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Zwischen religiösem Anspruch und sozialer Ordnung

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In der Gegenüberstellung von reformierter Ehetheologie und obrigkeitlichem Ehegesetz offenbarte sich bald eine wachsende Diskrepanz zwischen religiösem Anspruch, der die ideale sexuelle Ordnung der Gesellschaft priorisierte, und weltlichen Ordnungsvorstellungen, die pragmatisch auf die soziale Ordnung der Gesellschaft abzielten: Einerseits gab es für den geschlechtsreifen Menschen in der reformierten Anthropologie keine andere Möglichkeit, in Sündlosigkeit zu leben als in der Ehe. Wie oben ausgeführt, gingen die Vertreter des reformierten Menschenbilds von der Unmöglichkeit der sexuellen Enthaltsamkeit aus, sie erachteten das Risiko als zu groß, zu scheitern und sich zu versündigen. Vor- und außereheliche Sexualität sowie gewisse Sexualpraktiken, zusammengefasst unter den zeitgenössischen Begriffen ‚Unzucht‘ und ‚Hurerei‘, verunreinigten den theologisch interpretierten Gesellschaftskörper. Die durch einzelne Glieder beschmutzte Gesellschaft würde Gottes Argwohn auf sich ziehen, so die theologische Vorstellung der Obrigkeit. Daher musste die Unzucht durch Gerichte mittels Kriminalisierung und Sanktionierung eingedämmt werden, um nicht von der kollektiven Strafe Gottes heimgesucht zu werden.1 Sozialmoralisch war das nur mit einer Öffnung der Eheschließung für alle Schichten und Stände zu bewerkstelligen.

Andererseits wurde von Berns Regenten und den lokalen Autoritäten streng darüber gewacht, wer wen zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Voraussetzungen legal heiraten durfte. Nur so schien es möglich, die permanent gefährdete soziale und ökonomische Ordnung der Ständegesellschaft in einem kommunalen System knapper Ressourcen aufrechtzuerhalten. Die Eheschließung bildete die zentrale Scharnierstelle für den frühneuzeitlichen Besitztransfer, markierte eine Schlüsselstelle im Erbschaftssystem und determinierte so die „Architektur des Privaten“.2 Außerdem waren zahlreiche politische und private Rechte, die das Ansehen in der Gemeinschaft und im Staat maßgeblich mitbestimmten und das individuelle Selbstverständnis konstituierten, exklusiv an den ehelichen Status geknüpft.3 Das Interesse der Patriarchen war entsprechend groß, ausschließlich Ehen zuzulassen, die Haushalte formierten, deren materielle Basis ausreichte, um sämtliche Mitglieder ernähren und unterhalten zu können. Sogenannte ‚leichtfertige‘ Eheschließungen, die in ‚Bettelehen‘ münden konnten, weil sie den gegründeten Haushalt aufgrund der ökonomischen Situation nicht mit genügend Auskommen versorgen konnten, mussten unbedingt verhindert werden.4 Für die Schweiz und Deutschland konnte diesbezüglich gezeigt werden, dass vom 16. über das 17. bis ins 18. Jahrhundert die Diskrepanz zwischen dem obrigkeitlichen Anliegen der sexuellen Ordnung und dem kommunalen Bedürfnis nach sozialer Ordnung im Bereich der Eheschließung laufend anwuchs. Die Regierung war darauf aus, Normen zu etablieren, die klare Linien zwischen moralischer Reinheit und unmoralischer Unzucht zogen, was vor allem über eine Ordnung der Sexualität erfolgte. Dem liefen jene sexuellen Praktiken zuwider, die sozial tief verwurzelt waren und in der lokalen Gemeinschaft gewohnheitsrechtlich opportun erschienen. Sie folgten lokalen Vorstellungen und sollten prioritär die kommunalen sozioökonomischen Verhältnisse abbilden und stabilisieren, die Geschlechter- und generationelle Ordnung unter sich verändernden zeitlichen Umständen reproduzieren und die Logik einer männlich geprägten Ehrkultur aufrechterhalten, was letztlich die soziale Ordnung priorisierte.5

Bei der Auflösung dieser Widersprüchlichkeit zwischen religiös akzentuierter moralisch-sexueller und ehrgeleiteter sozialer Ordnung wurde in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation von den Sittengerichten die Herstellung sexueller Ordnung bevorzugt. Ausdruck davon war, dass AkteurInnen, die ihre Eheanspruchsklagen vor das Ehegericht zogen, schichtübergreifend signifikante Erfolgschancen besaßen. Die Ehegerichte förderten eheliche Verbindungen geradezu, um die angestrebte gesellschaftliche Reinheit herzustellen und zu garantieren. Doch bereits seit den 1560er Jahren bröckelte der Primat sexueller Ordnung, und die Diskrepanz zwischen moralischen Ansprüchen und materiellen Interessen wuchs. Die ständische Gesellschaft, die in ihrer materiellen Ausformung maßgeblich auf der Agrarwirtschaft aufbaute, war geprägt von sozialer Stratifikation und von begrenzten Ressourcen, so dass die durch reformatorische Dynamiken ausgelöste inkludierende Haltung der Ehegerichte bald abnahm. Sie wich einer Praxis, die knappe Ressourcen hütete, indem sie das Recht auf Ehe stark beschränkte und eine zunehmend repressive Moralpolitik verfolgte. So kam es in der Folge durch die gesetzgeberische und richterliche Praxis zu einem relativen Rückgang der Eheschließungen – dies mit einem paradoxen Effekt: Das Ungemach der sittlich-moralischen Verunreinigung, die es durch die christliche Obrigkeit abzuwenden galt, nahm zu und wurde auf diese Weise perpetuiert.6

Historiker*innen sind sich denn auch über die Folgen des aufgezeigten wachsenden Widerspruchs zwischen sexueller und sozialer Ordnung auf normativer und disziplinarischer Ebene einig: Spätestens im Verlauf des 17. Jahrhunderts verschärften sich die Ehegesetze kontinuierlich zu Ungunsten vermögensloser, besitzloser, armer Bevölkerungsschichten. Für die Eheschließung wurden Vermögensnachweise und Einzugsgelder eingeführt und sukzessive erhöht. Gleichzeitig wurden Strafandrohungen und effektive Sanktionen gegen voreheliche Schwangerschaften verschärft. Der moralische Druck auf die unteren Schichten nahm massiv und stetig zu.7 Für Bern hat Schmidt anhand der Berner Gemeinden Vechigen und Stettlen für den Zeitraum von der Mitte des 17. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgezeigt, dass es zu einer gesetzlichen und gerichtlichen „Verschärfung der Gesamtlage“ für mittellose Eheschließungen kam. Gesetzlich wurde das Ehemündigkeitsalter im Herrschaftsgebiet von Bern kontinuierlich angehoben. Schmidt hat für Bern eine Aufstellung des Mündigkeitsalters seit der Einführung der Reformation bis zur letzten Revision der Ehegerichtsordnung gemacht. Während das Mündigkeitsalter 1529 bei 19 Jahren für Frauen und 20 Jahren für Männer lag, mussten 1743 beide Geschlechter 25 Jahre alt sein; mit der Ordnung von 1787 wurde es um ein Jahr auf 24 reduziert.8 Hurerei- und Ehebruchsdelikte wurden strikt verfolgt und rigide bestraft, Brautschwangerschaften vehement bekämpft und Armenehen mit aller Macht verhindert.9 Der disziplinarische Erfolg der Gesetze blieb allerdings aus: Berns Obrigkeit und den lokalen Chorgerichten gelang es nicht, die voreheliche Sexualität einzudämmen, geschweige denn zu unterbinden. Die relative Delinquenz nahm vom 17. zum 18. Jahrhundert zu. Und so ist Schmidt in Anbetracht dieser Entwicklungen für Bern zur These gelangt, dass die bernische Sittenzucht gescheitert war, wenn es ihr Ziel gewesen war, diesen Trend aufzuhalten.10 Forschungen, die sich über Bern hinaus intensiv mit der Thematik der Illegitimität auseinandergesetzt haben, kommen zu dem quantitativen Befund, dass in Europa im 18. Jahrhundert die Zahl der unehelichen Kinder stetig zunahm und die vorehelichen Konzeptionen drastisch stiegen.11 Für Bern belegt Brigitte Schnegg diesen Befund anhand des Beispiels der Kirchgemeinde Thurnen. Sie kann zeigen, dass die Illegitimenrate von der Mitte des 18. Jahrhunderts von 2% bis zum Ende des Jahrhunderts langsam zunahm und dann im 19. Jahrhundert auf 6% anstieg.12 Für die Berner Kirchgemeinde Langnau kommt Benedikt Bietenhard zu vergleichbaren Ergebnissen.13

Die parallel dazu restriktiver werdende Heirats- und Moralpolitik, die scheinbar „jede Lücke für die Heirat armer Leute schloss“14, weil die Fürsorgeeinrichtungen seit dem 16. Jahrhundert zunehmend an ihre Grenzen stießen,15 erweckt in Bezug auf die obrigkeitliche Bevölkerungs- und Moralpolitik von Bern den Eindruck, die Potentaten wären bei der Verhinderung illegitimer sexueller Verbindungen einer wirkungslosen, naiven und unbelehrbaren Logik gefolgt. Demzufolge hätten sie die sozioökonomischen Entwicklungen nicht registriert und bereits simple Zusammenhänge weder erkannt noch verstanden, während der Konnex zwischen Sexualität und Heirat in der Praxis der AkteurInnen gleichzeitig immer loser wurde.16 Die strengeren Gesetze und die restriktive Ehegerichtspraxis, die Berns Regierung wie andere Obrigkeiten bewusst androhte, wenn sie in der Ehegerichtsordnung von 1667 forderte, „die straffen bey zunemmung der ubertrettungen zu stercken und zu vermehren“17, vermochten die Zahl unehelicher Geburten etc. offensichtlich nicht einzudämmen. Im Gegenteil: Im 18. und 19. Jahrhundert schossen die Ziffern in die Höhe.

Der besagte Eindruck mag insbesondere entstehen, wenn Sozialhistoriker*innen einen unvermittelten Zusammenhang zwischen Gesetz und Reproduktionsverhalten annehmen.18 Diese Annahme geht davon aus, dass der Obrigkeit und den Gemeinden über die Ehebewilligungspraxis ein mehr oder weniger effektives Instrument zur Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens der Menschen zur Verfügung gestanden habe. Entsprechend dieser Auffassung waren es primär die auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen angelegten Normen und Sanktionsmaßnahmen, die das Reproduktionsverhalten der Menschen regulierten. Sie folgt damit dem malthusianischen Standpunkt, dass sich jede Gesellschaft Regeln auferlegt, die implizit dazu tendieren, „dass nicht mehr Individuen das Erwachsenenalter erreichen, als ernährt und beschäftigt werden können“.19 In einer Gesellschaft, die die außereheliche Sexualität scheinbar nicht tolerierte, erfolgte die maßgebliche Steuerung der Geburten – neben dem weiblichen Stillverhalten, das die Intervalle zwischen den Geburten bestimmte – über das gesetzlich festgeschriebene Ehefähigkeitsalter.20 In dieser Sichtweise erscheinen die Ehegesetze tendenziell als über die Jahre ineffizient gewordenes bevölkerungspolitisches Instrument der Berner Machteliten, das nicht mehr zu steuern vermochte, was es steuern sollte. Die gesetzlichen Regulative der Eheschließung dienten in dieser Optik primär der Strukturierung der Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung, mit dem Ziel, das materielle ‚Gemeinwohl‘ zu sichern, respektive die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht über die Maßen zu strapazieren.21 Kurzum: Die Eheschließung tritt in dieser Perspektive als jene bevölkerungspolitische Einrichtung auf, die die Größe der Gesellschaft erfolgreich und effizient nach gewissen historischen Vorstellungen zu steuern hatte.22 Das konnte sie allerdings in zunehmendem Maß nicht mehr leisten. Die Regierung scheint mit ihren Ansprüchen gescheitert zu sein.

Prekäre Eheschließungen

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