten, der von der Straße her in den Feldweg einbog. Fast wäre er ihm zu spät ausgewichen. Der »Flug des Falken« war offenbar doch noch nicht auf dem Schrottplatz gelandet. Der Anblick der lädierten Kiste ärgerte ihn. Unter normalen Umständen wäre er zurückgekehrt, um endlich herauszufinden, wer Anne da zu jeder Tages- und Nachtzeit besuchen durfte. Aber was war schon normal an seiner Beziehung zu ihr?

Anne gab ihm Rätsel auf. Sie hatte alle wichtigen Fragen ausgespart: zum Beispiel, warum ihr Weg sie von Kiel und Ostberlin ausgerechnet in die tiefste hessische Provinz geführt hatte. Was sie mit Leo verband. Und was sie einander entfremdet hatte. Warum eine junge Friedensaktivistin für die Stasi interessant war. Und warum sie sich Selbstvorwürfe machte.

Paul ärgerte sich. Im Grunde hatte sie ihm wieder einmal gar nichts erzählt.

Anne, dachte er, war ihm nah. Und zugleich war sie ihm fremd. So fremd wie gelbe Regenjacken und Mahnwachen. So fremd wie die Szene, der sie sich damals zugehörig gefühlt hatte. So fremd wie die DDR, ein Land und ein politischer Zustand, die ihm immer herzlich gleichgültig gewesen waren. Er hatte sich in Frankfurt am Main am Nabel der Welt gefühlt. Weltläufig und aufgeklärt, realistisch, mit einem Schuß Zynismus. Heute mußte er zugeben, daß Anne eine etwas weniger kleinkarierte Sicht der globalen Situation gehabt hatte.

Sie hatte damals etwas riskiert. Mehr, als er sich je getraut hätte. Er hatte sich in all den Jahren für alles mögliche interessiert – für moderne Kunst, hohe Werbeetats und die neue Shimano-Fahrradschaltung. Nur nicht für Politik, schon gar nicht für die politische Lage jenseits des Eisernen Vorhangs. Das unterschied Anne und ihn voneinander – nicht gerade, wie Bremer sich schulterzuckend klarmachte, zu seinen Gunsten.

Paul Bremer fuhr in Klein-Roda ein. »Hier kommt der Mann von der Toscana-Fraktion«, sagte er laut. Vor seinem Haus kam ihm mit wehendem Schwanz Nachbar Müllers Berner Bello entgegen.

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