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1.3 Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret
ОглавлениеIm gleichen politischen Klima wie Carrard, Bertrand und Pagan trat ein Jahr später der waadtländische Geistliche Jean-Louis Muret mit einer Zuschrift an die Oekonomische Gesellschaft von Bern auf. Auch seine Abhandlung beschäftigte sich mit dem Zustand der Bevölkerung, allerdings explizit mit derjenigen in der Waadt. Seine Feststellungen und die daraus abgeleiteten Forderungen zur Bevölkerungsvermehrung unterschieden sich höchstens geringfügig vom bisher Präsentierten. In Bezug auf die Eheschließung forderte auch er ihre Begünstigung aus den bereits bekannten ökonomischen, gesundheitlichen und moralischen Gründen.1 Die populationistische Logik dahinter glich der seiner Vorgänger.
Verbal in seiner Kritik nicht expliziter als Carrard, machte auch er die Berner Obrigkeit für den Bevölkerungsrückgang verantwortlich. Die gegenwärtige Entvölkerung erfolgte laut Muret „aus moralischen gründen“.2 Die sittlichen Zustände in Bern spiegelten in seiner Sicht die verfehlte Bevölkerungspolitik der Obrigkeit. Was seine Studie allerdings von den Darstellungen der zuvor präsentierten Populationisten grundlegend unterschied, waren die statistische Datengrundlage und die mathematische Methode, die er anwandte und die nachhaltigen Eindruck hinterließen.3 Sein Vorhaben in Bezug auf die Eheschließung exemplifizierend, formulierte er:
„Was […] den ehestand belanget, wenn solcher gegen den ledigen stande verglichen wird, so begreiffet man leicht, daß der vorzug auf der seite des standes sey, der den absichten des Schöpfers entspricht. Da Mann und Weib zum Ehestande beruffen sind, so ist es voraus zu vermuthen, daß ihnen die erfüllung dieses beruffes nicht schädlich seyn, sondern vielmehr zu ihrer gesundheit und erhaltung des lebens beytragen soll; allein das ist eine würkliche wahrheit, die sich besser durch berechnung, als durch theologische gründe erweisen läßt.“4
Schon seit 1761 arbeitete der Pfarrer Muret als Sekretär des Ablegers der Oekonomischen Gesellschaft in Vevey – dessen Gründer er auch war – an seiner Studie zur Waadtländer Bevölkerungsentwicklung. Dazu erhob er eine Reihe von Daten, die zum Teil bis ins 16. Jahrhundert zurückreichten. Er berief sich in seiner Analyse daneben auf die von der Regierung erhobenen Zahlen der Volkszählung von 1764 sowie auf Taufziffern aus 46 Kirchgemeinden. Diese hatte er sich von Pfarrkollegen liefern lassen. Das erworbene Datenmaterial breitete er auf 270 Seiten aus. Davon waren 130 Seiten Text, die gewissermaßen einen 140 Seiten langen Anhang, bestehend aus Tabellen und Bevölkerungszahlen unterschiedlichster Art, ausführlich und detailreich kommentierten.5 Auf die genannten, staatspolitisch betrachtet vertraulichen, Bevölkerungsdaten hatte er nur in seiner Funktion als Pfarrer Zugriff. Aus seinen Datenreihen zur Waadt, die er für repräsentativ für das gesamte Berner Territorium hielt,6 leitete er induktiv den Befund ab, dass sich die Bevölkerung im Rückgang befinde.7 Damit stellte er seine Herrschaftskritik auf eine Grundlage, die wesentlich mehr Sprengkraft enthielt und folglich ungleich höhere Wellen in der politischen Öffentlichkeit von Bern schlug als die bisher vorgestellten Schriften. Mit seiner umfangreichen Schrift veröffentlichte er sicherheitspolitisch sensibles Datenmaterial und stellte damit die Regierung bloß, die eine strikte Arkanpolitik verfolgte. Das oberste Prinzip dieser Politik war die Geheimhaltung von Regierungsgeheimnissen.8
Die statistisch ausgewiesene Obrigkeitskritik, die durch Murets Studie zum Ausdruck kam, wurde durch die Vorrede der Oekonomischen Gesellschaft noch verschärft. Unter expliziter Bezugnahme auf die Bevölkerungsanalysen des Pfarrers wurde im Vorwort bemerkt, dass eine erfolgreiche Regierung ihre Bevölkerung zu vermehren wissen würde:
„In diesem neuen Jahrgange erscheinet vorerst die längste angekündete Abhandlung von dem Zustande der Bevölkerung unsers Landes. Ein immer wichtiger gegenstand. Denn darauf kommt alle Staatskunst an; die kenntniß von der zahl und geschäftigkeit der Untergebenen ist einem Fürsten unentbehrlich. Sein beruf, seine vorschrift ist, die gröste mögliche zahl von menschen zu beglüken. Die Bevölkerung ist die probe der Regierung. Ist jene blühend, ist sie im anwuchse; so schliessen wir, die verfassung, und welches eine folge davon ist, die verwaltung ist gut.“9
Berns Bevölkerung schien im Rückgang begriffen. Ergo wurde hier unverhohlen formuliert, dass die Potentaten Berns die angesprochene Probe nicht bestanden und ihre Pflicht nicht erfüllt hatten. Der Erfolg einer Regierung wurde im Geist der aufgeklärten Staatsräson von den gelehrten Zeitgenossen an ihrer Bevölkerungspolitik und der Zahl der Untertanen gemessen. Murets Kritik traf die Berner Obrigkeit also im Kern ihres eigenen Herrschaftsverständnisses.10 Die Ausführungen des Geistlichen waren folglich politisch höchst brisant. Ein Untertan aus der Waadt – als Pfarrer zwar zweifellos gebildet und vor Ort eine besondere Zwitterstellung zwischen Obrigkeit und Lokalbevölkerung einnehmend, aber trotz dieses Wissens und seiner Stellung als lokaler Beamter von der politischen Partizipation ausgeschlossen11 – kritisierte mehr oder weniger öffentlich die Bevölkerungspolitik der gnädigen Herren von Bern:
„Obwohl indessen aus der vergleichung der Tauf- und Todtenregister erhellet, daß (wenn jedoch die Auswanderung ausgenommen wird) sogar bey dem gegenwärtigen zustande der sache, ein ziemlich beträchtlicher überschuß, und ein sicheres erholungsmittel vorhanden wäre, das land wieder zu bevölkern, so fehlet doch noch vieles daran, daß das land alle seine vortheile sich zu nuzen mache.“12
In Murets Argumentation erschien die restriktive Ehegesetzgebung, die eine große Zahl der Menschen von der Ehe ausschloss, nicht nur nutzlos, sondern vollkommen verfehlt. Denn sie verhinderte, dass sich die Bevölkerung vermehrte, obwohl genügend Ressourcen dazu vorhanden waren.13 Murets preisgekrönte Schrift brachte das politische Parkett von Bern zum Beben: Eine konservative Mehrheit im Rat stieß sich daran, dass Mitglieder aus den eigenen Reihen in einer privaten Vereinigung – gemeint war die Oekonomische Gesellschaft – einer Kritik Raum boten, die die Wirksamkeit der obrigkeitlichen Bevölkerungspolitik offen in Frage stellte. Albrecht von Haller, der zu dem Zeitpunkt amtierender Präsident der Oekonomischen Gesellschaft war, wurde daraufhin vom amtierenden Schultheißen Johann Anton Tillier vorgeladen. Der Regierungsvorsteher tadelte den Repräsentanten der Sozietät für die öffentliche Einmischung in staatspolitisch sensible Angelegenheiten. Haller thematisierte die Vorladung in einem Schreiben an Samuel Auguste André Tissot: Man fürchte sich in Bern vor privater Kritik an der Regierungspraxis, womit er gleich noch die Ignoranz der in seinen Augen konservativen Regierung der Kritik aussetzte.14
Murets Studie und die ebenfalls kritische Stellungnahme der Oekonomischen Gesellschaft in der Vorrede zum selben Heft der Abhandlungen führten in der Folge dazu, dass der Rat der Sozietät die Beschäftigung mit regierungsrelevanten Themen – was im zeitgenössischen gouvernementalen Verständnis bevölkerungspolitische Gegenstände waren – untersagte. Zusätzlich verbot man den Regierungsmitgliedern der Gesellschaft die Teilnahme an den Versammlungen der Helvetischen Gesellschaft.15 Es wurde befürchtet, dass durch regierungskritische Gesellschaftsglieder Bernische Staatsgeheimnisse nach Schinznach getragen würden und den Miteidgenossen zu militärischen, demographischen und wirtschaftlichen Vorteilen verhelfen könnten. In konservativen Regierungskreisen bestand die latente Angst vor politischem Einfluss aus den aufklärerischen Kreisen der Helvetischen Gesellschaft. Die Ableger der Oekonomischen Gesellschaft in Berns Landschaft wurden mittels Mandat vom 20. September 1766 fortan unter die Aufsicht der betreffenden Landvögte gestellt.16
Nach Muret meldete sich noch Charles-Louis Loys de Cheseaux mit einer populationistischen Zuschrift zum Zustand der Bevölkerung, worin die Förderung der Eheschließung wiederum eine wesentliche Rolle für das Bevölkerungswachstum spielte.17 Die Schrift war in ihrer Tonalität allerdings ausgesprochen zurückhaltend. Trotzdem wurde auch dort in der „Seltenheit der Ehen“ eine maßgebliche Ursache für den Bevölkerungsrückgang gesehen.18 Der gemäßigte Ton dürfte eine direkte Folge der vorausgegangenen Rüge von Seiten der Obrigkeit an die Adresse Murets und der Oekonomischen Gesellschaft gewesen sein. Auch die Oekonomische Gesellschaft war offensichtlich darum bemüht, die Wogen zu glätten, wenn sie im Vorwort zu Loys Schrift die Hoffnung ausdrückte, eine der Regierungsmeinung entgegengesetzte Position publizieren zu dürfen, ohne dass ihr politisches Kalkül zur Last gelegt würde.