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1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787)

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Die Bevölkerungstheoretiker in Bern nahmen während den 1760er Jahren kontroverse Positionen zur restriktiven Ehegesetzgebung ein. Dagegen stellte die oben erwähnte Auseinandersetzung der Oekonomischen Gesellschaft mit dem Bevölkerungswachstum seit den späten 1770er Jahren eine tendenzielle Annäherung zwischen Bevölkerungstheorie und Eherecht dar. Die Angst vor der Entvölkerung wich im halböffentlichen Kreis der Theoretiker allmählich Befürchtungen vor einer zu stark und zu schnell anwachsenden Bevölkerung. Ihre Versorgung, so die Angst, würde die natürlichen Ressourcen Berns in zunehmendem Maß (über)strapazieren. Physiokratische Überzeugungen gewannen im Lager der Oekonomischen Gesellschaft auf Kosten kameralistischer Ansichten an Boden. Gleichzeitig blieb die ehegesetzliche Lage unverändert und restriktiv. Sie verschärfte sich sogar mit dem letzten umfassenden Revisionsprozess unter dem Ancien Régime und der daraus resultierenden letzten Bernischen Ehegerichtsordnung von 1787. Denn diese Ordnung prononcierte die Exklusivität und damit den ständischen Charakter des ehelichen Status.1 Die Magistraten verfolgten mit dem letzten vollständigen Revisionsprozess – danach wurde die Satzung bis zur Einführung des Zivilgesetzbuchs (1824/26) nur noch partiell abgeändert oder in Teilaspekten aufgehoben – nicht nur die Intention, die Ehegesetze den zeitgenössischen Gesellschaftsverhältnissen anzupassen, sondern sie auch im Sinne ihrer Effektivität „zu verbessern“.2 Was für Schultheiß, Kleinen und Großen Rat dabei ‚verbessern‘ bedeutete, ging unmissverständlich aus der Präambel der Ordnung hervor: Es galt primär „die so schädlichen folgen des lasters der unreinigkeit, die menge der bastarden, und die den gemeinden obliegend (!) lästende erhaltung derselben“ einzudämmen.3 Uneheliche Nachkommen wurden im Geist dieser Ordnung primär als materielle Belastung der kommunalen Ressourcen identifiziert. Im Zentrum der Ordnungsanstrengungen stand aber nicht mehr die Herstellung der gesellschaftlichen Reinheit per se, sondern die effiziente Abwehr der Folgen der moralischen Unreinheit: kostspielige und ressourcenzehrende mittellose Kinder armer Eltern.4 Um den sittlichen Wandel sämtlicher Gesellschaftsglieder zu steigern, sollten entsprechend der tatsächlich sehr reformiert formulierten Vorrede, erstens, „die ehen befördert“ und, zweitens, aber die Eltern dennoch zu „sorgfältigerer aufsicht über ihre kinder“ angehalten werden.5

Die Präambel der fast ein halbes Jahrhundert zuvor revidierten Ehegesetzordnung von 1743 hatte über das Problem der überproportionalen Vermehrung mittelloser Schichten noch geschwiegen. Dagegen wurde der rasante Anstieg mittelloser Bevölkerungsgruppen in der Fassung von 1787 unumwunden thematisiert und in den Mittelpunkt der Revisionsabsichten gestellt. Um das Problem in den Griff zu bekommen, war man seitens des Berner Patriziats bereit, die Autorität der lokalen Chorgerichte und des Oberchorgerichts durch „mehrere Gewalt“ zu stärken.6 Um verheimlichte Schwangerschaften, Abtreibungen und Kindsmorde zu bekämpfen, war man außerdem gewillt, die Strafen für illegitime Schwangerschaften zu mildern. Was es für die Gesetzgeber allerdings hieß, die Eheschließungen zu fördern, erschließt sich nicht auf Anhieb und erscheint danach diffus und paradox. Zwar wurde das Alter der Ehemündigkeit tatsächlich zögerlich um ein Jahr gesenkt – was als ehefördernde Maßnahme interpretiert werden kann. Dadurch endete das Zugrecht des Vaters „oder deren, die an vaters statt sind, als der mutter, großvater, großmutter, vögten oder nächsten verwandten“, mit dem Antritt des 24. Lebensjahrs.7 Doch die Einschränkungen gegen AlmosenempfängerInnen, die 1743 Eingang in die Ordnung fanden, wurden unverändert belassen: In der Stadt genossen die Gesellschaften das Vetorecht gegen Ehen ihrer Unterstützungsbedürftigen, auf dem Land waren es die Honoratioren, die nun nach Erreichen des 24. Lebensjahrs im Namen der Gemeinden gegen Armenehen opponieren durften. Wer Almosen empfing, konnte an der Ehe gehindert werden, bis die Steuern zurückbezahlt waren. Wer während seiner Erziehung Almosen in Anspruch genommen hatte, durfte mindestens bis zum 24. Lebensjahr an der Eheschließung gehindert werden, auch wenn von Gesellschaft oder Gemeinde aktuell keine Unterstützungsleistungen mehr bezogen wurden. Somit ist anzunehmen, dass einerseits das bevölkerungspolitische Interesse der Herrschaft an der Eheschließung wuchs, weil man die Zahl der unehelich Geborenen zu verringern wünschte. Doch andererseits bestand dieses Interesse keinesfalls darin, prekäre Eheschließungen generell zuzulassen. Vielmehr galt es, diese laut der Zentralaussage der Präambel unbedingt zu verhindern. Oberstes Gebot war es, der rasch anwachsenden Schicht armer Menschen und unterstützungsbedürftiger Familien Einhalt zu gebieten.8 Ökonomistische Überzeugungen ließen in immer ausgeprägterer und offenkundigerer Weise religiös akzentuierte Sittlichkeits- und Moralvorstellungen in den Hintergrund treten. Während 1743 die „fortpflanzung wahrer gottesforcht, christlichen lebens, handels und wandels“ noch an oberster Stelle der Chorgerichtssatzung stand,9 „erwarte[te]“ die Berner Obrigkeit 1787 nur noch abschließend und sogar etwas selbstgefällig „zuversichtlich den göttlichen segen“ für ihre unter wirtschaftlichen Vorzeichen revidierten Ehegesetze10. Illegitimität wurde dadurch ein verhältnismäßig kleineres Problem, sobald die materielle Versorgung der Kinder gewährleistet war. Heiraten mit unzureichendem Auskommen hingegen wurde im Zuge der bereits konstatierten allgemeinen Ökonomisierung stärker problematisiert. Und so erstaunt es wenig, dass gerade kirchliche Funktionsträger diese gesetzlichen Entwicklungen kritisierten.

Prekäre Eheschließungen

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