Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 27
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ОглавлениеBremer stieg aus und verfluchte präventiv den Postboten. Das Gartentor stand offen. Drei seiner sechs Rosenkohlpflanzen lagen entwurzelt im Gemüsegarten, den, mitten in einem von Riesenpfoten ausgehobenen Krater, ein großer hellbrauner, noch dampfender Haufen zierte. Paul setzte sich auf die Gartenbank und fing an zu lachen. Endlich hatte er mal ein Problem, das er auch lösen konnte. Er ging zum Schuppen, hob den Deckel von der Hausgrube, holte die große rote Sandschaufel und nahm den Haufen auf die Schippe, um ihn in der Klärgrube zu versenken. Die Grube war fast voll. Er mußte Bauer Knöß bitten, mit dem Güllewagen zu kommen und sie abzupumpen. Auch seine Scheiße würde dann wahrscheinlich in der naturgeschützten Flußaue landen. Aber wenigstens, dachte Bremer selbstgerecht, ohne gebrauchte Slipeinlagen. Es hatte auch Vorteile, ein Mann zu sein.
Marianne war, ohne daß er es merkte, durchs Gartentor gekommen. »Ich hasse diesen Köter«, sagte sie. »Mir ist so ein ganzer Batzen mal unter den Rasenmäher geraten. Ich sage dir ...«
Sie gingen noch immer sehr vorsichtig miteinander um, seit ihrem Streit vorgestern, von dem Paul heute nicht mehr wußte, ob er ihn nicht vielleicht überinterpretiert hatte. Das wäre ihm am liebsten: wenn alles beim alten bliebe.
Marianne hatte einen Laib Brot unter dem Arm. Sie steckte ihm gerne etwas zu. Im Sommer Kopfsalat, typischerweise unter dem Vorwand: »Der muß weg, der schießt.« Selbstgebackenes Brot wie heute. Oder Frikadellen, wenn Schlachttag war.
»Hast du’s gehört?« begann sie zaghaft. »Es kam in den Nachrichten.«
Paul mußte passen.
»Eine Warnung an Spaziergänger und Pilzesammler im Wald.« Tollwütige Füchse? Verseuchte Pilze? Ausgeflippte Wildschweine? Paul glaubte den Katalog der üblichen Katastrophen zu kennen.
»Tagsüber verstecken sie sich in Erdlöchern, um nachts auf Raubzüge zu gehen.« Marianne sah ihn erwartungsvoll an. Bremer guckte höflich zurück.
»Die Rumänen, du Depp«, sagte seine Nachbarin. »Es kam im Radio.«
Paul stöhnte innerlich auf, brachte das Brot ins Haus und setzte sich neben sie auf die Gartenbank. Marianne brauchte ihre Rumänenbande, wie er den Glauben an den Wechsel der Jahreszeiten benötigte. Oder an die unendliche Fortentwicklung der Shimano-Schaltung.
»Glaubst du an die Rumänen?« rief er Gottfried zu, der mit dem Alten Fritz die Dorfstraße herunterkam und sich jetzt ans Gartentor lehnte, von außen: Gottfried, im Unterschied zu Paul, traute selbst dem guten alten Fritz nicht, wenn es um offene Gartenerde ging und den Urtrieb von Mensch und Tier, in ihr herumzuwühlen.
»Was heißt hier glauben?« fragte Gottfried zurück. »Sie sind gesehen worden, drüben im Pachtwald.«
Einer der Jäger hatte die drei Männer beobachtet. »Die haben es sich offenbar richtig gemütlich gemacht«, gab Gottfried wieder, was er gehört hatte. »Decken ausgebreitet, Weinflaschen geöffnet, Hühnerbeine ausgepackt. Und die Abfälle alle schön in der Gegend verteilt. Soll ausgesehen haben wie im Schweinestall.«
»Du weißt, was dem Jochen aus Groß-Roda passiert ist.« Marianne meinte den Besitzer des kleinen Tante-Emma-Ladens im Nachbarort, zu dem Paul mit dem Fahrrad rüberfuhr, wenn er beim Großeinkauf im Supermarkt mal was vergessen hatte. »Erst haben die Kerle ihn ausgeraubt und ihm dann eine Flasche über die Nase gehauen.« Jochen hatte wochenlang schrecklich ausgesehen.
»Gut, daß Herbst ist«, meinte Paul. »Bald ist es zu kalt im Wald.«
Gottfried nickte. »Das Wetter ist der beste Polizist.«
»Ich meine – es ist ja nicht weit vom Pachtwald bis zum Weiherhof«, sagte Marianne unbeirrt. »Und da hat’s gestern gebrannt.«
Paul guckte sie von der Seite an und schüttelte den Kopf. »Ich glaub da nicht dran, Marianne. Die stehlen, die Jungs. Und aus einer brennenden Scheune ist nicht viel zu holen.«
»Wer«, fragte Gottfried bedächtig, »war es denn dann?«
»Das wüßten wir alle gern«, sagte Paul resigniert. Vor seinem inneren Auge stand die Botschaft, die er in seinem Holzschuppen gefunden hatte: »Du bist der nächste.«
In diesem Moment bog Erwin auf seinem Mopedchen um die Ecke – genaugenommen: er schlingerte. Und sang dabei, laut und mit Gefühl: »Junge, komm bald wieder.« Eine geschlagene Woche lang hatte man im Radio Freddie Quinns sechzigsten Geburtstag gefeiert. Auch Paul kannte die alten Schlager wieder in- und auswendig, dank dörflicher Dauerbeschallung.
»Das waren aber mehr als sechs Bier«, sagte Marianne.
»Schätze ich auch«, bestätigte Gottfried fachmännisch.
Erwin parkte sein Moped, indem er es sanft und zärtlich in der Hofeinfahrt auf die Seite legte, räusperte sich, spuckte aus und verfehlte nur knapp den großen schwarzweißen Kater mit den gelben Augen, der neben dem Torpfosten hockte und sich jetzt angeekelt aus dem Staub machte.
»Zielwasser getrunken, was, Erwin?« rief Paul.
Erwin winkte ohne große Begeisterung zu ihnen herüber und ging mit schwerem Schritt ins Haus. Die Erkennungsmelodie von »Raumschiff Enterprise« konnte man bis über die Straße hören. Der Hausherr hatte seine Lieblingskassette ins Videogerät geschoben. Jetzt, dachte Paul, werden die Kronenkorken eine Zeitlang besonders tief fliegen. Beam me up, Scottie.
»Ach ja. Ja, ja.« Gottfried tätschelte den Alten Fritz. Marianne stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Trinken wir auch einen?« Paul fühlte sich zu seiner Verwunderung plötzlich leicht und frei. Nichts, dachte er, hält dem Werden und Vergehen, den Zeitläuften und der Weltpolitik so stabil stand wie ein hessisches Dorf. Was immer auch geschah. Das mußte gefeiert werden.
»Ist die Sonne schon untergegangen?« fragte Gottfried unschuldig und kniff die Augen zusammen.
»Das läßt ja um diese Jahreszeit nicht lange auf sich warten.« Paul ging ins Haus und kam mit drei Gläsern und einer Flasche Champagner zurück. Veuve Aldi – gut und erschwinglich. Den Korken ließ er in weitem Bogen übers Gemüsebeet fliegen.
»Rekordhöhe«, kommentierte Gottfried.
Paul grinste. In jedem Frühjahr sammelte er sie wieder aus den Beeten – all die Champagnerkorken, die sich im Laufe eines Jahres dort eingefunden hatten.
Die drei prosteten einander zu. Der Alte Fritz hatte sich zu Füßen Gottfrieds ausgebreitet, den edlen Kopf auf die Pfoten gelegt und einmal tief und zufrieden aufgeseufzt. Der Wind war abgeebbt. Abendstille, überall.
Flüchtig dachte Paul an Anne. Weit weg schien sie ihm. Wie in einer fernen, einer fremden Landschaft. Er wischte den Gedanken fort. Was du nicht fassen kannst, sagte er sich, solltest du auch nicht begreifen wollen.