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Vorwort

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Es war einer dieser Momente, die sich tief einprägen. Man erinnert sich nicht nur an die Geschichte selbst, sondern man kann jederzeit abrufen, welchen Geruch man in der Nase hatte, welche Lichtverhältnisse herrschten, ob es kalt oder warm war und sogar welchen Geschmack man im Mund hatte. Es dauerte nur ein paar Minuten und passierte in jener Art von stiller Präsenz, die alles, was nicht zu diesem Augenblick gehört, verschwinden lässt. Die Welt bleibt einfach stehen, hört auf sich zu drehen. Da gibt es keinen Platz und keine Zeit mehr für Gedanken. Ich hatte bisher nicht viele Erlebnisse, an die ich mich in einer solchen Intensität erinnern konnte. Und auch wenn es hier keine Momente des Glücks zu erleben gab, so bin ich doch sehr dankbar, dass ich dabei war und möchte es bis heute nicht missen.

Meine Schwester und ich blieben die Nacht über im Krankenhaus, weil der Arzt bereits am Vortag sagte, dass sie nur noch wenige Stunden leben würde. Meine Mutter war 90 Jahre alt und nach einem Schlaganfall ohne Bewusstsein. Bei Außenstehenden sagt man in solchen Fällen, dass es in diesem Alter Zeit ist, zu gehen, und dass der Tod zum Leben gehört. Wir wissen alle, dass das so ist und es war nicht meine erste Berührung mit dem Tod. Doch in Verbindung mit meiner Mutter warf er mich total aus dem Gleichgewicht. Sie hatte sich die letzten Wochen verändert und auch wenn die Nachricht, dass sie sterben würde, nicht vollkommen überraschend kam, war meine erste Reaktion Panik. Dass sie diese eine Nacht noch durchhielt, war wie ein Geschenk für mich. Sie war nicht mehr ansprechbar und doch gab es mir Zeit, mich in der Situation zurechtzufinden. Zu sagen, ich hätte begriffen, was da gerade passierte, wäre wahrscheinlich übertrieben. Ein Schwebezustand, der so irrational erscheint, so weit weg von dem, was wir mit dem Verstand erfassen können. Der Tod hat etwas Dramatisches, Unfassbares und unausweichlich Endgültiges. Natürlich konnte ich mich mit dem Gedanken trösten, dass meine Mutter in meinem Herzen weiterlebte, nur dass sie eben nicht mehr aktiv auf mich und meine Entscheidungen Einfluss nehmen konnte, sondern ihre Rolle in meinem Leben zukünftig aus dem bestehen würde, was ich in meinen Erinnerungen an sie zulasse. Doch hatte ich das in gewisser Weise nicht immer schon gemacht? Ich meine, jemand sagt oder tut etwas, und wie viel unserer Wahrnehmung ist dann tatsächlich im Sinn unseres Gegenübers und wie hoch ist der Anteil, der durch unsere vorgefertigte Meinung oder Denkweise festgelegt wird? Ich fragte mich, wie groß der Einfluss meiner Mutter auf mich tatsächlich war und wie sehr sie mein Leben mit ihrer Persönlichkeit, mit all dem, was sie ausmachte, prägte. Was gab sie mir mit auf meinen Weg, mit welchen Worten hat sie mich berührt und was bewirkten ihre Taten in mir?

In meinem Fall sollte ich wohl auch fragen: Was machten all ihre Geheimnisse und unausgesprochenen Worte mit mir? Ich habe nur sehr wenige Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre und trage das Bild eines sehr traurigen Kindes in mir. Woher das kommt und warum es mich so beschäftigt, werde ich jetzt wohl nicht mehr klären können. Vielleicht hätte sie mir auch nicht weiterhelfen können, doch dass ich nicht irgendwann versucht hatte, mit ihr darüber zu sprechen, bereue ich sehr.

Welche der Geschichten und Wahrheiten, die ich in mir trage, entsprechen den Tatsachen und welche habe ich mir ausgedacht? Es gibt so wenige Antworten in meinem Leben und das Nichtwissen verunsicherte mich sehr. Was ich aber ganz sicher weiß, ist, dass der Geist meiner Mutter auch nach ihrem Tod noch eine ganze Weile in mir nachhallte und sich sehr lebendig anfühlte.

Wer war sie also, diese Frau, die mich geboren hat? Ich kenne natürlich die Eckdaten ihres Lebens und die großen Ereignisse. Doch die Kleinigkeiten und Feinheiten dazwischen, das, was eine Geschichte zum Leben erweckt und erzählt, wer sie wirklich war, das liegt für mich im Verborgenen. Sie war mir sehr wichtig und wir haben die letzten Jahre vor ihrem Tod viel Zeit miteinander verbracht. Trotzdem sprachen wir nie über ihr Leben, über ihre Träume und Emotionen. Warum nicht? Ich weiß es nicht. In unserer Familie wurden keine Gefühle gezeigt. Nicht im Positiven und auch nicht im Negativen. Es wurde laut geschrien und eine Türe zugeknallt, aber zu sagen, ich sei traurig oder verletzt – vollkommen undenkbar. Wir sagten uns auch nicht, dass wir uns gerne haben. Wirklich Persönliches wurde nicht besprochen und deshalb kam es mir nicht in den Sinn, meine Mutter nach dem zu fragen, was unter der Oberfläche steckte, nach ihren Ängsten und Wünschen, ihrer Leidenschaft und Freude. Vielleicht hat es mich in jüngeren Jahren nicht interessiert oder ich hielt es nicht für möglich, dass sie neben ihrem Muttersein auch eine Frau aus Fleisch und Blut war mit dem Anspruch auf ein eigenes Leben. Als ich älter wurde und all die Fragen in mir hatte, fand ich die Worte nicht. Ich hatte Hemmungen, es anzusprechen und ein wirkliches Gespräch wäre mir mehr als unangenehm gewesen.

Diese Art des „Nicht-Sprechens“ in meiner Familie sorgte dafür, dass ich einen Teil meines Selbst unterdrückte, und das verursachte eine große Einsamkeit in mir. Ich war traurig und konnte mich niemandem anvertrauen, zumal ich den Grund für die Traurigkeit ja gar nicht benennen hätte können. Die Möglichkeit, über ein Gefühl, das über das körperliche Maß hinausgeht, zu sprechen, war für mich schlichtweg nicht vorhanden. Ich entwickelte einen Mechanismus, der mich vor bestimmten Gefühlen und Ereignissen die Augen verschließen ließ. Nur nicht hinschauen oder, gar noch schlimmer, etwas aussprechen und einen Konflikt erzeugen. Der einzige Weg, den mein System zuließ, hieß „Schotten dicht und durch“. Das war für mein Umfeld ein Freifahrtschein, weil es mich vollkommen wehrlos machte. Ich ließ Dinge einfach geschehen und fand in meinem Kopf immer die entsprechenden Erklärungen oder Entschuldigungen dafür. Ich habe diese Strategie so viele Jahre lang geübt, dass sie mir in Fleisch und Blut überging. Alles, was mir widerfuhr, egal, ob gut oder schlecht, wurde von mir hingenommen.

Ich konnte sprechen, aber eine Stimme hatte ich nicht. Noch heute fällt es mir schwer, für mich einzustehen und einfach „Nein“ zu sagen. Als ich etwa achtzehn Jahre alt war - ich hatte gerade meine Lehrzeit begonnen - stellte mich ein damaliger Kollege jemandem mit den Worten vor: „Das ist Johanna, die junge Frau, die sich vor nichts fürchtet.“ Ich war damals sehr stolz darauf, nahm es als tolles Kompliment und hatte gleichzeitig keine Ahnung, wie er auf diese Idee kam. Im Grunde war genau das Gegenteil der Fall: Ich bestand eigentlich nur aus Angst. Und die Furchtlosigkeit, die dieser Kollege in mich hineininterpretierte, war lediglich der äußere Ausdruck nicht vorhandener Grenzen. Ich machte einfach alles mit, ohne darüber nachzudenken, ob ich das wirklich wollte oder nicht. Und ich lachte dazu, weil das mein Weg war, meine Unsicherheit nicht zu zeigen.

Woher kam diese grenzenlose Anpassungsfähigkeit, die bei genauerer Betrachtung fast unterwürfig wirkt? Wurde ich schon so geboren oder wurde dieses Verhaltensmuster durch bestimmte Erfahrungen und Lebensumstände hervorgerufen? Natürlich erkannte ich im Laufe fortschreitenden Alters, dass da etwas falsch lief und läuft. Es gab auch das ein oder andere Vorkommnis, das Erinnerungen aus der Kindheit zurückholte, aber über vielem liegt noch immer ein grauer Schleier. Vielleicht ist es gut so. Es könnte mehr sein, als ich zu sehen bereit bin.

Von diesen inneren Kämpfen und meiner Sehnsucht nach einem anderen Leben war für mein Umfeld so gut wie nichts sichtbar. Ich bin mir sicher, dass Familie, Freunde und Bekannte mich als eine sehr freundliche, positive Frau beschrieben hätten. Doch seit mehr als 30 Jahren hatte ich mir unterdrückten Kummer und Traurigkeit auf meine Schultern geladen. Und immer mal wieder wollten die beiden ausbrechen. Dann krochen sie über den Nacken nach oben, bis mir schier der Kopf zerplatzte und mein Magen rebellierte. In der Schulmedizin werden diese Symptome als Migräne diagnostiziert. Die vielen Schmerztabletten trugen dazu bei, noch mehr zu unterdrücken, was sich mit so viel Kraft zeigen wollte.

Es kam mir nicht in den Sinn, dass das, was ich wollte, in irgendeiner Form relevant sein könnte oder die Verwirklichung für mich im Bereich des Möglichen stünde. Ich lebte wie ein Fähnlein im Wind in verschiedenen Parallelwelten. Und neben diesen gab es auch noch ein Leben, das in erster Linie in meinen Träumen stattfand. Ich wäre gerne eine wilde Rebellin gewesen, eine Abenteurerin und Räuberbraut. Doch leider existierte diese Welt für mich nur in meiner Fantasie.

Mit wenigen Ausnahmen war ich eine brave Tochter und folgte dem vorgezeichneten Weg. Richtig sein bedeutete, einen soliden Beruf zu erlernen, ein Haus zu bauen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Und die Steigerung von richtig war dann noch, ein großes Haus zu bauen, einen Mann mit viel Geld zu heiraten und funktionierende Kinder zu haben. Auch wenn ich mir oft vorstellte, auszubrechen, besaß ich doch nicht den Mut, es wirklich zu tun. In der von mir geschaffenen Realität war ich abhängig vom Wohlwollen und der Anerkennung meiner Umgebung. Wer wäre ich denn ohne sie gewesen? Nichts, einfach gar nichts.

Dann starb meine Mutter und mit ihr ein Teil von mir. Die Dinge fingen an, sich zu verändern. Ich begann mich zu verändern. Anfangs schleichend und unbewusst, später dann sehr deutlich und auch nach außen hin für jedermann sichtbar. Mein Körper warf Ballast ab. Die Menschen in meiner Umgebung wollten wissen, was für eine Diät ich mache, da ich richtiggehend aufblühte.

Vielleicht erscheint es weit hergeholt, meine Veränderung mit dem Tod meiner Mutter in Verbindung zu bringen und doch fühlt es sich sehr wahr an. Obwohl ich sie vermisste und sehr um sie trauerte, gab es tief in mir etwas, das sich unweigerlich befreit fühlte. So zu denken und zu reagieren beschämte mich sehr. Dieser kleine, befreite, radikale Teil arbeitete in mir. Er flüsterte: „Ganz egal, was du jetzt tust, sie wird es nicht mehr wissen und du musst es nicht mehr rechtfertigen.“ Gleichzeitig war es eine Verpflichtung. Es gab keine Ausrede mehr, warum ich Dinge nicht tun konnte oder durfte. Ich musste die Verantwortung für mein Leben selbst übernehmen. Das hört sich verrückt an, doch das ist Teil der neu gewonnenen Freiheit.

Ich bin 45 Jahre alt, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, in zweiter Ehe verheiratet, habe diverse Ausbildungen durchlaufen und Abschlüsse gemacht. Ein erwachsenes Leben möchte man meinen. Und doch ist jetzt erst die Zeit gekommen, aufzustehen und meine eigene Stimme zu finden.

Ich saß an ihrem Sterbebett und verrichtete immer wieder die kleinen Dinge, die mir die Krankenschwester gezeigt hatte. Die Lippen mit einem Wattestäbchen befeuchten und etwas Creme auftragen, damit die Schleimhäute nicht austrockneten. Ganz sanft und voller Liebe streichelte ich ihr die Wange. Mit dem Alter war alles an meiner Mutter weich und rund geworden. Nicht nur ihre Haut und ihr Äußeres, auch ihr ganzes Wesen. Doch ich erinnere mich noch sehr gut an eine andere Seite. Als ich ihr vor vielen Jahren beichtete, dass ich mich von meinem ersten Ehemann trennen wollte, hat sie den Kontakt zu mir abgebrochen. Es passte nicht in ihr Bild und ihre Antwort darauf war erst unmissverständliche Ablehnung und dann Schweigen. Sie gewöhnte sich irgendwann daran, aber wie so oft musste der Lauf der Zeit das Problem lösen. Wir waren beide nicht fähig auszusprechen, was uns bewegte und enttäuschte. Und so fügten wir durch unser Schweigen unserer Enttäuschung noch eine weitere Wunde hinzu: Ich wurde wieder Kind, ich wollte geliebt werden und sie kehrte mir den Rücken zu, weil ich nicht war, wie ich sein sollte. Heute ist mir klar, dass ich ihre Liebe und Anerkennung wollte. Damals wusste ich weder von meiner Sehnsucht, noch wie ich sie hätte stillen können. Für eine wirkliche Selbsterkenntnis war die Zeit noch nicht gekommen. Und so landete ich bald wieder in einer festen Beziehung, die mein Leben bestimmte. Ich hatte einen Mann mit dem anderen ausgetauscht und war in Sicherheit. Alles verlief wieder in geregelten Bahnen und ich konnte in den Schoß eines geordneten Familienlebens zurückkehren. Im Nachhinein könnte man meinen ersten Versuch auszubrechen als gescheitert ansehen. Aber letztendlich war es ein Schritt meiner Entwicklung.

Und wieder frage ich mich, welchen Einfluss die Geschichte meiner Mutter auf mein Leben hatte. Sie sagte mir in ihren letzten Lebensjahren oft, wie unglücklich sie war, als sie erfahren hatte, dass sie mit mir schwanger war, dass sie jetzt aber so froh sei, mich zu haben. Ein ungewolltes Kind, das war exakt die Beschreibung, die auf mein Lebensgefühl zutraf. Ob dieses späte Bekenntnis ihre Art war, mir zu sagen, dass sie mich liebte, oder ob es noch eine tiefere Geschichte hinter der unglücklichen Empfängnis gab, weiß ich nicht. Ich habe nicht danach gefragt, und sie hat es mir nicht von sich aus erzählt. Doch ich habe sehr wohl die Überschrift ihrer Aussage gehört und die hieß ganz klar „nicht gewollt“. Vernommen, abgespeichert und ausgeblendet. Und damit ging sie los, die Geschichte des Erwachens. Die Reise, die ich nichts ahnend antrat und mit der ich mich zwang, mich endlich selbst zu sehen, zu hören und zu erkennen.

Kopfstand

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