Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 34

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Paul wachte am anderen Morgen mit einem Gefühl auf, das ihn an die schlimmsten Zeiten seines Lebens erinnerte. Es war dieses ziehende Gefühl in der Magengrube, dieses Gefühl, gleich würde der Boden unter einem wegbrechen – das Gefühl, das er vor dem mündlichen Abitur hatte. Vor der Abnahme der größten Werbekampagne, für die er in der Agentur zuständig gewesen war. Vor der Begegnung mit Sibylle, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. »Versagensangst«, bescheinigte er sich. »Du warst ein Esel. Und du weißt es auch.«

In der wenig anheimelnden Frankfurter Wohngemeinschaftsküche machte er sich eine Kanne Tee und wählte Annes Nummer. Es war kurz nach neun, sie war bestimmt schon auf, vielleicht im Hofladen, vielleicht noch im Haus. Vielleicht ging auch Rena an den Apparat. Wieder ließ er es lange klingeln. Und versuchte es gleich noch einmal. Wieder antwortete niemand.

Paul merkte, wie sich eine dunkle Wolke in seinem Kopf zusammenzog. Er rief Karen an. Es war Freitag früh, sie mußte eigentlich im Büro sein. Niemand meldete sich. War sie zu Hause? Dort erwischte er nur ihren Anrufbeantworter. »Ich muß mit dir reden«, sagte er leise und hörte noch, wie das Band sich abschaltete. »Du hattest recht«, hatte er eigentlich noch hinzufügen wollen.

Er ließ seinen Tee stehen, holte die schwarze Lederjacke aus dem Schrank und zog die Wohnungstür hinter sich zu. »Bremer, du hast verloren«, sagte es in seinem Kopf. Und: »Schon wieder.« Und: »Gewöhn dich doch einfach daran.«

Paul bog in den Oederweg ein, ohne viel wahrzunehmen von der Stadt. Der Himmel war verhangen, das Weinlaub an dem schönen alten Eckhaus leuchtete glühendrot, die meisten Passanten hatten es eilig. Der Eschenheimer Turm stand auf dem großen, verkehrsreichen Platz wie ein buntgewandeter Fremder inmitten einer Ansammlung gleichförmig gekleideter Geschäftsleute. Das alte Frankfurt war in der Bombennacht vom 22. März 1944 untergegangen – seine letzten Reste waren in den 60er Jahren den Planvorgaben der »autogerechten Stadt« zum Opfer gefallen. Was übriggeblieben war, stellte keinen Zusammenhang mehr her. Frankfurt war eine entkernte Stadt. Paul fühlte, daß ihn die Kühle beruhigte, mit der die Stadt ihn empfing. Er hatte für eine Weile genug von menschlicher Wärme.

Er ging durch die Schillerstraße, über die Hauptwache, Richtung Katharinenkirche. Als er an der Rolltreppe vorbeiging, die von der U-Bahn unter der Hauptwache hoch zur Katharinenkirche führte, fiel ihn ein beißender Geruch an, ein animalischer Gestank, der sich messen konnte mit dem Geruch aus Bauer Knöß’ Schweinestall, nein, der ihn übertraf. Männerpisse, dachte Paul, es gibt nichts Schlimmeres. Rechts von der Rolltreppe stand die übliche Versammlung von Trinkern und Obdachlosen, Bier in der Hand. Und das, dachte Paul angewidert, mußte ja entsorgt werden, am besten gleich hier, an Ort und Stelle. Einer der Trinker winkte ihm zu, mit der Bierflasche, und rief: »Alles in Ordnung, Macker?« Es stinkt, hätte Paul am liebsten zurückgerufen. Er ging wortlos weiter.

Er hatte keine Ahnung, ob Frauenpisse in derselben Dosierung angenehmer riechen würde. Aber die Frage stellte sich nicht. Paul fühlte einen gewaltigen Überdruß an seinen Geschlechtsgenossen in sich emporsteigen. Und zugleich den Wunsch, sich ebenso schamlos gehenzulassen. Er hatte, gestand er sich ein, nicht vorrangig ein Problem mit den Männern. Sondern mit sich selbst.

Am Liebfrauenberg tauchte er in die Einkaufspassage ein, an deren Ende das Lieblingscafé von Frank lag. »Wo sind die beiden überhaupt?« fragte Paul sich flüchtig, der es gestern noch angenehm gefunden hatte, daß keiner seiner Mitbewohner ihn in der Nordend-Wohnung empfing und womöglich auch noch ausfragte. Frank, der Bühnenbildner, war schwul und hielt sich bei seinem Geliebten öfter auf als in der Wohnung. Norbert verkaufte Autoelektronik und war viel unterwegs. Er hatte, soviel Paul wußte, gar kein Privatleben.

Im Café plätscherte ein kleiner Springbrunnen unter einer Glaskuppel. Der Barkeeper musterte ihn abschätzend und setzte ihm dann den Cappuccino ohne weiteren Kommentar auf die Theke. Die gezierten Handbewegungen des kahlköpfigen Mannes am Tisch vor dem Springbrunnen ließen ihn an Frank denken, der eine hinreißende Tunte geben konnte. Frank schwärmte übrigens für Karen. Sie erinnere ihn, behauptete er, an Marianne Rosenberg. So ein Quatsch, dachte Paul, holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und zahlte.

Am Römer, dem alten Frankfurter Rathaus, hatte ein Bus gerade eine Ladung heftig aufeinander einredender Koreaner ausgespuckt. Alle trugen graue Stoffhosen und Blousons und hatten eine Kamera vor der Brust hängen. Warum sie meterweise Kodak ausgerechnet auf Frankfurt verschwenden wollten, leuchtete Paul nicht ganz ein. Und gerade hier war nicht Frankfurt, sondern Disney-World: Die »Ostzeile«, die Gebäude, die dort standen, wo vor jener Märznacht im Jahre 1944 die Altstadt gewesen war, waren Nachbauten, auf den großen, kahlgeräumten Platz zwischen Dom und Rathaus gestellt, als man in Frankfurt wieder – oder vielmehr: noch – Geld hatte. Und wie zum letzten Beweis dafür, daß die Vergangenheit wirklich ganz und gar vergangen war, stützte ein enormer Eisenträger das eine, das linke der nachgebauten Fachwerkhäuser. Während die Altvorderen für die Ewigkeit gebaut haben, dachte Paul mit einem Anflug von Schadenfreude, hält der Versuch, sie nachzuahmen, gerade mal fünf Jahre.

Vom Main her kreischten die Möwen. Über den trägen Fluß schipperte ein Lastkahn. Fetzen der Kommandos drangen zu ihm, die ein Mädchen an der Spitze eines langen, eleganten Ruderbootes ihren acht Sportsfreundinnen zurief, die im Takt die Ruder schwangen. Das ist fast so schön wie Fahrrad fahren, dachte Paul andächtig und sah dem fast lautlos durchs Wasser gleitenden Frauenachter hinterher. Am Eisernen Steg ging er rechts, am Main entlang, der Hochhaussilhouette der Stadt entgegen, an der Alten Brücke vorbei, vorbei an der Rollschuhbahn und einem stacheldrahtbewehrten, abweisenden, ausgezehrten Flachbau, den die üblichen Graffiti zierten.

Der graue Himmel hatte sich aufgelockert, er war nicht mehr eine einzige Wolkendecke, sondern ließ Kumuli mit grauen Rändern erkennen, die sich berührten, ergänzten, übereinanderschoben. Paul setzte sich ans Flußufer und horchte in sich hinein. In das bißchen Seele und Gemüt, das er sich überhaupt noch zutraute.

Wahrscheinlich hatte Karen recht. Er idealisierte seine Frauen. Er wollte nicht, daß sie das Bild verließen, das er sich von ihnen gemacht hatte. »Sibylle«, sagte er und fühlte einen kleinen, scharfen Schmerz. Er hatte sich die häusliche Idylle mit ihr gut ausmalen können. Ein Haus im Grünen, Kindergeschrei, das gemeinsame Abendbrotessen, der erste Schultag. Aber die kilometerlange Strecke aus Windeln, Fläschchen, Teddy, aus Schnullern, Tränen und Frühstücksbrot – die hatte er sich dabei nicht vorgestellt. Sie hat es gespürt, dachte er, sie hat es gewußt.

Und Anne? Anne hatte er so lange begehrt, wie er in ihr alles sehen konnte, von dem er glaubte, daß es ihm selber fehlte: eine Frau, die zupackte, direkt war, lebenstüchtig, realistisch, offen. Und jetzt? War sie das nicht immer noch? Obwohl auch sie einem Phantom hinterhergerannt war: dem Ideal eines Mannes, den es gar nicht gab?

Zwei Enten flogen tief über dem Fluß und zogen bei der Landung eine gischtige Spur in das träge Wasser. Paul sah ihnen mit abwesendem Blick hinterher. Was war das wohl für ein Gefühl – all die Jahre einen Menschen geliebt zu haben, der einen nur benutzt hat? Als »abzuschöpfende Quelle«? Wie hielt man das aus, so betrogen und verraten zu werden? Und wie ging man damit um, all die Jahre nicht gemerkt zu haben, daß man nicht geliebt, sondern hintergangen worden war?

Wieso hatte sie Leos Nähe überhaupt noch ertragen? Und warum war er geblieben, auch dann noch, als es gar nichts mehr auszuspitzeln gab? Die Auftraggeber existierten schließlich nicht mehr. Und das Leben auf einem Bauernhof lieferte unter Garantie keine wichtigen Informationen. Den Wechsel der Jahreszeiten merkte man zumeist von selbst.

Hatte Leo seine Frau womöglich doch geliebt? Trotz allem?

Plötzlich tat Anne ihm unendlich leid. Und plötzlich war ihr Gesicht wieder da, vor seinem inneren Auge: das spöttische Grinsen, die unordentlichen Haare, die schmale Brille, die hellen blauen Augen. Und ihre schönen langen Beine. »Geh auf sie zu, du Depp«, flüsterte er sich zu.

»Sie wird nicht wollen«, gab sein hasenherziges Ich zurück. »Sie hat im Grunde ja nie gewollt.«

Er stand auf und schreckte die Möwen hoch, die sich auf dem Fluß hatten treiben lassen. Er überquerte die Mainbrücke und schlenderte auf der anderen Seite des Flusses zurück. Das Laub der Platanen an der Promenade hatte bereits eine durchsichtige Farbe angenommen, ein helles Grün, das noch nicht Gelb war. In einer Gartenkneipe trank er einen Apfelwein, bevor ein erster großer Regentropfen ihn aufschreckte. Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen und war tiefer gesunken. Bremer nahm ein Taxi, ließ sich ins »Royal« kutschieren und kaufte sich eine Karte für die Nachmittagsvorstellung. Mit zwei weiteren einsamen Seelen saß er in dem großen Kinosaal, räkelte sich im flauschigen dunkelroten Plüschsessel und ließ, bei zwei Dosen Warsteiner und einer großen Tüte Popcorn, Mel Gibson als »Braveheart« an der Spitze der Schotten die Engländer beschämen. In früheren Zeiten hat man sich wenigstens standesgemäß raufen können, dachte er, wenn einem die Sache mit der Liebe nicht gelingen wollte.

Am frühen Abend rief er Karen an. Ich muß über all das noch mal reden, Karen, dachte er und beschwor sie, den Hörer abzunehmen. Laß uns über die Liebe reden, sagte er ihrem Anrufbeantworter und legte resigniert auf. Nach einer halben Flasche Rotwein war er im Sessel eingeschlafen. Erst um drei Uhr nachts wankte er benommen ins Bett.

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