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Jonas steht am Wohnzimmerfenster. Draussen regnet es. Die drei Kirschbäume im Garten zeigen ihr weisses Blütenkleid. Jonas schliesst die Augen, blinzelt zwischen den Wimpern hervor. Es könnte auch Schnee sein, der auf den Bäumen liegt. Jonas blinzelt sich ein Stück weiter zum Gartenhaus. Es flackert. Nein, es hüpft auf und ab. Sein Gartenhaus hüpft, als stehe es auf einem Trampolin. Jonas wundert sich, dass das schiefe Gartenhaus so lebendig ist. Nach dem ersten Hüpfer müsste es eigentlich in sich zusammenfallen. Bei ihm wäre das so. Die Knochen würde er sich brechen, sein Inneres wäre durcheinander. Dick- und Dünndarm würden sich unlösbar ineinander verschlingen. Leber, Milz und Gallenblase wären im Knäuel der Därme kaum mehr zu finden.

Könnte dieses Durcheinander wieder zu seiner alten Ordnung finden, wenn ich lang genug hüpfte?, fragt sich Jonas. Aber ein Organ bleibt ein Organ. Eine Worthülse für einen Raum, der auch nur eine Hülse ist.

Gerne hätte sich Jonas die Hand in den Mund gesteckt und durch die Kehle nach seinen Organen gegriffen und sie herausgezerrt. Eines nach dem anderen. Um sie vor sich auf dem Fenstersims aufzureihen. Übersichtlich, geordnet.

Danach hätte er sich erneut die Hand in den Mund gesteckt und durch die Kehle in den Innenraum gegriffen. Vielleicht hätte er ein Haarbüschel von Alice erwischt und sie aus sich herausgezogen. Vor ihm würde sie stehen, wie er sie vor einem Jahr das letzte Mal auf dem Balkon ihres Zimmers hatte stehen sehen. Das blaue T-Shirt zerknittert, die beige Wanderhose. Im Wind hat sie um die dünnen Beine von Alice geflattert. Sie lehnte sich an das Geländer und schaute in den Garten. Sie lehnte sich an das Geländer, als wäre es eine Schiffsreling. Jonas wollte sie umarmen. Aber Alice trug bereits den Rucksack am Rücken. Wer weiss, was sie dort alles eingepackt hatte, bevor sie verschwand?

Jonas blinzelt, das Gartenhaus hüpft weiter auf und ab. Wie viele Regengüsse hat dieses kleine Haus schon über sich ergehen lassen?, fragt er sich. Wie vielen Stürmen würde es noch standhalten? Seit Alice verschwunden ist, hat Jonas die Tür des Gartenhauses nicht mehr geöffnet. Wie es wohl drinnen aussieht?

Alice hatte sich schon lange ein Gartenhaus gewünscht. Jonas hatte es ihr aus Dankbarkeit gebaut. Sie zog mit ihm und Etna in das Haus ihrer früh verstorbenen Eltern ein. Zuvor hatte es zwei Jahre leer gestanden. Die Möbel und alle Gegenstände standen noch darin, als kämen ihre Eltern bald zurück. Einen Teil des Geldes, das Alice geerbt hatte, wollte sie in die Renovation des Hauses investieren.

Knapp zwei Jahre nachdem Jonas die Metzgerei von seinem Vater übernommen hatte, hielt er es dort nicht mehr aus. Der Vater kam jeden Tag ins Geschäft hinunter und fand immer etwas, das Jonas nicht richtig machte. So hatte er stets einen Grund, weiterhin in der Metzgerei zu arbeiten. Angeblich um Jonas zu helfen. Am Anfang schwieg Jonas in der Hoffnung, sein Vater würde ihn bald in Ruhe lassen. Als er sich dann doch zu wehren begann, endete jeder Arbeitstag mit mindestens einem ungelösten Streit.

Eines Tages verkündete er Alice: Ich werde keinen Tag länger in der Metzgerei arbeiten. Ich will nur noch weg.

Jonas sieht vor sich, wie sie damals heimlich in der kleinen, alten Wohnung über der Metzgerei das Nötigste in die Koffer und Kisten packten. Wie sie mitten in der Nacht, als aus der Wohnung seiner Eltern keine Geräusche mehr nach unten drangen, durch den strömenden Regen zu Alice’ Haus fuhren. Wie Alice den Schlüssel drehte, die schwere Holztür öffnete und er in die Eingangshalle trat. Hier hatte er sich sofort zu Hause gefühlt.

Er war nicht nur froh, den Launen des Vaters entkommen zu sein. Sondern auch diesem seltsamen Spiel von Nähe und Distanz, das seine Schwägerin Hanna mit ihm in der Metzgerei getrieben hatte. Alice erzählte er aber davon nichts.

Nachdem Jonas und Alice Metzgerei und Wohnung über Nacht verlassen hatten, sprachen seine Eltern und auch sein Bruder Paul kein Wort mehr mit ihm. Schweigen als Strafe, das kannte Jonas bereits von seinem Vater. Es war, als hätten sie als Familie beschlossen, dass dies seine gerechte Strafe sei. Er hatte keine andere Reaktion erwartet. Aber er wünschte sich, sein Vater würde ihn anschreien oder ihn ins Gesicht schlagen. Darauf hätte er etwas erwidern können. Wie sollte er anders auf kollektives Schweigen reagieren, als ebenfalls zu schweigen? Jonas konnte aber nicht verstehen, warum Paul wütend war. Er war nun Retter und Held. Hatte er doch nach Jonas Verschwinden sein Lehrerstudium für den Familienbetrieb geopfert und die Metzgerei übernommen.

Der richtige Moment, um das Gartenhaus zu bauen, war dann zwei Jahre später gekommen, als sie eine der sechs Tannen fällen lassen mussten. Sie war zu gross geworden und schwankte gefährlich im Wind. Jonas rief Paul an, sprach mit ihm als wäre nichts geschehen. Paul schien ihm in der Zwischenzeit verziehen zu haben und erklärte sich sofort bereit, zu helfen. Einen ganzen Tag lang beugte sich Paul über das Tannenholz und führte die Säge nach Jonas Anweisungen hin und her. Rastlos und mit viel Kraft. Jonas beobachtete seinen Bruder von der Terrasse aus. Den nackten Oberkörper und die sehnigen Arme. Einen Tag lang war Paul ein anderer Paul. Das Sägemehl staubte ins Gras.

Da flackert ein rostroter Fleck neben dem Gartenhaus. Jonas öffnet die Augen. Er sieht, wie der Fuchs hinter der Brombeerhecke verschwindet.

Jonas bleibt

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