Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 20
XI
ОглавлениеIm Jahr 348 oder 347 v. Chr. verließ Aristoteles plötzlich Athen. Es gibt mindestens zwei Berichte, die den Grund zu erklären versuchen.
Im ersten geht er aus Groll. Zwanzig Jahre hat er in der Platonischen Akademie gearbeitet. Seine Kollegen nennen ihn »der Leser«, aber er ist auch originell. Vielleicht zu originell. Platon gab ihm den leicht schroffen Beinamen »das Fohlen« – er meinte damit, dass Aristoteles nach seinen Lehrern trat wie ein Fohlen nach der Stute. Älian erzählt Jahrhunderte später eine Geschichte, die Aristoteles nicht gerade schmeichelt und Machtkämpfe in der Akademie anklingen lässt: Eines Tages lustwandelt der ältliche Platon, tatterig und nicht mehr ganz so scharfsinnig, in den Gärten der Akademie, als er auf Aristoteles und seine Gang trifft, die ihm eine philosophische Abreibung verpassen. Platon zieht sich nach drinnen zurück und Aristoteles’ Bande besetzt monatelang den Garten. Speusippos kann gegen die Thronräuber nichts ausrichten, aber Xenokrates, ein weiterer Loyalist, bringt sie schließlich zum Weiterziehen. Wer weiß, ob die Geschichte wahr ist; sicher ist jedoch, dass nach Platons Tod das höchste Amt nicht Aristoteles zufiel, sondern Speusippos, und dass Aristoteles genau zu jener Zeit, ob zufällig oder nicht, gen Osten aufbricht.
In einer anderen Version treibt die Politik und nicht der Groll Aristoteles in die Flucht. Aristoteles hat enge Verbindungen zum makedonischen Hof. Amyntas’ Sohn Philipp II. lässt im griechischen Hinterland seine militärischen Muskeln spielen. Gerade hat er Olynth, eine mit Athen verbündete Stadt, dem Erdboden gleichgemacht und ihre Bürger zusammen mit einer Garnison athenischer Soldaten in die Sklaverei verkauft. In Athen wiegelt Demosthenes die Bürger in nie gekanntem Ausmaß zur Fremdenfeindlichkeit auf. Aristoteles macht sich aus dem Staub, solange er noch kann.
Die alten Quellen sind sich einig, dass Aristoteles nach Osten ging, als er Athen verließ: über die Ägäis an die Küste Kleinasiens, den Rand der hellenischen Welt, wo Mikrostaaten gefährlich durch die Strömungen der athenischen, makedonischen und persischen Machtspiele lavierten. Unter diesen befand sich auch Assos, ein Stadtstaat an der Südküste der Halbinsel Troas. Assos und ihre Schwesterstadt Atarneus wurden von Hermias regiert. Wenig ist über ihn bekannt, außer dass seine Herkunft im Dunkeln liegt, er für kurze Zeit an der Macht war und einen schrecklichen Tod starb. Er soll sein Leben als Sklave eines Bankiers begonnen haben, des amtierenden Tyrannen von Assos, der seine Talente erkannte, ihn freiließ und ihn schließlich zu seinem Erben machte. Er soll in der Platonischen Akademie ausgebildet worden sein. Er soll ein Eunuch gewesen sein. Vieles davon mögen Gerüchte sein, um seinen Ruf zu stärken oder zu beschmutzen – die alten Quellen sind selten unparteiisch. Wo auch immer er herkam, offenbar war er eine Art Intellektueller, denn als er 351 Tyrann wurde, lud er mehrere Akademiker an seinen Hof ein, darunter auch Aristoteles.
In der Politeia spricht Platon davon, wie im idealen Staat die politische Macht durch die Weisheit der Philosophie gemäßigt würde. Im Streben nach diesem Ideal war Platon nach Sizilien gereist, um für den lasterhaften Dionysios II. von Syrakus den Weisen zu spielen, ein Projekt, das ihn fast das Leben gekostet hätte. Vielleicht war Hermias also ein erneuter Versuch der Akademiker, einen Philosophenkönig zu schaffen; ein spätes biografisches Fragment deutet darauf hin, dass die drei Jahre, die Aristoteles in Assos verbrachte, viel dazu beitrugen, die Unerbittlichkeit der Herrschaft des Tyrannen zu mildern. Wenn dem so war, nahm auch dieses Projekt keinen guten Ausgang. Hermias hegte Sympathien für Makedonien. 341 sah sich Athen durch den makedonischen Expansionismus bedroht und befahl Philipp, seine Truppen aus Troas abzuziehen. Er gehorchte. Hermias hing nun in der Luft und die Perser, Athens vorübergehende Verbündete, fingen, folterten und töteten ihn. Aristoteles ging der Verlust sehr nahe. Jahre später errichtete er in Delphi eine Statue für den Tyrannen mit der Inschrift:
Wie er behandelt wurde, war abscheulich und sprach jedem Respekt vor der göttlichen Gerechtigkeit Hohn. Sein Mörder? Der König der bogentragenden Perser. Es war kein öffentlicher Streit, kein tödlicher Speerkampf, der ihn niederstreckte. Nur die Unaufrichtigkeit eines Mannes, dem er vertraut hatte.
Man erzählt sich auch, dass er jeden Tag einen Päan auf seinen ermordeten Freund sang – vielleicht die Hymne, die Diogenes Laertios in seinem Vitae Philosophorum verzeichnete. Diese Rührseligkeit mag übertrieben erscheinen, aber es ist auch bekannt, dass Aristoteles ein Mädchen namens Pythia heiratete, die Hermias’ Nichte oder vielleicht sogar seine Tochter war. Er war 38 oder 39 Jahre alt, seine Braut vermutlich sehr jung. (In Politik sagt, Aristoteles, das beste Heiratsalter für einen Mann sei 37, für eine Frau 18.) »Einen Myrthenzweig und eine schöne Rose/hielt sie anmutig in den Händen und ihr Haar/fiel wie Dunkelheit über ihren Rücken und ihre Schultern …« – so Archilochos über ein anderes Mädchen aus einem anderen Ort und einer anderen Zeit, aber so stelle ich sie mir vor.
Griechisches Mädchen