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VII
ОглавлениеNicht, dass es vor Aristoteles keine Wissenschaft – oder zumindest Naturphilosophie – gegeben hätte, denn davon gab es reichlich. Zum Zeitpunkt seiner Geburt waren an den Küsten Anatoliens und Italiens philosophische Schulen, die sich eingehend mit dem Verständnis des Wesens der physikalischen Welt beschäftigten, entstanden und wieder vergangen. Die Griechen nannten diese Philosophen physiologoi, wörtlich »die über die Natur berichten«. Viele von ihnen waren kühne Theoretiker. Sie liebten Systeme, die mit pauschalen Begriffen den Ursprung der Welt erklärten, ihre mathematische Ordnung, das Material, aus dem sie besteht, und die Gründe, warum sie so viele verschiedene Dinge enthält. Andere waren Empiriker, die versuchten, den Himmel oder die Intervalle von Tonleitern zu vermessen. In ihren Schriften finden sich einige Zutaten der modernen Wissenschaft, auch wenn sie selten erahnen lassen, ob sie ihre Theorien anhand der Beobachtungen überprüften, die sie machten. Ihre Erklärungen zielten eher auf natürliche als auf göttliche Kräfte ab.
Ein Vergleich zweier Beinahe-Zeitgenossen macht den Wandel im Denken deutlich. Für den Mythografen Hesiod (bl.[∗] 650 v. Chr.) sind Erdbeben die Folge von Zeus’ Zorn; für den ersten der Naturphilosophen, Thales von Milet (bl. 575 v. Chr.) sind sie das Ergebnis der instabilen Lage der Erde, die auf einer Wasserfläche dahintreibt und gelegentlich von Wellen in Aufruhr versetzt wird. Der Unterschied könnte nicht deutlicher sein: auf der einen Seite eine Erklärung, die übernatürliche Wesen unergründlicher Altertümlichkeit heraufbeschwört, auf der anderen eine Erklärung, die auf rein physikalischen Kräften basiert – unabhängig davon, dass sie falsch ist.
Und doch ist der Vergleich nicht das, was er zu sein scheint. Zum einen können wir nicht sicher sein, dass es sich wirklich um Thales’ Theorie handelt.[∗∗] Keiner seiner Texte hat die Zeiten überdauert; nach allem, was wir wissen, könnte er gar keine geschrieben haben. Seneca der Jüngere berichtet in seinen Naturwissenschaftlichen Untersuchungen über die Erdbebentheorie. Da er sie etwa 500 Jahre nach Thales’ Tod schrieb und nicht viel zu seinen Quellen angibt, können wir uns fragen, ob Seneca – oder wir – überhaupt irgendeine Vorstellung davon hatte, was Thales wirklich über Erdbeben oder etwas anderes dachte, obwohl ihm tatsächlich übereinstimmend nachgesagt wird, er hätte 585 v. Chr. eine Sonnenfinsternis vorhergesagt. Dasselbe gilt für einen großen Teil der übrigen frühen – »vorsokratischen« – griechischen Denker. Der gesamte Korpus ist uns in Fragmenten überliefert, die in den Texten späterer Denker begraben liegen. Diesen wiederum muss man unterstellen, dass sie nicht selten mit ihren Zitaten recht freizügig umgingen oder sie gar frei erfanden. Gelehrte nennen diese Texte »doxografisch« und sie sind ihnen Freud und Leid zugleich.
Freilich lassen sich ausreichend Fragmente sammeln und wiederherstellen, um dicke Bücher zu füllen. Und diese Fragmente erzählen tatsächlich von einem neuen philosophischen Geist im Griechenland des fünften Jahrhunderts. Aber Unterscheidungen, die für uns heute ganz offensichtlich sind, etwa zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, zwischen Philosophie und Mythos, waren es vor zwei Jahrtausenden und mehr noch nicht. In seiner Metaphysik gibt Aristoteles, selbst eine unerschöpfliche Quelle von Fragmenten, einen Überblick über das, was frühere Denker über die »Grundursachen« der Welt gesagt hatten. Er ordnet Thales die Theorie zu, dass alles vom Wasser abstammt. Das ist eine vollkommen vernünftige, wenn auch etwas ungenaue, Vorstellung, die eine eigenständige Diskussion verdient. Aristoteles nimmt sie vor – und verwirft sie. Und, fährt er fort, einige glauben, dass Thales’ Ansichten sehr denen der »Männer in der fernen Vergangenheit (weit vor der jetzigen Generation)« ähneln, »die erstmals von den Göttern berichteten«.
Hier stutzen wir plötzlich. Ja, die Mythen sind vielleicht alt, aber doch nicht so alt, dass sie in einer hochspezifischen Diskussion darüber, woraus die Welt grundsätzlich besteht, nicht vorgebracht werden dürften. Und dann, wenige Abschnitte später, nachdem er Thales in einen Topf mit den Vorvätern geworfen hat, beschließt Aristoteles, ein wenig Hesiod zu analysieren – »Siehe, vor allem zuerst ward Chaos; aber nach diesem ward die gebreitete Erd’, ein dauernder Sitz den gesamten Ewigen« – und zu prüfen, ob sich darin etwas Wissenschaftliches verbirgt. Hesiod mag ein Mythograf gewesen sein, aber für Aristoteles ist er trotzdem einen flüchtigen Blick wert.
Und das ist das Problem, wenn man den Naturalismus zum Kennzeichen der vorsokratischen Gedankenwelt macht. Die physiologoi »lassen« nicht immer »die Götter beiseite«; das Göttliche lauert in der Regel immer noch irgendwo in ihren Kosmologien. Als sie fragten: »Was ist der Ursprung der Welt?«, gaben einige von ihnen Antworten, die so kreationistisch waren wie die eines Christen, andere wiesen auf abstraktere Kräfte hin wie die Liebe selbst, wieder andere waren überzeugte Materialisten und hielten die Welt für selbstorganisiert. Von Hesiod bis Demokrit tritt der Schöpfer vor, zieht sich zurück oder macht es sich manchmal auch einfach gemütlich und sinnt über sich selbst nach.
Vielleicht also sind das, was die physiologoi als frühe Wissenschaftler ausmacht, nicht so sehr ihre naturalistischen Erklärungen für die Geheimnisse, die die Welt präsentiert, sondern die rationalen. Sie glaubten, dass man Weisheit nicht einfach empfangen muss, sondern dass man Konzepte diskutieren und gegebenenfalls auch verwerfen sollte. Sie stritten untereinander und mit denen, die vor ihnen da gewesen waren, sie brannten für ihre Ideen. Man höre nur, wie Heraklit (bl. 500 v. Chr.) einige seiner Vorgänger bewertet: »Großes Wissen lehrt noch keine Einsicht, denn sonst hätte es Hesiod und Pythagoras und auch Xenophanes und Hekataios gelehrt.« Gemein – und unverkennbar ist hier ein Intellektueller am Werk.
Die meisten physiologoi hatten kein großes Interesse an der Biologie. Empedokles (um 492–432 v. Chr.) war eine Ausnahme. Der Sizilianer adliger Herkunft war ein Redner, Dichter, Politiker, Heiler und charismatischer Seher. In den ersten Zeilen seines religiösen Gedichts Reinigungen stellt er sich als unsterblichen Gott vor und beschreibt, wie Tausende zu ihm strömen, wenn er in eine Stadt kommt, und Heilungen und Orakel von ihm verlangen – Bitten, denen er bei mindestens einer Gelegenheit nachkam, indem er die Toten erweckte. Also ein Jesus mit Ego oder ein Zarathustra mit Attitüde, aber er war auch ein unglaublich einflussreicher Naturphilosoph, der Über die Natur verfasste, mehrere tausend Zeilen in Versform, in denen sich unter anderem eine Kosmogonie, eine Zoogonie, eine mechanistische, wenn auch unplausible, Theorie über die Atmung und eine Vier-Elemente-Chemie finden, die Aristoteles später übernehmen sollte.
Empedokles’ Biologie spiegelte die medizinischen Überlieferungen und Praktiken seiner Zeit wider. Dasselbe galt für sein Verlangen nach Magie und Mystizismus. Doch während er noch in Sizilien herumsprang und vor staunenden Menschenmengen Wunderheilungen vollbrachte, ging auf der anderen Seite des Mittelmeers Hippokrates (bl. 450 v. Chr.?) zur Schule. Auf der Plateia der Stadt Kos steht eine uralte, knorrige Platane, unter der – so behauptet es jedenfalls die Tafel – der erwachsene Hippokrates einst saß und Heilmittel und Weisheiten verteilte. Es kann nicht derselbe Baum sein, aber andererseits stammen die medizinischen Schriften, die Hippokrates zugeschrieben werden, wahrscheinlich auch nicht von ihm. Teile des Corpus Hippocraticum, ein Potpourri aus rund sechzig Schriften, sind alt genug, um von ihm oder seinen Schülern geschrieben worden zu sein, andere jedoch datieren etwa aus dem ersten Jahrhundert nach Christus.
Die meisten sind nüchterne, professionelle Texte, die naturalistische Erklärungen für Krankheiten liefern. Bei einigen handelt es sich um einfache Fallstudien, andere dagegen sind intellektuell anspruchsvoller. Der Autor von Über das Fleisch schreibt, er wolle »erklären, wie der Mensch und die anderen Tiere geformt werden, also zustande kommen, was die Seele ist, was Gesundheit und Krankheit sind, was das Schlechte und das Gute im Menschen sind und was zum Tod führt«. Tief schürfend oder banal, jedenfalls unterscheiden sie sich sehr von Empedokles’ Ergüssen. Folgendes sagt »Hippokrates« über das Heilen akuter Krankheiten:
Häufig findet man in solchen Fällen »Oxymel« [Sauerhonig] als Trank äußerst hilfreich. Er hilft, das Sputum heraufzubringen, und fördert die Atmung. Am besten wendet man ihn unter den folgenden Bedingungen an: Mit viel Säure ist er besonders wirkungsvoll in Fällen, bei denen das Sputum schwierig abzuhusten ist. Indem er das Sputum schmiert, erleichtert er das Abhusten und reinigt so die Luftröhre wie mit einer Feder. Dies beruhigt die Lunge und bringt Erleichterung. Und wenn er zusammen mit anderen Maßnahmen diese Wirkungen erbringt, muss er viel Gutes tun.
Und hier Empedokles’ Ansatz:
Alle Heilmittel, die es geben mag, Schutz gegen Übel und Alter/wirst du allein kennen; ich werde dafür sorgen, dass du sie alle kennst. / Du wirst den Winden Einhalt gebieten, ihrem unermüdlichen Herabstoßen/auf das Land, ihrem wirbelndem Atem, der mit dörrender Kraft die Felder streift. / Auch wirst du, wenn du es willst, ebenso starke Wirbel heraufbeschwören … / Selbst aus dem Hades wirst du Menschen emporholen, deren Kraft über die Zeit dahingeschwunden ist.
Aristoteles hätte Empedokles’ Stil »unreifes Gestammel« genannt.
Es hat vielleicht den Anschein, dass Aristoteles, um ein Wissenschaftler zu werden, nur eine Verbindung zwischen den forschenden, missmutigen physiologoi und den hartnäckigen empirischen Medizinern stiften musste. Und genau das hat er auch getan. Dass es ihm jedoch gelang, ist der Kraft seines Geistes zu verdanken.