Читать книгу Sentire cum ecclesia - Anton E. Wirmer - Страница 10
2. Die Bedeutung weiterer Auslegungselemente
ОглавлениеIm Laufe der weiteren Entwicklung, vor allem ab der Mitte des 20. Jahrhunderts hat der Viererkanon – auch wenn er nicht gesetzlich verankert wurde – in Deutschland grundsätzlich Eingang in die Rechtstheorie und -praxis gefunden, allerdings in einer leicht veränderten Form.41 Das logische Element wurde durch das teleologische Kriterium im Sinne der „ratio legis“ ersetzt. Teilweise ist es auch im Argument der Systematik aufgegangen. Einige Autoren plädieren heute dafür, beim Viererkanon zwischen Auslegungsziel und Auslegungsmittel zu unterscheiden. Der Normzweck sei das zentrale Ziel jeder Gesetzesauslegung. Die anderen Kriterien seien Mittel, um den richtigen Normzweck zu erkennen.42
Neben den von v. Savigny genannten Elementen haben im Laufe der europäischen Rechtsgeschichte auch andere Kriterien oder Wertungsmaßstäbe bei der Gesetzesauslegung eine Rolle gespielt. Zu diesen zählen Argumente der Gerechtigkeit und Billigkeit, aber auch der Zweckmäßigkeit und der Vernunft. Teilweise gehörten sie schon zu den Standardmaximen des Römischen Rechts wie z. B. das „argumentum ad absurdum“, das ungereimte oder absurde Ergebnisse vermeiden sollte. Auch der Gedanke der Zweckmäßigkeit oder praktischen Wirksamkeit einer Rechtsnorm lässt sich bis ins Römische Recht zurückverfolgen.43 Als “effet utile“ hat er Eingang in das französische Recht und das Völkervertragsrecht gefunden und wurde sogar zu einer Auslegungsmaxime des Gemeinschaftsrechts der EU. Außergesetzliche Wertungsmaßstäbe erlangten größere Bedeutung auch unter totalitären Regimen des 20. Jh. In der NS-Zeit galten in der Rechtsprechung des Reichsgerichts die NS-Weltanschauung und das gesunde Volksempfinden als außergesetzliche Interpretationsmaßstäbe.44
Eine wechselvolle Geschichte hatte der aus dem römischen Recht kommende Grundsatz der Billigkeit oder „aequitas“ (Gleiche Entscheidung bei gleich gelagerten Fällen). Ab der nachklassischen Periode spielte er bis zum Zeitalter des Humanismus eine erhebliche Rolle in der Auslegungslehre. Er wurde teilweise zum Sammelbegriff aller im Rahmen des Rechts möglichen ethischen Erwägungen.45 Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde er nur noch als Orientierungshilfe für den Gesetzgeber, nicht aber mehr als Auslegungskriterium für die Rechtsanwendung akzeptiert. Für Kant war der Grundsatz der Billigkeit eine „stumme Gottheit, die nicht gehöret werden kann.“46 Erst beim Übergang ins 20. Jahrhundert gewannen solche Erwägungen wieder an Bedeutung, meist allerdings im Rahmen von Wertungsmaßstäben, die aus der gesamten Rechtsordnung oder der Verfassung und den Grundrechten abgeleitet waren.
Eine unverminderte Bedeutung hat der Grundsatz der „aequitas“ im kanonischen Recht. Er ist dort sogar ein allgemeines Auslegungsprinzip und geht in seinem Verständnis über den Begriff der Billigkeit im weltlichen Recht hinaus, indem er auch Elemente der christlichen Barmherzigkeit aufgenommen hat.47