Читать книгу Sentire cum ecclesia - Anton E. Wirmer - Страница 17
4. Rechtsgrundsätze als Leitlinien
ОглавлениеWie im bisherigen dargelegt, haben im Laufe der europäischen Rechtsgeschichte neben den klassischen Auslegungskriterien auch andere Argumente wie Vernunft- und Gerechtigkeitserwägungen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt.87 Nach heutigen Vorstellungen ergeben sich Anhaltspunkte für konsensfähige Gerechtigkeitsmaßstäbe im Wesentlichen aus dem Recht selbst, vor allem der Verfassung. Daraus werden vielfach - auch von der Rechtsprechung - allgemeine Rechtsgrundsätze abgeleitet, die neben den Auslegungskriterien als Leitlinien für die Gesetzesauslegung dienen können.88
Besonders die Grundrechtsgarantien haben in diesem Sinne auf die gesamte Rechtsordnung ausgestrahlt. Die Konkretisierung dieser Garantien ist zugleich ein fortwährender Diskurs über die Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft.89 Beispiele solcher Rechtsprinzipien sind das Gebot rechtlicher Gleichbehandlung, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot, der Vertrauensschutz oder die Grundsätze der Verschuldenshaftung. Kollisionen von unterschiedlichen Interessen oder Grundrechten werden heute vielfach im Wege der sog. Praktischen Konkordanz90 gelöst. Dies heißt, es soll ein schonender Ausgleich zwischen verschiedenen Rechtsgütern gesucht werden, der beiden eine möglichst weitgehende Wirkung gewährleisten kann.
Daneben sind heute auch Grundsätze oder Wertungsmaßstäbe anerkannt, die vor allem im internationalen Recht Bedeutung gewonnen haben. Dies gilt u.a. für den Gedanken der Zweckmäßigkeit oder praktischen Wirksamkeit einer Norm. Über das französische Recht wurde er als „effet utile“ sogar zu einem wichtigen Auslegungsprinzip des Gemeinschaftsrechts der EU.91
In der Literatur wird diskutiert, inwiefern sich Prinzipien von den eigentlichen Rechtsvorschriften, den „Regeln“, unterscheiden. Teilweise wird der Unterschied darin gesehen, dass bei Regeln ein Sachverhalt nur unter eine Norm subsumiert werden muss, wohingegen bei Prinzipien im Wege der Abwägung ein bestimmtes Ziel so weit wie möglich zu verwirklichen ist.92 Nach anderer Auffassung ist eine saubere Abgrenzung zwischen beiden kaum möglich, da Normen und Prinzipien häufig ineinandergreifen und zu den Zwecken einer Norm oft auch die Verwirklichung bestimmter Prinzipien gehört.93
13May/Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, S. 185 f.
14Heck, Probleme der Rechtsgewinnung, S. 66 ff.
15Rüthers, Rechtstheorie, S. 111 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 38.
16Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 198 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 38.
17Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 162 ff.
18Rüthers, Rechtstheorie, S. 116 ff.
19Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 17 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 32, 301 ff.
20Rüthers, Rechtstheorie, S. 119 ff.
21Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 20, 38 ff.
22Rüthers, Rechtstheorie, S. 478 f.
23Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, S. 58 f.
24Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurispudenz, S. 161 ff.
25Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 240 f.
26Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 9 f.
27Rüthers, Rechtstheorie, S. 109, 482.
28Rüthers, Rechtstheorie, S. 114 ff.
29Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 88 ff.
30Fechner, Rechtsphilosophie, S. 53 ff.
31Rüthers, Rechtstheorie, S. 411.
32Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd.I, S. 433.
33Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd. II, S. 435; Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Kap. IX.
34Kaser/Knüttel, Römisches Privatrecht, § 3 V.
35Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 141 ff.; v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd I, S. 213 ff.
36Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428 ff.
37Vgl. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 117 ff.
38Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd I. S. 449.
39v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, S. 215 ff.
40Rüthers, Rechtstheorie, S. 414.
41Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd I, S. 414.
42Rüthers, Rechtstheorie, S. 426; Ähnlich Stein/Frank, Staatsrecht, S. 37.
43Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd I, S. 459.
44RG v. 1.06.1937, RGZ 155, 138; RG v. 5.12.1942, RGZ 170, 65.
45Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd I, S. 459.
46Kant, Metaphysik, Anhang I, S. 342.
47Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, § 15 V; Kardinal Kasper, Barmherzigkeit, S. 176 f.
48Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd II, S. 1293, 1304; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 18; Rüthers, Rechtstheorie, S. 20.
49Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd II, S. 1298.
50Zippelius, Das Wesen des Rechts, Kap. 6 b.
51Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 116; Engisch, Einführung in das juristischen Denken, S. 112.
52Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd.I, S. 435.
53Rüthers, Rechtstheorie, S. 411 ff.
54Dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 160.
55Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 117 ff.; Rechtstheorie, S. 385.
56RG v. 1.06.1937, RGZ 155, 138; RG v. 15.06 1939,RGZ 160, 293.
57Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd I, S. 441.
58Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, S. 505.
59Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd II. S. 1300 ff.
60Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen, Bd II, S. 1301 f.
61Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 9.
62Vgl. BVerfG v. 23.10.1985, BVerfGE 71, 115; BVerfG v. 20.10.1992, BVerfGE 87, 224.
63May/Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, S. 185 ff.
64Rüthers, Rechtstheorie, S. 404; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 80 f.
65Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 40.
66BVerfG v. 5.04.1990 BVerfGE 82, 38 f.
67Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 51 f.
68May/Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, S. 185.
69Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 71 ff.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl. S. 131 ff.
70Rüthers, Rechtstheorie, S. 109.
71Hassemer, Gesetzesbindung, ZRP 2007, 213 ff.
72BVerfG v. 15.12.1959, BVerfGE 10, 234 (244); BVerfG v. 17.05.1960, BVerfGE 11, 126 (130) st. Rspr.
73Beispiele bei Rüthers, Rechtstheorie S. 474; Röhl, Allgemeine Rechtslehre § 79 II.
74BVerfG v. 25.01.2011 NJW 2011, 836 ff.
75Rüthers, Rechtstheorie, S. 484.
76Beispielhaft Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 153 ff.
77Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 40.
78Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 166.
79Rüthers, Rechtstheorie, S. 439; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 117 ff.
80Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 44 f.
81BVerfG v. 24.02.1971, BVerfGE 30, 173 (193); BVerfG v. 23.04.1986, BVerfGE 73, 261 (269).
82Siehe Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S. 130 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, Rd Nr. 846 ff.; Jüngel, Wertlose Wahrheit, S. 90 f.; Körtner, Für die Vernunft, S. 32 ff.
83May/Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, S. 185 ff.
84Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 153 f.
85Rüthers, Rechtstheorie, S. 452.
86Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 81 ff.
87Vogenauer, Auslegung von Gesetzen II, S. 459.
88Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 44 f.
89Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 45.
90Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 72 f.
91Vogenauer, Auslegung von Gesetzen I., S. 462; Grimm, Europa ja – aber welches? S. 106.
92Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Kap. 2.3.
93Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 46.