Читать книгу Prekäre Eheschließungen - Arno Haldemann - Страница 19
1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik
ОглавлениеIn Widerspruch zum zunehmenden gesetzlichen Ausschluss der besitzlosen Bevölkerungsschichten von der Ehe im Zuge einer allgemeinen Ökonomisierung des 18. Jahrhunderts stieg in derselben Zeit in Europa das Interesse an Fragen der korrekten Bevölkerungspolitik zur Steuerung der Gesellschaftsgröße.1 Die bevölkerungspolitischen Debatten, und als deren Gegenstand die Eheschließung, wurden zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – im Gegensatz zur oben skizzierten manifesten Gesetzgebung – in der entstehenden Öffentlichkeit vor allem vom sogenannten ‚Populationismus‘ geprägt.2
Dieser forderte in seinen Grundzügen das Gegenteil der Ehegesetzgebung, weil er davon ausging, dass eine florierende (Land-)Wirtschaft von der Verfügbarkeit humaner Ressourcen abhängig sei. Da im 17. und 18. Jahrhundert territoriale Macht und herrschaftlicher Einfluss in starker Abhängigkeit von der Größe der Armee gesehen wurden und dazu Menschen (Soldaten) und Kapital (Steuerzahler) erforderlich waren, ging es darum, das eigene Territorium sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus militärischen Gründen zu bevölkern: Die Wirtschaft, die das Heer finanzierte, brauchte Arbeitskräfte und sollte potente Steuerzahler generieren. Das Militär benötigte möglichst viele Soldaten. „Comme cet axiome est certain que le nombre des peuples fait la richesse des États“, wird Friedrich der Große, der als idealtypischer und mächtiger Verfechter des Populationismus betrachtet werden darf, aus seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges zitiert.3 Dabei war der preußische Herrscher durch Johann Peter Süßmilchs Werk Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts informiert. Die Schrift des brandenburgischen Pfarrers erschien 1741 und wurde in den 1760er Jahren in überarbeiteter Version neu aufgelegt. Sie ging im Grundsatz davon aus, dass die Bevölkerungsentwicklung einer göttlichen Ordnung folgte. Damit lagen ihr die Prämissen der sogenannten ‚natürlichen Theologie‘ zugrunde, in der Natur das Wirken Gottes zu verorten. Süßmilch übte mit seinem Werk großen Einfluss auf den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskurs aus.4
In der populationistischen Auffassung sollte sich die Bevölkerung also vermehren, weil sie das Fundament eines wirtschaftlich florierenden und militärisch schlagkräftigen Staates bildete. Sie stellte das Steuersubstrat des werdenden Staates dar und sollte daher wachsen. Wirtschaftspolitik und Machtpolitik wurden somit in der Bevölkerungspolitik verschränkt.5 Ökonomie und Demographie standen in unzertrennlicher Wechselwirkung zueinander. Diese Wechselwirkung determinierte die Macht und den Wohlstand eines Staates. Sie musste daher erfolgreich gesteuert werden, um die „Glückseligkeit“ in utilitaristischer Weise zu maximieren.6
Für Berns Bevölkerungspolitik im 18. Jahrhundert wurde bereits auf die herrschende Ambivalenz von „pronatalistischen Massnahmen im medizinisch-ökonomischen Bereich und von antinatalistischen Massnahmen im sozialen Bereich“ in den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Handlungslogiken aufmerksam gemacht.7 Bern litt im 18. Jahrhundert, wie auch andere Teile Europas, unter einer länger anhaltenden stagnierenden Bevölkerungsentwicklung.8 Deswegen wurden auf der einen Seite verschiedene ‚gesundheitspoliceyliche‘ Anstrengungen unternommen und Maßnahmen ergriffen, die auch in anderen Territorien Anwendung fanden, um das Wachstum zu fördern: Die Regierungen versuchten, die epidemiebedingte Sterblichkeit zurückzudrängen, indem sie Anleitungen zu Therapien und Hygieneanweisungen verbreiteten. Bern gründete 1778 eine Hebammenschule. Die professionalisierte Ausbildung der Geburtshelferinnen trug dazu bei, die Kindersterblichkeit und die Geburtsrisiken für die Mütter zu reduzieren. Gleichzeitig unternahm die Obrigkeit verschiedene Anstrengungen, der Kontrazeption und der nachgeburtlichen Geburtenkontrolle konsequent vorzubeugen. Den Versorgungsengpässen in Krisensituationen versuchte man durch das Anlegen und Bewirtschaften von Vorräten in zunehmendem Maß Herr zu werden. Gleichzeitig wurde aber auf der anderen Seite „ein rechtliches Instrumentarium gegen die unerwünschte Eheschliessung in den Unterschichten aufgebaut“, das in der Umsetzung auch „zunehmend griffiger ausgestaltet“ wurde.9 Darin konkretisiert sich für Bern exakt jene janusköpfige Entwicklung, die auch Foucault für den ungefähr gleichen Zeitraum in der Veränderung der gouvernementalen Logik im Allgemeinen beobachtet hat.10 Er hat sie als Changieren zwischen „verschiedenen Bedeutungspolen“ politischer Ökonomien charakterisiert.11 Auch Isabel V. Hull hat – für den deutschen Raum – im Übergang von der Stände- zur bürgerlichen Gesellschaft auf den Widerspruch zwischen moralischen Schriften und polizeiwissenschaftlichen Administrationsbemühungen hingewiesen.12
Im Ehegesetz fanden in dieser widersprüchlichen bevölkerungspolitischen Atmosphäre zwischen utilitaristisch geprägtem Populationismus und der Wahrung ständischer Partikularinteressen neue, zunehmend an Besitz gebundene Eheprivilegien Eingang. Dagegen beschäftigten sich die Reformer in der bevölkerungspolitischen Debatte mit der Frage, wie man Berns Agrarwirtschaft modernisieren und die Landschaft zur Beförderung des Handwerks und der Manufakturen stärker bevölkern könnte, um Wohlstand und Glück auszuweiten und stärker zu verbreiten. Einerseits hielt die Berner Obrigkeit im gedruckten Gesetz also an der ständischen Privilegienordnung fest. Andererseits regte die Oekonomische Gesellschaft Diskussionen an, in denen Gelehrte fortschrittsoptimistisch und auf die Zukunft ausgerichtet darüber debattierten, wie eine prosperierende Gesamtwirtschaft zu schaffen sei. Darin zeigt sich, wie für kurze Zeit zwei verschiedene Formen der Gouvernementalität nebeneinander existierten13 – was, wie noch zu zeigen sein wird, in der Gerichtspraxis Widersprüche und Konkurrenz zwischen gegensätzlichen Urteilslogiken produzierte.
In der europäischen gelehrten Öffentlichkeit grassierte seit den 1740er Jahren, entsprechend der populationistischen Diskussion, die spezifische Angst vor dem ökonomisch und militärisch bedrohlichen Szenario der Entvölkerung.14 Der befürchtete Rückgang der Bevölkerung nährte die Angst vor rückläufigen Soldatenzahlen,15 schwindenden Steuereinnahmen und mangelnder agrarischer Produktion zur Versorgung der Bevölkerung. In Bern wurde die Angst vor der Entvölkerung der ländlichen Gegenden anfangs der 1760er Jahre zusätzlich geschürt: Regierungsagenten, die in der Waadt Handwerker rekrutieren wollten, berichteten über die Entvölkerung ganzer Gegenden und untermauerten mit ihren Meldungen die entsprechenden Befürchtungen der Regierung.16 Realhistorisch dürfte diese Furcht vor der Entvölkerung, die auf der Grundlage heutiger Datenreihen haltlos erscheint, vor allem durch die Erfahrung der Epidemie der Roten Ruhr genährt worden sein. Sie hatte im Spätsommer 1750 5% der bernischen Bevölkerung dahingerafft und kam damit in ihren demographischen Auswirkungen einem Pestzug gleich. Betroffen waren davon vor allem Kinder und Jugendliche. Als die betroffenen Jahrgänge in den Arbeitsprozess eintreten sollten, machte sich der Mangel an Arbeitskräften bemerkbar.17 Außerdem schlug sich die demographische Entwicklung zu Zeiten des Siebenjährigen Kriegs im militärisch bedrohlichen Szenario einer sich verschärfenden Abnahme der Rekrutenzahlen in den Mannschaftsrödeln der Berner Herrschaften nieder.18 Aufgrund dieser Erfahrungen lässt sich die zeitgenössische öffentliche Meinung relativ schlüssig erklären, obwohl Bern nach der Epidemie bis 1770 ein nachholendes und danach ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum aufwies.19
Die Furcht vor der ‚Depopulation‘, die auch unter Gelehrten kursierte, weckte und beförderte das obrigkeitliche Interesse an der statistischen Erfassung der Bevölkerung. Die gute Herrschaft musste wissen, wie es um ihre Bevölkerung und somit ihre Steuereinnahmen und militärische Stärke stand.20 Deswegen wollten die Berner Magistraten „den Zustand der Ungewissheit in diesem sicherheitspolitisch sensiblen Bereich überwinden, das Phänomen intellektuell unter Kontrolle bringen und damit einer Bewältigung durch Massnahmen zugänglich machen“.21 Folglich wurden in diesem politischen Klima in Bern erste statistische Techniken zur Erhebung demographischer Daten wie Geburtenzahlen, Todesraten und Eheschließungsziffern übernommen, angewendet und entwickelt. Diese Entwicklung trug sich an verschiedenen Orten in Europa zeitgleich zu. Die Datenerhebungen und die damit gewonnenen Zahlen erhielten im hier beschriebenen Zeitraum eine ganz neue Bedeutung. Sie wurden zum Schlüssel der „Realitätserfassung“,22 mutierten zur Grundlage für politische Entscheidungen schlechthin und wurden zum Ausgangspunkt obrigkeitlicher Planungen. Demographische und ökonomische Daten, die sich in Ziffern ausdrückten, wurden zum mächtigen Mittel der Rechtfertigung in der politischen Entscheidungsfindung.23 Sie sollten fortan als rechnerische Grundlage für die gesamte weitere Planung und Umsetzung staatlicher Bevölkerungspolitik figurieren.24 Empirie und Rationalität sollten die grundlegenden Prinzipien sämtlicher politischer Reformen werden. Die erhobenen Daten zur Bevölkerung wurden zu Faktoren der Regulierung und somit Dimensionen der Macht, weshalb sie von den Obrigkeiten meistens für ein sicherheitspolitisches Risiko erachtet und geheim gehalten wurden. Verfolgt wurde das Ziel, die Leistungsfähigkeit des Staates auf sämtlichen Ebenen zu steigern. So sollten Macht und Souveränität gegen innen und außen befördert werden.25 Bevölkerung und Wirtschaft wurden in ihrer Verbindung als Gegenstand und legitimatorisches Prinzip der Regierung entdeckt.26
In diesem Licht muss auch die Volkszählung der Berner Regierung von 1764 betrachtet werden. Im Sommer dieses Jahres wurden sämtliche Pfarrer Berns von der Almosen-Revisions-Kommission aufgefordert, zwecks Datenerhebung von der Regierung zugestellte Fragebögen auszufüllen.27 Die Fragebögen umfassten unter anderem die Bezifferung der Taufen, der Todesfälle und der Eheschließungen. Aus rein statistischer Sicht hätten die erhobenen Daten die Angst vor einer drohenden Entvölkerung mildern können, da sie keine Anhaltspunkte für eine Entvölkerung lieferten.28 Dennoch ebbte die Furcht vor dem Bevölkerungsschwund keineswegs ab. Sie war größer als das Vertrauen in die Zahlen. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und der Staatsräson publizierte der Rat, der, trotz der gewonnenen Daten, Herrschaftskritik befürchtete, die Resultate der Zählung nicht. Dadurch ließ Berns paternalistische Regierung – aus heutiger Sicht – quasi die Chance aus, die grassierende Befürchtung einer Verkleinerung der Bevölkerung zu entkräften.29