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Johanna - Neuer Job

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Mein Gott, es war kaum zu glauben, was in dieser Firma alles möglich war. Vor eineinhalb Jahren, kurz nach dem Tod meiner Mutter, suchte ich mir eine neue Arbeitsstelle. Das Unternehmen hatte seinen Sitz in Italien und sie suchten jemanden für das Büro der Tochtergesellschaft in Deutschland. Ich fand es spannend, für eine international agierende Firma zu arbeiten. Nachdem meine Kinder beide zu Hause ausgezogen waren und ich mein Abendstudium erfolgreich abgeschlossen hatte, war diese Stelle genau die Herausforderung, nach der ich suchte. Regelmäßige Geschäftsreisen nach Italien, megacool. Eine Position, in der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung gefragt waren, endlich eine Gelegenheit zu zeigen, was alles in mir steckte. Wir hatten festgelegt, dass ich Anfang Januar anfangen sollte. Zur Einarbeitung und um die Firma und die Arbeitsabläufe kennenzulernen, war geplant, dass ich die ersten Wochen im Haupthaus in Italien arbeiten sollte. Alles klang wunderbar, und ich freute mich wirklich riesig, dass ich diesen Job an Land gezogen hatte.

Bei Vertragsunterzeichnung fragte mein zukünftiger Chef ganz spontan, ob ich nicht Lust hätte, schon zur Weihnachtsfeier zu kommen, um meine neuen Kollegen in ungezwungener Atmosphäre vorab kennenzulernen. Na klar hatte ich Lust! Ich konnte es kaum erwarten, dass meine neue Karriere losging, und war total aufgeregt.

Am letzten Wochenende vor Weihnachten fuhr ich nach Italien, um meine neuen Kollegen kennenzulernen. Alles war vorbereitet und gut organisiert. Man hatte mir ein Hotelzimmer gebucht und eine Einladungskarte mit den Informationen geschickt, wo die Feier stattfinden sollte. Ein neuer Arbeitgeber und etwa hundert fremde Menschen! Selbstverständlich war ich pünktlich um halb acht in dem genannten Restaurant. Was ich bisher an Firmenfeiern erlebt hatte, waren ausnahmslos sehr förmliche Angelegenheiten gewesen: Abendessen, eine Ansprache und auf keinen Fall daneben benehmen. Doch hier schien das alles anders zu sein. Ich stand in dem Lokal, in dem die Weihnachtsfeier meines neuen Arbeitgebers hätte stattfinden sollen, aber da war niemand. Also zumindest niemand, der nach Weihnachtsfeier aussah. Ein großer Saal, in dem noch gedeckt wurde, und eine Bar, an der sich mehrere Leute lautstark unterhielten. Ich kam mir dämlich vor, vollkommen deplatziert und verunsichert. Zudem war ich für dieses Umfeld völlig overdressed, dabei wollte ich doch um jeden Preis einen guten Eindruck machen. Souverän und selbstbewusst, genau das, was ich in dem Moment überhaupt nicht war. Was war denn so schwierig daran, einfach zu fragen, ob hier die Weihnachtsfeier meiner neuen Firma stattfinden würde? Ich stand noch ein bisschen verloren herum, habe mich dann schließlich doch aufgerafft einen Kellner zu fragen. „Ich bin zu einer Firmenfeier eingeladen. Können Sie mir bitte sagen, wo die stattfindet? Ich bin eine neue Mitarbeiterin aus Deutschland.“ „Si, Signora, da sind Sie schon richtig. Ihre Kollegen werden bald kommen. Möchten Sie schon etwas trinken?“ Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich da im kleinen Schwarzen, inmitten laut lamentierender Italiener, die völlig unbeeindruckt über mich hinweg diskutierten. Ich stellte mich an die Theke und bestellte ein Glas Wein, damit ich etwas hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Ganz allmählich kamen mehr und mehr Leute. Der Geräuschpegel war enorm und die bereits konsumierten Alkoholmengen auch. Es war seit meiner Ankunft bestimmt schon eine Stunde vergangen, bis sich der Festsaal so nach und nach füllte. Irgendwann entdeckte ich dann endlich die zwei Geschäftsführer, die ich vom Vorstellungsgespräch kannte. Es herrschte ein Durcheinander, wie auf einem Volksfest. Die einen standen nach wie vor an der Bar, andere hatten sich bereits gesetzt und schmetterten aus voller Kehle italienische Lieder. Die Tischnachbarn sahen sich dadurch veranlasst noch lauter zu grölen, um die singenden Kollegen zu übertönen. Manche standen in kleinen Gruppen zusammen, um sich zu unterhalten, andere setzten sich an die Tische, an denen bereits der erste Gang serviert wurde. Ich war von dem Bild, das sich mir bot, so überfordert, dass die Komik dieser Situation nicht bis zu mir durchdrang. Einer meiner Chefs stellte mir ein paar der deutschen Kollegen vor und ich war froh mich nicht mehr ganz so außenstehend zu fühlen. Aber ehrlich gesagt, hielt sich das Interesse an mir in Grenzen. Meine neuen Kollegen wollten einfach nur trinken und feiern, genau in dieser Reihenfolge. Zu guter Letzt stand ein mir unbekannter Herr auf, ich schätzte ihn auf gut dreißig Jahre, klopfte an sein Glas, räusperte sich und startete eine Art Weihnachtsansprache. Wie hätte es anders sein sollen? Niemand interessierte sich sonderlich dafür und die Mitarbeiter ließen sich keinesfalls in ihrer Feierlaune stören. Auf Nachfrage sagte man mir mit einem Augenzwinkern, dass der junge Mann hier der Herr Generaldirektor ist. Jetzt konnte selbst ich mir, in meiner angespannten Stimmung, ein Lachen nicht mehr verkneifen. Es platze förmlich aus mir heraus. Das war also mein neuer Arbeitgeber!

Man möchte meinen, dieses Fest hätte mich gewarnt oder mich in irgendeiner Form abgeschreckt. Aber dem war nicht so! Ich war total fasziniert. Es war eine Herausforderung. Ich war nicht nur auf fachlicher Ebene gefordert, sondern das Ganze versprach, ein großes Abenteuer zu werden. Das Umfeld, in dem ich mich bisher bewegt hatte, waren meine Familie und gleichaltrige Freunde. Die Firma, in der ich die letzten 13 Jahre gearbeitet hatte, bestand aus meinem Chef, einem Herrn im fortgeschrittenen Alter, und seiner Ehefrau. Jetzt hatte ich ungefähr hundert Kollegen mit einem Durchschnittsalter von dreißig Jahren. Über was sollte ich mich um Himmels Willen mit diesen jungen Leuten unterhalten? Doch eines war absolut klar für mich. Ich wollte unbedingt dazu gehören und ich wollte wichtig und gebraucht sein in dieser Firma.

Hochmotiviert und voller Erwartungen trat ich Anfang Januar meine neue Stelle an. Die Kollegin, die mich unter ihre Fittiche nahm, war ausgesprochen nett und erklärte mir die internen Strukturen, das Computersystem, mit dem die Firma arbeitete, und nach und nach viele der Aufgaben, die ich zu übernehmen hatte. Sie und auch andere Kollegen waren heilfroh, dass es endlich jemanden gab, der für alle anfallenden Arbeiten verantwortlich war, die Deutschland betrafen. Und so wurde ich in allen Abteilungen mit offenen Armen empfangen. Es gab viel zu tun, aber im Großen und Ganzen fühlte ich mich den Anforderungen durchaus gewachsen. Ein größeres Problem war die sprachliche Hürde, wenn es um kollegiale Gespräche ging. Es herrschte ein lockerer Umgangston und es wurde viel gelacht. Leider konnte ich mich nicht so oft am Gespräch beteiligen, wie ich wollte, weil jeder einen anderen Dialekt sprach und ich zwar dem Grundgespräch folgen konnte, die Pointen aber meist verpasste. Doch ich lachte offenbar an den richtigen Stellen und so dachten wahrscheinlich alle, die neue Kollegin ist nett, aber ein bisschen zurückhaltend oder schüchtern. Nach drei Wochen Einarbeitung übernahm ich mein Büro in Deutschland.

Die anfängliche Euphorie dauerte in etwa neun Monate, dann setzte allmählich der Verstand wieder ein. Man sagt ja, der erste Eindruck täusche nicht. Hätte ich dem mehr Gewicht geben sollen? Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich in einem Irrenhaus gelandet war, umgeben von lauter Verrückten - oder war am Ende ich die Verrückte, weil ich hier mitspielte? Eine Anstalt mit eigenen Regeln und Gesetzen. Meine Vorgesetzten waren sich noch nicht ganz sicher, ob sie den Größenwahn oder das Chaos bevorzugen sollten oder vielmehr, sie teilten die Rollen geschickt auf.

Sie waren alle absolut liebenswürdige Persönlichkeiten, die ich sehr mochte. Mit ihnen zu arbeiten, war eine Katastrophe, sie tiefenpsychologisch zu analysieren hingegen, die helle Freude. Stellt euch einen Zirkus vor: Da gibt es den Direktor, der die Zügel in der Hand hält und die Pferdchen traben lässt, ganz wie es ihm gefällt. Er lebt in seiner eigenen Welt der Träume und Visionen. Für die Arbeit im herkömmlichen Sinne hat er die Geschäftsführer, die er mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung dirigiert. Was außerhalb der Manege, außerhalb seiner Bühne passiert, interessiert ihn herzlich wenig. Na ja, die Zuschauerzahlen müssen natürlich stimmen und damit auch die Kasse. Zugleich gibt es jede Menge Artisten, die auf der Bühne tanzen und jonglieren, und sich im Glanz der großen Show sonnen. Wer mitspielen will, sucht sich einfach seine Lieblingsnummer aus und gibt sein Bestes. Wer keine Lust hat, macht nichts und setzt sich auf die Zuschauerbank, klatscht ein bisschen Applaus oder schläft eine Runde. Ich musste mir unweigerlich die Frage stellen, was hier meine Rolle war. Ich passte gut dazu, keine Frage! Ich habe mein Leben immer schon lieber in meiner Fantasie gelebt als in der Wirklichkeit. Eine Weile hatte ich großen Spaß an meiner deutschen Spezialeinlage und habe eifrig geübt, gestaltet, getan und gemacht. Dann kam die Zeit, in der ich feststellen musste, dass mein Programm sich mit dem von anderen Artisten überschnitt, diese aber nur bedingt bei mir mitspielen wollten. Es fing an, anstrengend zu werden. Doch wie auch immer, noch war es einfach aufregend, Teil dieser vollkommen verrückten Welt zu sein.

Ich arbeitete in der Verwaltung und man möchte meinen, das wäre eher langweilig, aber in Anbetracht des Zirkuslebens gab es hier immer etwas zu staunen und zu belachen. In dieser Firma war nichts so gewiss wie die Unbeständigkeit und man konnte immer mit einer Überraschung rechnen. So gab mir meine Arbeit, bei der es ja in erster Linie um Zahlen und die klaren Gesetzmäßigkeiten der Buchhaltung ging, das Gefühl, wenigstens etwas unter Kontrolle zu haben. Zudem erlaubte mir meine Position, mich mächtig wichtig zu fühlen, da ich verantwortlich war, dass die Geschäfte ordentlich abgewickelt wurden. Doch nach und nach musste ich erkennen, dass ich auf verlorenem Posten kämpfte. Vollkommene Misswirtschaft entgegen der Regeln der Betriebswirtschaft und bar jeglichen gesunden Menschenverstandes kann man auch mit einer korrekten Buchhaltung nicht wettmachen. Es war also alles nur eine Frage der Zeit, bis sich hier etwas Grundlegendes ändern oder die Bombe platzen würde. An dieser Stelle sollte ich wohl erwähnen, dass ich durchaus alles dafür tat, meine persönliche Lage dem Firmenchaos anzupassen.

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