Читать книгу Prekäre Eheschließungen - Arno Haldemann - Страница 13
Reformatorische Vorgeschichte
ОглавлениеNachdem es Huldrych Zwingli 1523 gelungen war, die Reformation in Zürich zu installieren, griff diese bald auf weitere Deutschschweizer Kantone über. Schon vorher erreichten durch einen Buchhändler 1518 erste Schriften des Zürcher Reformators Bern.1 Die Reformation benötigte hier allerdings noch rund zehn Jahre, bis sie durch die Berner Disputation von 1528 und die Verabschiedung des Reformationsmandats endgültig etabliert war.2
Diese Entwicklung hatte nicht nur weitreichende theologische und ekklesiologische Folgen. Durch den Anschluss der Berner Obrigkeit an die Reformation übernahmen die Magistrate auch die Hoheit und Kontrolle über sämtliche kirchliche Angelegenheiten, dabei auch die Matrimonialgerichtsbarkeit, was de facto ein reformiertes Staatskirchentum in den Grenzen Berns zur Folge hatte. Die Autorität der Bischöfe von Sion, Lausanne, Basel und Konstanz, deren Diözesen Teile von Berns Herrschaftsgebiet abgedeckt hatten, wurde im Territorium, in dem Bern Alleinherrschaft genoss,3 von Berns Obrigkeit annulliert und übernommen.4 Fortan fielen die Bestimmungen über die Ehegerichtsbarkeit und Sittenzucht den weltlichen Machthabern zu – nota bene selbst alle verheiratete Hausväter aus regimentsfähigen Berner Geschlechtern. Damit wurde ein zentrales Handlungsfeld der Kirche, das starke Auswirkungen auf das Leben von Frauen und Männern hatte, weltlicher Aufsicht unterstellt.5 Das in den Worten Luthers „päpstlich verdammte Gesetz“6 der Römer Kurie – gemeint war damit das kanonische Eherecht – wurde in den reformierten Kantonen der Eidgenossenschaft durch ständisch verfasste Ehegesetze der jeweiligen Magistrate ersetzt. Zürich erließ auf Zwinglis Vorschlag hin bereits am 10. Mai 1525 eine als Provisorium gedachte Ehegerichtsordnung, die in ihren Grundzügen von den anderen reformierten Deutschschweizer Kantonen bald nach der jeweiligen Einführung der Reformation adaptiert wurde. Bern erließ am 17. Mai 1529 die „Artickel und satzung, die ee beträffend“,7 die von da an bis ins 19. Jahrhundert mit einigen Modifikationen dem Anspruch nach ihre Gültigkeit behielten und inhaltlich große Konstanz besaßen.8 Ihre letzte umfassende Revision erfuhr die Berner Ehegesetzordnung am Vorabend der Französischen Revolution im Jahr 1787. Die daraus resultierende Version behielt faktisch bis zum Erlass der Berner Zivilgesetzordnung von 1824 ihre Gültigkeit, die ihrerseits zahlreiche Aspekte aus der reformierten Berner Ehegesetzgebung übernahm und damit nach wie vor markante normative Kontinuitäten aufwies.
Parallel zu den Ehegerichtsordnungen wurden in den reformierten Kantonen auf kommunaler wie kantonaler Ebene Ehegerichte installiert, die je nach Ort und Zeit auch Chorgerichte oder Konsistorien genannt wurden. Von der kulturgeschichtlichen Forschung werden sie primär als Instanz der sittlich-moralischen Disziplinierung der Bevölkerung durch die Obrigkeit interpretiert,9 deren disziplinarischer Erfolg aber vom 16. zum 18. Jahrhundert kontinuierlich abzunehmen schien.10 Sie wurden sowohl mit zum Teil juristisch gebildeten und mit Ämtererfahrung beschiedenen Assessoren als auch theologisch geschultem Personal besetzt. In den Gemeinden auf dem Land waren die wohlhabenden Bauern unter den Chorrichtern übervertreten. Allerdings hat Schmidt aufgezeigt, dass die kommunalen Ehegerichte eine breite Trägerschicht aufwiesen. Die Ambiguität zwischen zivilem und religiösem Charakter der Ehe in der reformierten Theologie bildete sich folglich auch in der dualen Besetzung des Gerichts mit Pfarrern, die in Bern auf lokaler Ebene als Schreiber amteten, und Amtsleuten, die als Richter fungierten, ab.11 Es würde allerdings entschieden zu kurz greifen und den reformatorischen Ausspruch über die Ehe als „ein weltlich Ding“ falsch akzentuieren, wenn man die Entwicklungen deswegen in ein modernisierungstheoretisches, teleologisches Säkularisierungsnarrativ eingliedern würde.12 Obwohl die Chorgerichte keiner geistlichen Oberinstanz mehr unterstanden und in die säkulare Gerichtsorganisation eingegliedert wurden, stellte die Bibel dem Anspruch des reformierten Schriftprinzips (sola scriptura) nach den ausschließlichen Bezugsrahmen der erneuerten Ehegesetzgebung dar. Die reformierte Ehegesetzgebung war von der Vorstellung geprägt, dass sich das verbindliche Recht für die gesellschaftliche Ordnung direkt aus dem göttlich inspirierten biblischen Wort ergießen sollte.13 Das reformatorische Wegfallen des sakramentalen Charakters bedeutete auf theologischer Ebene keinesfalls eine Profanierung der Ehe. „[V]ielmehr wird auch die weltliche Ordnung insgesamt und mit ihr die Ehe geheiligt und zum Gottesdienst berufen“, so Schmidt.14 Dadurch wurde ein Referenzpunkt geschaffen, in dem der theologische mit dem städtischen Reformdiskurs verschränkt wurde. Sowohl die Reformatoren als auch die städtischen Obrigkeiten strebten eine Verbesserung der Moral an – die einen aus Gründen theologischer Abgrenzung gegen das Papsttum, die anderen aus Motiven sittlicher Distinktion von den Unterschichten. Mit der Überlagerung von Reinheits- und Sittlichkeitsdiskurs entstand für die Eheschließung ein grundlegend neuer Rahmen.15 Darin führten die reformatorischen Entwicklungen zu einer hybriden Konstitution der Ehe, die, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, bis ins 19. Jahrhundert stets zwischen ziviler Institution und göttlicher Ordnung oszillierte.
Exemplarisch kommt dieser duale reformierte Charakter des frühneuzeitlichen Eheverständnisses in einer frühen Schrift Heinrich Bullingers zum Ausdruck. In der 1527 gedruckten pastoraltheologischen Publikation formulierte Bullinger, der nach Zwinglis Tod die eidgenössische Reformation konsolidierte,16 dass es keinen göttlicheren und lustbareren Stand als die Ehe gäbe: „Wer hat aber sölichs ingesetzt, wer hats geheyssen? Gott hat die Ee also ingesetzt, […].“ Bullingers Bezugspunkt dafür war mit Genesis 2, Vers 18 selbstverständlich die als Offenbarungsschrift begriffene Bibel. Insofern war die Ehe von Gott installiert, aber nun den irdischen Trieben und dem freien Willen der Menschen ausgesetzt. Die Sexualität im priesterlichen Zölibat, Mönchtum oder der Jungfräulichkeit zu überwinden, lag der reformatorischen Anthropologie zufolge nicht mehr im Bereich des Menschenmöglichen. Die Ehe nicht in Anspruch zu nehmen, also Ehelosigkeit zu leben, war laut Bullinger Sünde „wider die Schöppfung und den Schöppffer selbs“ gewesen.17 Die menschliche Natur war durch Gottes Schöpfung gegeben und von den Menschen anzunehmen. Sie beinhaltete auch eine Sexualität, die sich im Verständnis reformierter Anthropologie nicht sublimieren ließ. Das Zölibat widersprach in den Augen der Reformatoren der Schöpfung selbst und wurde als Kreation des Teufels bekämpft. Sowohl die menschliche Sexualität als auch die Ehe waren somit Teil göttlicher Vorsehung und sollten von den Menschen aufeinander bezogen werden.