Читать книгу Das Beste aus meinem Leben - Axel Hacke - Страница 11
Woher kommen die Buchstaben?
ОглавлениеBitte, Sie müssen wissen, dass ich aus bescheidenen Verhältnissen stamme. Wir lebten zu fünft in drei Zimmern, die Toilette war auf der Etage, die Mahlzeiten bestanden aus einfachen Gerichten. Aber- und abermals wurde unsere Kleidung mit Flicken ausgebessert, wenn sie beim Spielen zerriss. Später kaufte der Vater ein winziges Haus am Stadtrand, in dem mehr Platz war. Aus dem Garten versorgte die Mutter uns mit Gemüse und Obst. Aber in mancher Hinsicht wurde die Lage noch schwieriger. Die Schulden für das Haus drückten den Vater so, dass er eine zweite Arbeitsstelle annahm und jeden Morgen die Zeitung austrug. Danach ging er ins Postamt, um den Dienst als Schalterbeamter zu versehen.
Das Schlimmste jedoch war der Buchstabenmangel, der uns in jenen Jahren quälte. Es gab damals eine Reihe von ungewöhnlich langen, kalten, dennoch schneearmen Wintern, unter deren Folgen die Ernte der Buchstaben auf den Feldern rings um die Stadt genauso litt wie die des Weizens, der Gerste, des Roggens. Heute wissen viele Kinder nicht einmal mehr, woher die Buchstaben kommen. Sie denken, sie seien einfach da oder kämen aus der Fabrik, wie ein Glas Milch oder eine Kuh einfach da seien oder aus der Fabrik kämen. Nie haben sie eine Kuh, ein Kornfeld, eine Buchstabenpflanze gesehen.
Damals herrschte Not. Die Halme blieben spindeldürr, die Buchstabenähren darauf klein. Wenn die Mähdrescher im Sommer über die Felder fuhren, dauerte es doppelt so lange wie in normalen Jahren, bis einer der Wagen hinter den wartenden Traktoren mit Buchstaben gefüllt war. Die Buchstabenpreise stiegen aufs Dreifache. Anfangs konnte Mutter im Buchstabenladen, in dem sie einkaufte, anschreiben lassen. Bald gab der Händler keinen Kredit mehr.
Wir standen oft am Rand der Äcker, und wenn die Wagen und Dreschmaschinen weggefahren waren, sammelten wir auf dem Stoppelfeld herabgefallene Buchstaben auf, um sie nach Hause zu tragen. An Wochenenden wanderten wir ins Land hinaus und bettelten bei den Buchstabenbauern um einen Korb mit Vokalen oder Konsonanten.
Nicht selten wurden wir vom Hof gescheucht und kehrten mit leeren Händen zurück. Ich erinnere mich an einen Winter, in dem die Familie fast kein Wort miteinander sprechen konnte. Wir hatten keine Buchstaben mehr, um Wörter zu bilden. Stumm erwachten wir morgens, schweigend saßen wir um den Mittagstisch, wortlos abends im Wohnzimmer. Was hätte man sich zu sagen gehabt, aber es ging nicht! An Weihnachten kratzten die Eltern alle Vorräte zusammen, um wenigstens »Frohes Fest!« zu wünschen. Mutter hatte eine Schwester in Amerika, die dann und wann ein Päckchen schickte, leider mit viel Tiejdsch und Dabbeljuh, aber besser als nichts. Die Antwortbriefe sparten wir uns vom Munde ab. Nie erfuhr jemand, dass mein Vater auf der Post gelegentlich Briefe unterschlug und die Buchstaben mit nach Hause brachte, damit wir das Nötigste besprechen konnten. Wer seine Korrektheit kannte, weiß, was es für ihn bedeutete.
Schlimm war es im Gymnasium. Es gab die Kinder der Reichen, die immer genug Lettern für Aufsätze und Diktate hatten. Wie aber sollte unsereiner, mochte er noch so begabt sein, jemals im Deutschunterricht vorankommen!? Mir erschien die Orthografie früh als Mittel der Herrschenden zur Erhaltung eines Klassensystems. Fast den ganzen Rilke konnte ich auswendig, aber wenn es ans Niederschreiben ging, war ich verloren; meine Eltern hatten kein Geld für teure Umlaute. »Sein Blick ist vom Vorybergehn der Stebe / so myd geworden, das er nichz mer helt«, schrieb ich – aus Mangel, nicht aus Unkenntnis! Es macht einen krank vor Wut, dass die etablierte Schriftstellerkaste heute gegen die Rechtschreibreform ist: Seit die Kerle sich Buchstaben säckeweise leisten können, versuchen sie, sich den Nachwuchs vom Leibe zu halten.
Ach, einmal aus dem Vollen schöpfen, einmal genug haben von allem! Stattdessen finanziere ich mir mit dem Honorar für einen Text nur die Buchstaben für den nächsten – wie da zu Großem kommen, Romanen von 800 Seiten?! Muss schon wieder aufhören, Vokalmangel, Schlss, st fst nchts mhr vrhndn…