Читать книгу Die Lagune - Armand Marie Leroi - Страница 19
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ОглавлениеPlatons Timaios erzählt die Schöpfung des Kosmos und all dessen, was in ihm ist: Zeit, die Elemente, die Planeten und Sterne, Menschen und Tiere. Trotz seiner Kürze will das Werk enzyklopädisch sein und Ontologie, Astronomie, Chemie, Sinnesphysiologie, Psychiatrie, Lust, Schmerz, menschliche Anatomie und Physiologie abdecken – mit einem Exkurs darüber, warum die Leber die Quelle von Prophezeiungen ist – sowie den Ursprung von Krankheit und sexuellem Verlangen. All dies lässt es aussehen wie ein naturphilosophisches Werk.
In diesem Fall wäre es ein sehr merkwürdiges. Weder wissenschaftliche Zitate noch empirische Belege oder auch nur besonders viele begründete Argumente finden sich im Timaios; es kommt vielmehr in Form eines Salon-Monologes daher und stellt mit seelenloser Selbstsicherheit eine unplausible Behauptung nach der anderen auf. Aus einer tiefen Religiosität heraus will es zeigen, warum ein göttlicher Arbeiter, der dēmiourgós, die Welt erbaute. Es ist außerdem eine politische Propagandaschrift, die zeigt, wie die ideale Stadt der Politeia in Wirklichkeit aussähe. Tatsächlich ist nicht einmal klar, ob Platon den Timaios als Beitrag zur Naturphilosophie gemeint hat. Er behauptet, er wolle über die sichtbare Welt berichten; er beginnt jedoch mit der Warnung, dass er nur einen eikōs mythos erzählt, eine plausible Geschichte. Teilweise liegt das daran, dass er wirklich nach einem Bericht über die Welt hinter den Sinnen strebt, und dass jeder Bericht der fehlerhaften, aber sichtbaren Welt, eine unsichere Entsprechung zur perfekten, aber unsichtbaren abgäbe. Es liegt aber auch daran, dass er kein großes Interesse daran hat, einen rationalen Bericht auch nur über diese Welt zu liefern.
Platon verrät sich mit seiner Darstellung des Ursprungs der Tiere. Einst, sagt er, gab es Menschen, die in unterschiedlichem Ausmaß entartet oder auch nur tumb waren. Sie wurden gemäß ihren Untugenden in die verschiedenen Tiere verwandelt – Krabbeltiere, Schalentiere und Ähnliches. Vögel »entstanden durch die Formänderung der harmlosen, aber schwachsinnigen Menschen, die ihre Aufmerksamkeit den Dingen am Himmel zuwandten, aber in ihrer Einfachheit annahmen, dass der sicherste Beweis in diesen Dingen der des Auges sei.« Damit meint er die Astronomen.
Glaubte Platon wirklich, dass Vögel wiedergeborene Naturphilosophen waren? Oder ließ er sich nur nicht die Gelegenheit entgehen, einen billigen Witz zu reißen? Wir wollen großzügig sein und Letzteres annehmen, denn Ersteres ist selbst nach den dehnbaren Maßstäben der Zoologie des vierten Jahrhunderts allzu bizarr. Doch dieser Witz verrät die wahre Natur des Timaios: Er ist gar kein naturphilosophisches Werk, sondern ein Gedicht, ein Mythos, ein behäbiges jeu d’esprit, das in seiner eigenen Zweideutigkeit schwelgt.
Das Urteil mag hart erscheinen. Platon teilte die Faszination der Pythagoräer für Geometrie und der Timaios enthält einen der ersten Versuche, anhand von Mathematik die natürliche Welt zu beschreiben. »Lasst niemanden der Geometrie Unkundigen hier eintreten« soll eine Inschrift im Türsturz über dem Eingang zur Akademie gelautet haben. Derselbe Satz steht über den Türen des Fachbereichs Physik an jeder beliebigen Universität, in den man nur mit einer Magnetkarte gelangt, auch wenn er vielleicht nicht zu sehen ist. Und wenn Platons Wissenschaft sich kaum von der Theologie unterscheiden lässt, so gilt das den Äußerungen einiger Physiker zufolge auch für die moderne Wissenschaft: »Wenn wir eine vollständige Theorie entdeckten, wäre das der ultimative Triumph der menschlichen Vernunft – dann nämlich könnten wir Gottes Plan erkennen.« Platon? Nein, Hawking.
Der Vergleich rettet Platon allerdings nicht. Ein Beispiel für seinen Stil der mathematischen Modellierung: »Die zweite Art von Festkörpern wird aus denselben Dreiecken gebildet, die sich als acht gleichseitige Dreiecke vereinen und einen festen Winkel aus vier Ebenenwinkeln bilden, und aus sechs solcher Winkel entsteht der zweite Körper. Und der dritte Körper besteht aus 120 dreieckigen Elementen, die … [etc.]« Dies stammt aus einem Abschnitt über die Elemente, geschrieben von einem Mann, der offenbar dem Mysterium der Zahlen vollständig verfallen ist.
Auch können wir Platon nicht einfach mit seinem Alter entschuldigen. Zugegebenermaßen hatten auch die physiologoi eine Schwäche für das Theoretisieren frei von den Zwängen empirischer Belege. Aber wenigstens meinten sie, was sie sagten. Sie machten sich weder lustig noch versteckten sie sich hinter Mythen. Darüber hinaus sollte wenige Jahre nachdem Platon den Timaios verfasst hatte, einer seiner eigenen Schüler einen unermüdlichen, durchdachten Angriff auf die Zitadelle der Realität beginnen, dieser Realität, der in modern gedruckter Form über tausend Seiten lang ist: eine im doppelten Wortsinn erschöpfende Analyse dessen, was seine Vorgänger über die Ursachen und Struktur der natürlichen Welt dachten, warum diese Vorgänger (meistens) unrecht hatten, seine eigenen Theorien zu diesen Dingen und die empirischen Daten für seine Annahmen. Aristoteles würde sich vom Idealismus seines Lehrers abwenden und die Welt, unsere Welt, als das sehen, was sie ist: als etwas, das schön und aus diesem Grund einer eigenständigen Untersuchung wert ist. Er würde sich ihr mit der Demut und Ernsthaftigkeit nähern, die sie verdient. Er würde sie sorgfältig beobachten und keine Scheu haben, sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Er würde der erste wahre Wissenschaftler werden. Dass er sich aus eigenem Antrieb dazu entwickelte, nachdem er bei einem der überzeugendsten Intellektuellen aller Zeiten gelernt hatte – das ist das Geheimnis an Aristoteles. Alles, was er jemals erklärend dazu äußerte, war: »Die Pietät erfordert es, dass wir die Wahrheit über unsere Freunde stellen.«