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II. Auslegung und Methodenpluralismus 1. Die Entwicklung wissenschaftlicher Methodenlehren
ОглавлениеAngesichts der geschilderten hermeneutischen Unsicherheiten hat die Juristen schon seit jeher die Frage beschäftigt, wie die Auslegung von Rechtstexten möglichst objektivierbar gestaltet werden kann, insbes. ob es dafür Regeln und Methoden gibt. Auf der einen Seite muss Rechtsanwendung verlässlich und müssen juristische Entscheidungen für die Betroffenen einer rationalen Kontrolle zugänglich sein. Auf der anderen Seite muss Recht flexibel genug sein, um sich auf veränderte Verhältnisse und Rahmenbedingungen einstellen zu können, gerade wenn Recht über längere Zeiträume und Jahrhunderte gilt oder gelten soll. Beiden Aspekten gerecht zu werden, hat sich im Laufe der Rechtsgeschichte als eine nicht leicht zu lösende Aufgabe erwiesen.
Viele Faktoren sind dabei zu berücksichtigen. Recht ist kein isoliertes, für sich bestehendes Gebilde, sondern ein Spiegelbild der jeweiligen historischen Gesamtsituation. Alle bedeutsamen kulturellen, ökonomischen und politischen Faktoren und Tendenzen wirken auf das Recht ein und werden ihrerseits durch das Recht geprägt.30 Die Entwicklung der juristischen Auslegungsmethoden ist immer auch eine Auseinandersetzung um die Freiheiten, die dem Rechtsanwender bei der Interpretation von Rechtstexten eingeräumt werden, gewesen.31
Das Römische Recht hatte noch keine ausgebaute Methodenlehre zur Auslegung von Rechtstexten entwickelt. Der „corpus juris civilis“ des Oströmischen Kaisers Justinian enthielt lediglich zahlreiche Interpretationsmaximen und Argumente, sogenannte „regulae juris“, die meist auf Rechtsansichten klassischer römischer Juristen zurückgingen.32 Auch diese gerieten aber in den folgenden Jahrhunderten weitgehend in Vergessenheit. Erst nach der Wiederentdeckung der Rechtssammlung im 11. Jahrhundert erlangten sie eine größere Bedeutung, die bis ins 17. Jahrhundert anhielt. Im Zeitalter der Aufklärung wurde versucht, die unterschiedlichen Maximen zu ordnen und zu systematisieren.33
Von einer geschlossenen Methodenlehre kann erst ab dem Rechtslehrer v. Savigny gesprochen werden. Er war Haupt der historischen Rechtsschule und hat 1840 aufbauend auf dem damaligen Stand der juristischen Methodendiskussion34 zuerst ein Dreierschema und wenig später ein Viererschema von Auslegungskriterien entwickelt: Die grammatikalische, logische, systematische und historische Auslegungsmethode.35 Das grammatikalische Element bedeutet die Interpretation nach dem Wortlaut und den Regeln der Grammatik, das logische das Verhältnis der Gesetzesbegriffe im Satzgefüge sowie dem Kontext und das historische Kriterium die Interpretation nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers und den Umständen, die zum Erlass des Gesetzes führten.36
Mit dem Systemargument war gemeint, dass jede Rechtsnorm nicht isoliert für sich steht, sondern Teil eines größeren Ganzen oder Rechtssystems ist und richtig nur in diesem Rahmen verstanden werden kann. v. Savigny bezieht das Kriterium auf den „inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft.37“ Er hat diesem Kriterium eine besondere Bedeutung beigemessen. Aber auch schon vorher war anerkannt, dass bei der Interpretation von Rechtsvorschriften auch Normen aus anderen Rechtsquellen zu berücksichtigen sind. Das galt besonders für die Auslegung im Einklang mit dem Gewohnheitsrecht und – bei Partikulargesetzen – im Einklang mit dem sog. Gemeinen Recht.38
Eine Rangfolge der vier Auslegungskriterien hat v. Savigny nicht empfohlen. Vielmehr müssten alle Aspekte berücksichtigt werden, wobei je nach Sachlage das eine oder das andere größere Bedeutung gewinnen könne.39 Er hat außerdem schon darauf hingewiesen, dass es notwendig sein könne, weitere Hilfsmittel einzubeziehen, wenn der Gesetzestext den Regelungsgedanken nicht klar genug zum Ausdruck bringe. Dann seien die vier genannten Elemente nicht ausreichend und auf weitere zurückzugreifen wie vor allem – in heutiger Terminologie – der Normzweck einer Regelung und eine Folgenabschätzung.40