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Jonas öffnet die Augen. Juna tritt einen Schritt zurück. Die Art, wie sie ihm die Haare schneidet, erinnert ihn daran, wie er früher unter dem kritischen Blick seines Lehrmeisters Pläne von Möbeln gezeichnet hat. Nachdem er die Arbeit in der Metzgerei aufgegeben hatte, fand er rasch eine Lehrstelle in einer Schreinerei. Zwar träumte er davon, eines Tages Architekt zu werden, aber er mochte den Geruch des Holzes, die Arbeit mit den Händen, das Anfertigen von Skizzen und Plänen. Und das lange Schweigen seines Lehrmeisters.

Jonas denkt: Juna schneidet mit einer Leichtigkeit, als würde sie mich skizzieren.

Bevor Juna ihm den Handspiegel reicht, wischt sie ihm mit einem Handtuch über Gesicht und Nacken. Auf diese Weise geordnet und gepflegt, hat er das Gefühl, sein Bruder Paul schaue ihm aus dem Spiegel entgegen. Obwohl er ihn in den letzten Jahren kaum gesehen hat.

Letzten Herbst schien Jonas auf dem Friedhof sein Spiegelbild entgegenzukommen. Sein Spiegelbild mit glänzenden Schuhen. Sein Spiegelbild mit dichterem Haar, gründlicher Rasur und gestutzten Augenbrauen. Paul liebte noch immer den grossen Auftritt. Vielleicht hatte er die Brauen sogar gekämmt und gegelt: Sie thronten regelrecht über seinen Augen. Sein Blick war nur wegen dieser Brauen stechend, da war sich Jonas sicher. Paul war schwammig und hatte einen wässrigen Blick. So, als ob er jederzeit in Tränen ausbrechen könnte. Das hatte ihm als Kind Mitgefühl und Milde von den Erwachsenen eingebracht.

Jonas erinnert sich, dass Paul von Anfang an ein weinerliches Kind gewesen ist. Die Mutter versuchte ihn mit viel Aufmerksamkeit, Nähe und Nahrung zu trösten. Sie hörte nicht auf, ihm die Brust zu geben. Auch als Paul Zähne wuchsen, legte sie sich zu ihm ins Bett und gab ihm die Brust, bis er einschlief.

Jonas, der mit Paul das Zimmer teilte, beobachtete sie von seinem Bett aus. Er sah die Nähe zwischen den beiden, fühlte sich leer und wollte diese Leere mit Musik füllen. Also begann er zu singen und zu pfeifen. Er erfand Lieder, deren Melodien er gleich wieder vergass.

Die Mutter schwieg, und Paul schlief trotzdem immer ein. Manchmal schlief auch die Mutter ein.

Als Paul in die Schule kam, wollte er nicht mehr an der Brust der Mutter nuckeln. Abends war er müde und schlief auf dem Sofa ein. Er ging gerne zur Schule und hüpfte vor Vorfreude bereits am Sonntagabend durch die Wohnung. Jonas’ Mutter begann, Pauls Lieblingsgerichte zu kochen, wenn er von der Schule nach Hause kam. Jonas wusste, dass Paul gerne zur Schule ging, weil er in seine Lehrerin vernarrt war.

Dieses Bild, Paul an der Brust seiner Mutter, sah Jonas im vergangenen Herbst auf dem Friedhof wieder vor sich, als sein Bruder vor ihm stand. Er hatte das seltsame Gefühl, ihn gleichzeitig beschützen und von sich wegstossen zu wollen. Paul streckte ihm die Hand entgegen und nickte ihm zu. Jonas, der sich vor der Begegnung gefürchtet hatte, war überrascht, wie knochig und kalt sich die Hand anfühlte. Er suchte in Pauls Gesicht nach dem kleinen Bruder, der er einmal gewesen war. Aber er sah nur ein Gesicht, welches ihn an eine von Wasser gezeichnete Landschaft erinnerte. Und die Hand in seiner Hand wurde zu einem Lammrack. Er sah es neben anderen Fleischstücken in der Theke der Metzgerei liegen. Angewidert zog Jonas seine Hand zurück. Paul schaute ihn erschrocken an, als wäre etwas auf dem Fussboden zerschellt.

Der Nebel zwischen den Tannen des Friedhofs löste sich langsam auf. Die Sonne blendete Jonas, und er schwitzte unter seinem Jackett. Er wünschte sich, dass es anfing zu regnen. Ohne Alice fühlte sich Jonas verloren. Seit sie verheiratet waren, war er noch nie ohne sie zu einer Beerdigung gegangen. Sogar an Hannas offenem Grab hatte sie neben ihm gestanden.

Jonas sah sich nach Juna und Etna um. Von Weitem sah er Juna neben seiner Mutter stehen, die auf einem Stuhl am offenen Grab sass. Seine Mutter war in sich zusammengesunken und sah noch kleiner aus als sonst. Seit Alice’ Verschwinden hatte er seine Eltern nicht mehr im Altersheim besucht. Juna stand neben ihr, als wäre sie eine Kundin in ihrem Friseursalon. Eine Hand hatte sie ihr auf die Schulter gelegt. Sie schien ihr etwas zu erzählen, blickte dabei in die Ferne und lächelte. So ist sie. Juna, die sich um alles kümmert. Sogar am Grab ihres Grossvaters schien sie die Sorge um andere Menschen mehr zu bewegen als der Verlust eines Familienmitgliedes. Nur Etna war nicht gekommen.

Immer mehr Menschen strömten auf den Friedhof. Eine Schlange aus dunklen Stoffen bewegte sich auf das Grab zu. Jonas konnte sich nicht rühren, aus seinen Beinen war jede Muskelkraft gewichen, sie waren bleischwer. Automatisch nahm er die Hände, die ihm entgegengestreckt wurden, und nickte den Gesichtern zu. Diesen weissen Flächen, die sich über den schwarzen Stoffen hin- und herbewegten. Jonas blinzelte, aber die Gesichter blieben Flächen, ohne wiedererkennbare Strukturen. Niemand fragte nach Alice. Für alle anderen schien sie nicht mehr zu existieren. Später stolperte Jonas der Schlange hinterher und erreichte sie, als sie bereits einen Kreis um das Grab seines Vaters gebildet hatte. Dicht an dicht standen die Menschen, Jonas fand keinen Platz für sich. Er konnte kaum atmen, konnte nicht ruhig stehen. Der Pfarrer sprach von seinem Vater oder dem heiligen Vater im Himmel, das wusste Jonas nicht genau. Wie man einen Metzgermeister und Gott im gleichen Satz erwähnen konnte, war ihm ein Rätsel. Sein Vater war kein gläubiger Mensch gewesen. Am Sonntag ging er lieber in die Metzgerei hinunter als in die Kirche. Nicht, um zu arbeiten, sondern um auf einem Stuhl zu sitzen und Radio zu hören.

Jonas lief um den Kreis der Trauergemeinde herum und stellte sich vor, er sei die Zeigerspitze einer Uhr. Die Worte des Pfarrers wurden zu einem Gemurmel, das vom rhythmischen Schnäuzen und Schniefen der Menge getragen wurde.

Der Pfarrer schwieg. Taschentücher und Blumen wurden hin- und hergereicht. Die Schlange bewegte sich in Richtung Ausgang. Nur Juna und Jonas’ Mutter, die immer noch auf dem Stuhl sass, blieben zurück.

Jonas ging zu seiner Mutter, die noch immer mit starrem Blick vor dem Grab seines Vaters sass. Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Wangen. An seinen Lippen blieb die Feuchtigkeit ihrer Tränen hängen.

Er wollte etwas Tröstendes zu ihr sagen. Aber welche Worte konnten seine Mutter erreichen? Immer mehr hatte sie sich in den letzten Jahren in sich zurückgezogen. Ihr Körper schrumpfte in sich hinein. Falten bildeten sich, als wollten sie etwas verbergen. Die Lippen waren nun immer gekräuselt. Die Augen zogen sich in ihre Höhlen zurück. Nur ihre Haare wurden weder lichter noch weisser. Jeder nahm an, sie färbe sie heimlich. Die langen braunen Haare überdeckten demnächst den ganzen Körper, als wären sie ihr Kleid.

Seine Mutter war schon lange eine alte Frau. Auf dem Stuhl am Grab seines Vaters wurde sie für Jonas zu einer Greisin. Jonas fand keine Worte für sie. Er sah ihr in die Augen. Er suchte ihren Blick. Sie war so fern. Wusste sie, wo sie war? Wusste sie, was geschehen war? Wusste sie, wer er war? Jonas drückte seine Nase gegen die ihre. Für einen Augenblick war er wieder Kind. Seine Mutter lächelte und nieste ihm ins Gesicht.

Juna reichte ihm ein Taschentuch. Jonas legte den Kopf in den Nacken und das Taschentuch aufs Gesicht. Er begann zu lachen. Er wusste, jetzt zu lachen, war falsch. Aber das Lachen gurgelte in seinem Hals. Er lachte lauter. Das Taschentuch flatterte von seinem Gesicht, segelte auf den Boden. Er krümmte sich, hielt sich den Bauch. Sein Körper wurde durchgeschüttelt vom Lachen, das unaufhaltsam aus ihm heraus schall. Als ob eine andere Person aus ihm heraus lachte. Und je mehr er versuchte, dies zu verhindern, desto lauter wurde er. Juna versuchte, ihn zu umarmen. Er wehrte sich, schob sie von sich weg. Sie zog ihn an sich, und er wurde ruhig.

Jonas bleibt

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