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2. Der Umfang der Gesetzesbindung der Gerichte

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Eine bis in die heutige Zeit reichende Kontroverse gibt es über den Rang der historischen Auslegungsmethode im Verhältnis zu den anderen Kriterien. Es geht um die Frage, ob für die Ermittlung des Gesetzeszwecks der Wille des historischen Gesetzgebers maßgeblich sein soll oder ob es einen sog. objektivierbaren Willen des Gesetzgebers gibt.51 Mit anderen Worten: Ist ein Gesetz entstehungszeitlich (ex tunc) oder geltungszeitlich (ex nunc) zu interpretieren?

In der römischen Rechtstradition spielte die historische Entstehung des Gesetzes nur eine untergeordnete Rolle. Das Gesetz selbst hatte eine „voluntas“ oder „sententia“, also einen sachgerechten und zweckmäßig erscheinenden Sinn.52 Erst mit der Aufklärung und verstärkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann ein Umdenken. Ziel der Auslegung sollte sein, den Sinn zu ermitteln, den das Gesetz zu der Zeit, in der es erlassen wurde, haben sollte. Die richtige Methode sei daher die historische Gebots- und Normzweckforschung (subjektive Auslegungsmethode).53 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte wieder eine Hinwendung zu einem stärker zweckorientierten Ansatz im Hinblick auf heutige Lebensvorgänge.54 Nach dieser Methode verselbständigt sich das Gesetz vom Gesetzgeber und gewinnt eine eigene Zielrichtung und Dynamik. Die Rechtsprechung, die Träger dieses Prozesses ist, erfuhr durch dieses Denken eine spürbare Aufwertung sowie auch einen Machtzuwachs im staatlichen Gefüge.

Bei diesem über Generationen geführten Methodenstreit geht es nicht nur um den Rang der historischen Auslegungsmethode im Verhältnis zu den anderen Kriterien, es geht vor allem um die Strenge der Gesetzesbindung der Gerichte bzw. die Spielräume, die dem Rechtsanwender bei der Interpretation der Gesetze eingeräumt sind. Im Kern geht es daher um die Definitionskompetenz über den materialen Inhalt der geltenden Rechtsordnung.

Je größer die Spielräume sind, die den Gerichten bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen eingeräumt sind, je größer ist auch die Gefahr, dass politische Veränderungen, zeitgebundene Wertvorstellungen oder richterliche Eigenwertungen über die in jedem Recht enthaltenen Allgemeinbegriffe und Generalklauseln Einfluss auf die Interpretation von Gesetzen gewinnen. Exemplarisch dafür stehen die Methodenkontroversen zu den Verfassungswechseln nach 1919, 1933 und 1945. Besonders die NS-Zeit hat gezeigt, wie leicht auch überkommene Gesetze auf neue politisch motivierte Wertsysteme umgedeutet werden können.55 Die Gerichte beriefen sich teilweise auf die nationalsozialistische Weltanschauung als einen außergesetzlichen Interpretationsmaßstab.56

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