Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 9
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ОглавлениеIn der Altstadt von Athen gibt es einen Buchladen. Es ist der reizendste, den ich kenne. Er liegt in einer Gasse nahe der Agora, neben einem Geschäft, das Kanarienvögel und Wachteln in Käfigen verkauft, die an der Fassade festgebunden sind. Breite Jalousielamellen lassen Lichtstrahlen herein, die auf japanische Holzblockdrucke auf einer Staffelei fallen. Im Halbdunkel dahinter Kisten voller Lithografien und stapelweise topografische Karten. Terrakottakacheln und Gipsbüsten antiker Philosophen und Dramatiker dienen als Buchstützen. Es duftet nach warmem, altem Papier und türkischem Tabak. Die Stille wird nur vom gedämpften Trillern der Singvögel nebenan unterbrochen.
Ich war schon so oft hier und es ändert sich hier so wenig, dass ich mich kaum daran erinnern kann, wann genau ich zum ersten Mal George Papadatos’ Buchladen betrat. Aber ich weiß noch, dass es im letzten Frühling der Drachme war, als Griechenland noch arm und billig war und man in Ellinikon landete, wo die klackernden Flugtafeln Istanbul, Damaskus, Beirut und Belgrad anzeigten und man sich immer noch fühlte, als sei man in den Osten gereist. George – strähniges graues Haar, mit dem Schmerbauch eines Büchermenschen – saß an seinem Schreibtisch und las ein altes französisches politisches Traktat. Vor vielen Jahren, erzählte er mir, hatte er in Toronto gelehrt, »aber in Griechenland gab es noch Poeten«. Er kehrte zurück und nannte sein Geschäft nach der lyrischen Muse.
Ich überflog die Regale und sah Andrew Langs Odyssey und drei Bände von Jowetts Plato. Bücher, die einem Engländer gehört haben könnten, einem Lehrer vielleicht, der seinen Ruhestand in Athen verbrachte, von seiner Pension lebte und dort mit einem Sinnspruch von Kallimachos auf den Lippen starb. Wer immer er war, er hatte außerdem eine Reihe in sattem Blau hinterlassen, die kompletten Works of Aristotle Translated into English, herausgegeben von J. S. Smith und W.D. Ross und zwischen 1910 und 1952 veröffentlicht. Für die alten Philosophen hatte ich mich nie besonders interessiert, ich bin schließlich Wissenschaftler. Aber ich hatte Zeit und wollte die Ruhe des Ladens nicht so schnell wieder verlassen. Außerdem war mir der Titel des vierten Bandes der Reihe ins Auge gefallen: Historia animalium[∗]. Ich öffnete ihn und las etwas über Muschelschalen.
Ferner zeigen auch die Schalen selbst mancherlei Unterschiede. Die einen haben glatte Schalen, wie die Scheidenmuscheln, Miesmuscheln und die unter dem Namen Galakes bekannten Muscheln, andere haben raue Schalen, wie die Limnostrea, die Steckmuscheln, einige Herzmuschelarten und die Trompetenschnecken. Von den Letzteren haben manche gerippte Schalen, wie die Kammmuscheln und eine Herzmuschelart, andere ungerippte, wie die Steckmuscheln und eine Venusmuschelart.
Das Schneckenhaus, für mich immer die Schale, hatte im Sonnenlicht auf der Fensterbank eines Badezimmerfensters gelegen, begraben in Sedimentschichten des Rasiertalkums meines Vaters, scheinbar für alle Zeiten. Meine Eltern mussten es irgendwo an der italienischen Küste aufgesammelt haben, jedoch konnte sich niemand erinnern, ob es in Venedig, Neapel, Sorrento oder Capri gewesen war. Ein Sommersouvenir also aus der Zeit, als sie noch jung und frisch verheiratet waren; doch mein Begehren, dem solche Assoziationen gleichgültig waren, galt dem Objekt selbst: den schokoladenbraunen Flammen ihrer spiraligen Windungen, dem tiefen Orange ihrer Öffnung, der Milchigkeit ihres unerreichbaren Inneren.
Ich kann sie so genau beschreiben, weil ich sie heute noch vor mir habe, obwohl es so viele Jahre her ist. Ein perfektes Exemplar einer Charonia variegata (Lamarck), wie sie in minoischen Fresken und in Sandro Botticellis Venus und Mars auftaucht. Die Trompete ägäischer Fischer, wettergegerbte Schalen mit einem Loch in der Spitze, sind heute noch an den Ständen von Monastiraki zu finden. Aristoteles kannte sie als keryx, was so viel heißt wie »Herold«.
Es war die erste von vielen: Muschelschalen und Schneckenhäuser, offensichtlich unendlich vielfältig und doch einer tiefen formalen Ordnung von Formen und Farben und Strukturen gehorchend, die sich in Schuhkartons endlos neu sortieren ließen, bis mein Vater schließlich einsah, dass die Besessenheit mich nicht verlassen würde, und eine Vitrine bauen ließ, in dem alle Platz fanden. Eine Schublade für die glänzenden Kaurischnecken, eine für die aufregend giftigen Kegelschnecken, eine für die filigranen Murex, andere für die Olivenschnecken, die Marginella, die Wellhornschnecken, Konchas, Tonnenschnecken, Strandschnecken, Kahnschnecken, Turbanschnecken und Napfschnecken, mehrere für die Muscheln und zwei, mein ganzer Stolz, für die afrikanischen Landschnecken, riesige Kreaturen, die einer gemeinen Gartenschnecke kaum mehr ähnelten als ein Elefant einem Kaninchen. Die reinste Freude! Der heroische Beitrag meiner Mutter bestand darin, den Katalog mit der Schreibmaschine zu tippen – ich war Aronnax, sie mein Conseil, eine Expertin für die lateinische Hierarchie der Weichtier-Taxonomie, wenn auch ihr Wissen vollkommen theoretisch blieb, da sie kaum eine Art von der anderen zu unterscheiden wusste.
In der Überzeugung, dass mein Beitrag zur Wissenschaft in umfassenden Weichtier-Monografien bestehen würde, die für die nächsten hundert Jahre (mindestens) der Weisheit letzter Schluss auf dem Gebiet der Achatinidae der afrikanischen Wälder sein würde oder vielleicht auch – da meine Aufmerksamkeit sich gern ablenken ließ – auf dem Gebiet der Buccindae des Nordpazifiks, ging ich mit achtzehn fort, um in einer Forschungsstation am Rand eines kleinen kanadischen Meeresarms Meeresbiologie zu studieren. Dort zeigte mir ein Meeresökologe, ein Furcht einflößender, Blaubart-ähnlicher Kerl, dessen ungestüme Ungeduld nur durch seine ebenso große Freundlichkeit in Schach gehalten wurde, wie man mit einer nadelspitz gefeilten Pinzette die reispapierartigen Gewebeschichten einer Schnecke voneinander löst und damit die strenge funktionelle Logik enthüllt, die darin verborgen liegt. Ein anderer, ein professoraler Cowboy-Ästhet – die Kombination erscheint unvereinbar, und doch war er wie aus einem Guss –, lehrte mich, richtig über die Evolution nachzudenken, und das heißt, über fast alles. Ich hörte eine Legende sprechen, einen Wissenschaftler, der Laotses hagere Wangen und seinen dünnen Bart hatte, von Kindheit an blind war und einen Teil der empirischen Welt entdeckt hatte, der erforscht werden konnte, ohne ihn zu sehen – die Form der Muschelschalen und Schneckenhäuser natürlich – und ihre Geschichten nur über die Berührung zu erzählen wusste. Es gab auch ein Mädchen dort. Es hatte windgerötete Haut und schwarzes Haar und konnte ein Festrumpfschlauchboot mit zwei 60-PS-Johnson-Außenbordern durch zwei Meter hohe Brandungswellen steuern, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
All das ist, wie gesagt, lange her. Die taxonomischen Monografien schrieb ich nie. Die Wissenschaft schickt einen immer auf vollkommen unvorhersehbare Wege, und als ich George Papadatos’ Buchladen betrat, hatte ich meine Schneckenhäuser schon lange weggelegt. Doch es kam alles zurück, als ich Aristoteles’ Ausführungen zu den Schalen und Gehäusen las und beim Weiterblättern über seine Beschreibung der inneren Anatomie der Lebewesen stolperte, die sie herstellen:
An den Mund schließt sich unmittelbar der Magen an, welcher einem Vogelkropf ähnelt. Daran befinden sich unten zwei weiße, derbe, zitzenähnliche Körper, wie sie sich auch bei den Sepien finden, nur dass sie hier noch derber sind. Vom Magen aus geht eine einfache lange Speiseröhre bis zu der leberähnlichen Mekon, welche sich im Grunde der Schale befindet. Diese Teile zeigen sich bei den Purpurschnecken und den keryx in der Windung der Schale. Was sich an die Speiseröhre anschließt …
Vielleicht wundert es Sie, dass so unverblümte Worte Schönheit vermitteln können, aber für mich taten sie es. Es war nicht nur reine Nostalgie, obwohl diese sicherlich ihren Teil beitrug. Nein, es war vielmehr so, dass ich verstand. Ich verstand entgegen allen Erwartungen und Wahrscheinlichkeit, was er meinte. Er war offenbar zum Strand gegangen, hatte eine Schnecke aufgehoben, hatte sich gefragt: »Was steckt darin?«, hatte nachgesehen und hatte gefunden, was ich gefunden hatte, als ich 23 Jahrhunderte später dasselbe tat. Wir Wissenschaftler neigen ebenso wenig dazu, in den Seitenpfaden der Geschichte zu stöbern, wie wir uns metaphysischen Spekulationen hingeben. Wir sind von Natur aus fortschrittlich. Aber das war zu wunderbar, um es nicht zu beachten.