Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 35
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ОглавлениеKaren war mit Leidenschaft Staatsanwältin. Manche ihrer Freunde irritierte das. Meistens, fand sie, stand sie als Vertreterin des öffentlichen Interesses auf der richtigen Seite. Bei Kapitalverbrechen sowieso. Und ansonsten genoß sie, wie alle anderen Strafverteidiger auch, die Theatralik ihres Berufs. Sie inszenierte sich gern, das gab sogar sie selbst zu – zumal sie wußte, daß ihre Größe und ihre dunkle, tragende Stimme selten ihren Eindruck verfehlten: nicht auf Richter und Verteidiger. Und auf die Angeklagten sowieso nicht.
Die Beschuldigtenvorführung heute früh allerdings hatte sie tief deprimiert. Ein afghanischer Asylbewerber, dem eigenen Bekunden nach strenggläubiger Schiit, hatte seinen achtjährigen Sohn bestialisch umgebracht. Eine völlig unverständliche Tat, der Anlaß stand in keinem Verhältnis dazu: Der Junge hatte, trotz strenger Ermahnung, an einem hohen schiitischen Feiertag mit seinen Freunden die Frankfurter Dippemess’ besucht. Seine Frau, von der der Mann annahm, sie sei auf der Seite des Kindes, hatte er gefesselt und in ein Nebenzimmer eingesperrt, den Jungen hatte er auf die Couch geworfen, ihm einen Gürtel um den Hals gelegt und zugezogen. Der Beschuldigte war in vollem Umfang geständig. Karen hatte einen religiösen Fanatiker erwartet. Statt dessen traf sie auf einen verzweifelten und gebrochenen Mann, der offenkundig den völlig entgegengesetzten Forderungen, die Religion, Vaterrolle und das Leben in der westlichen Welt an ihn stellten, nicht gewachsen war.
Daß man, je länger man seinen Beruf ausübte, desto abgebrühter wurde, hielt Karen für ein Gerücht. Auf sie traf es nicht zu.
Auch sonst war es heute nicht ihr Tag gewesen. Der Kollege, dem sie den Entwurf ihrer Anklageschrift gegen den mutmaßlichen Mörder der drei Frankfurter Prostituierten zum Gegenlesen gegeben hatte, war heute nachmittag mit dem Schriftstück in der Hand in ihr Zimmer gekommen und hatte die Tür betont leise und betont nachdrücklich hinter sich zugemacht. Dieses hämische Schwein, dachte Karen, noch immer wütend. »Frau Kollegin«, hatte er mit sanfter Stimme gesagt und die Akte mit bedeutungsvollem Blick hochgehoben, bevor er sie vorsichtig wie ein rohes Ei auf Karens Schreibtisch hatte sinken lassen. »Ich glaube, Sie sollten sich die Sache noch einmal gut überlegen.« Er hatte mit den Knöcheln auf den Tisch geklopft und beim Hinausgehen süffisant hinzugefügt: »Und vielleicht noch einmal eine Nacht darüber schlafen.«
Karen mußte gar nicht lange nachdenken, geschweige denn eine ganze Nacht lang. Sie sah den Fehler auf Seite drei sofort. Ein krasser Anfängerfehler. Ein, fand die für ihren Perfektionismus berüchtigte Karen Stark, unverzeihlicher Fehler. Ihr stieg beim Gedanken daran das Blut ins Gesicht. Hastig hob sie das Weinglas und nahm einen tiefen Schluck. »Brauchst du Urlaub?« fragte sie sich beunruhigt. »Oder ist das die Midlife-crisis?«
Es war Freitag abend und noch nicht ganz dunkel. Karen saß allein am Fenster im Bistro des »Rabelais«, vor sich ein Glas Rheingauer Riesling und einen ausgedehnten Feierabend. Der neue Kollege war bereits gegangen, der die »sehr verehrte Frau Kollegin« endlich einmal kennenlernen wollte. Die Verehrung, die der junge Mann mit dem unschuldigen Gesicht und den abstehenden Ohren ihr entgegenbrachte, tröstete sie nicht über ihren Tag hinweg, im Gegenteil: Seine Bewunderung war ihr bald furchtbar auf den Wecker gegangen. Karen war froh, daß er sich früh verabschiedet hatte. Wahrscheinlich hätte er dir am liebsten über seine unglückliche Ehe erzählt. Oder sich mit dir über dieselbe hinweggetröstet, analysierte sie die kollegialen Bedürfnisse kühl. Sie interessierte beides nicht.
Draußen auf dem Weg, der am Park entlangführte, zog schon der fünfte Jogger in der letzten halben Stunde seine Bahn. Ihm hinterher ein vielleicht elfjähriger Junge, der auf seinen Rollerblades triumphierend an einem älteren Radfahrer vorbeirollte, der ihm diesen Triumph lächelnd gönnte. Unwillkürlich lächelte auch Karen. Wenigstens sah sie noch nicht alles durch den Filter ihrer schlechten Laune.
Jetzt war es endgültig dunkel, die ersten Abendgäste kamen. Alle gut erhaltenes Mittelalter, leger, aber teuer gekleidet. Leute, dachte Karen plötzlich mit einem Anflug von Widerwillen, wie man sie haufenweise in gutsortierten, kostspieligen Abfüllstationen wie dieser hier traf. Sie konnten sich alles leisten und hatten an nichts mehr richtig Spaß. Am Nebentisch hatte ein Mann schon seit einer Viertelstunde gewartet. Nicht auf die Liebste. Und auch nicht auf den Geliebten. Der Herr, der nun zu ihm stieß und sich lautstark entschuldigte für seine Verspätung, war von jener Sorte, von der es in Schuppen wie diesem nur so wimmelte: ein Geschäftsfreund.
Karen seufzte, arrangierte die Tischdekoration neu und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Was beklagst du dich, dachte sie deprimiert. Du gehörst doch dazu.
Als sie jung war, hatte ihr Traum vom Luxus so ausgesehen: allein an einem Tisch in einem eleganten Bistro irgendwo in Frankreich sitzen. Ein ganzes Menü bestellen – natürlich mit Nachtisch. Dazu eine halbe Flasche Wein trinken. Und, ultimativer Luxus, ein Buch dabei lesen. Ein erfüllter Traum ist ein Traum weniger, sagte sie sich. Mittlerweile stand keine halbe, sondern meist eine ganze Flasche auf ihrem Tisch, allein war sie viel zu oft, und ausgerechnet heute hatte sie ihr Buch im Büro liegengelassen.
Karen Stark war plötzlich der Männerwelt gründlich überdrüssig, in der sie sich Tag für Tag behauptete. Für solche Anwandlungen hast du genau den richtigen Beruf, dachte sie ironisch. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft war schließlich das angestammte Habitat der männlichen Spezies, wenn auch mittlerweile weit nach Flugzeugen, Gefängnissen und teuren Speisegaststätten. Aber Frauen sind auch nicht die besseren Menschen, gestand sie sich beim Anblick der zwei Damen ein, die, sorgfältig renoviert, zwei Tische weiter ihre Hamsterbäckchen im Akkord bewegten, weil Kauen und Klatschen auf einmal erledigt werden wollten. Zusammenfassend: Menschen insgesamt waren eigentlich unausstehlich. Und wenn sie ehrlich war: heute vor allem sie selbst.
Als sie in ihrer großen Handtasche nach dem Lippenstift kramte, um sich die Lippen nachzuziehen, fiel ihr der Briefumschlag wieder in die Hand, den sie noch schnell vom Schreibtisch genommen und eingesteckt hatte, bevor sie aus dem Büro gegangen war. Der Brief war heute mit Boten gekommen, aus Bad Moosbach, von Pauls Landpolizisten. Dieser Kosinski dürfte in Ordnung sein, dachte Karen flüchtig. Sie war von den meisten Untergebenen und vielen Polizisten gewohnt, daß sie sich ihr gegenüber immer erst mal profilieren mußten – vor allem die mit dem provinziellen Trotz gegen »die da oben« oder gar »die in Frankfurt«. Kosinski hingegen schien ihren Anruf vorgestern mittag ganz normal gefunden zu haben und hatte sie sogar von sich aus um ihren Rat gebeten.
»Mutter oder Tochter – beide könnten es gewesen sein«, hatte er zweifelnd gesagt. »Ein fremdes Auto ist nicht gesehen worden.« Selbst von den schlaflosen und notorisch wachsamen älteren Landbewohnern in der näheren Umgebung nicht.
»Aber daran glauben Sie wohl nicht?«
»Nicht so richtig.« Kosinski hatte gezögert.
»Obwohl Anne Burau einen hervorragenden Grund hat?«
»Schon. Aber sechs Jahre später?«
Karen hatte das auch nicht plausibel gefunden. Zumal Leo die ganze Zeit bei ihr gewohnt hatte. Was ihr, nebenbei, ein Rätsel war.
»Leo Matern war oft in Frankfurt.«
Das erweiterte das Spektrum natürlich immens. Es gab, mit anderen Worten, keine Spur.
»Ich würde Ihnen gerne etwas zuschicken, Frau Doktor Stark«, hatte Kosinski vorsichtig gesagt, »wenn Sie nichts dagegen haben. Dieser blaue, kreisrunde Stempel auf dem Hinterteil des Ermordeten –«
»Der Stempel von der Fleischbeschau?«
»Eben nicht. So etwas sieht ganz anders aus. Der Abdruck ist nicht von höchster Qualität, wäre ja auch ein Wunder. Aber es sind innerhalb des Kreises Zeichen zu erkennen.«
Das hatte Karen überrascht.
»Wenn Sie sich das mal ansehen möchten?«
Heute mittag hatte der Bote die Fotos vorbeigebracht. Karen zog sie aus dem Briefumschlag. Kreisrund, notierte sie automatisch im Kopf, etwa fünfmarkstückgroß. Blau, so eine Art Preußischblau. Drum herum eine Art Girlande. Innerhalb des Kreises Zeichen. Drei oder vier Zeichen. Es könnten auch Buchstaben sein. Karen kramte im vorderen Fach ihrer Tasche und fluchte leise. Sie hatte auch ihre Lupe auf dem Schreibtisch liegengelassen. »Ist das schon Alzheimer oder noch ganz normale Schusseligkeit?« fragte sie sich spitz. Das erste und das vorletzte Zeichen sahen ähnlich aus, waren vielleicht sogar identisch. Mehr konnte sie mit bloßem Auge nicht erkennen. Sie schob die Fotos in den Briefumschlag zurück.
Das runde Mal erinnerte sie an etwas. Aber an was?
Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und verschob das Denken auf morgen.