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Sieht denn keiner uns’re Qual?

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Es war einmal eine Zeit, bevor der Mensch auf die Erde kam, da lebten die Zahlen und die Buchstaben froh und in Frieden zusammen, ohne jede Aufgabe. Die Zahlen mussten nichts zählen und die Buchstaben keine Wörter bilden. Sie konnten den lieben langen Tag tun, was sie wollten, und das gefiel ihnen sehr. Sie spielten zusammen und vertrugen sich bestens und unterschieden sich eigentlich gar nicht. Sie wussten nämlich gar nicht, dass sie Zahlen waren und Buchstaben – woher denn auch?

Sie waren einfach so da. Eine 1 war nichts anderes als ein U und eine 2 nichts Besseres als ein D, nur dass sie eben ein bisschen anders aussah. Und wenn zum Beispiel ein A und ein X und eine 7 und eine 4 und ein Z und ein F und eine 0 zusammenstanden, dann sah das so aus: AX74ZF0. Aber niemand wäre darauf gekommen, dahinter eine Bedeutung zu vermuten, eine Geheimsprache vielleicht oder einen Buchungscode bei der Lufthansa. Es war, wie es war, und wenn sie genug zusammengestanden hatten, gingen sie wieder auseinander. Die Zahlen sangen dann fröhlich:


»Eins, zwei, drei, vier.

Keiner rechnet mit mir!«


Und die Buchstaben riefen laut:


»Zett, Ypsilon, X.

Wir bedeuten nix!«


Dann kam der Mensch. Er ordnete die Welt, erfand die Sprache und die Bücher und die Zeitungen, und er sagte den Buchstaben, wie sie sich hinstellen sollten, damit sie ein Wort bildeten und einen Satz und einen ganzen Artikel. Und die Zahlen sortierte er aus und ließ sie erst mal in einer Reihe antreten, 1234567890, und so ließ er sie herummarschieren wie auf dem Kasernenhof, immer einszwei!, einszwei! Dann mussten sie rechnen, den ganzen Tag, in riesigen Kolonnen addieren, subtrahieren, dividieren, multiplizieren, immer schnell, schnell, schnell, und manchmal mussten sie sich sogar die Wurzel ziehen lassen, ohne Betäubung. Es war schrecklich, und das ist es bis heute.

Die Zahlen beneiden die Buchstaben sehr. Dabei haben die es beileibe nicht alle gut: Mancher muss sein Leben in einem hässlichen Wort wie zum Beispiel »Redaktionsschluss« verbringen, andere stehen in langweiligen Feiertagsansprachen herum, und am schlimmsten hat es das U erwischt, das bei Wind und Wetter draußen vor den Stationen der Untergrundbahn Wache halten muss. Aber andere haben ein herrliches, abwechslungsreiches, erfülltes Leben in Rilke-Gedichten oder Romanen von Joseph Roth, und das macht die Zahlen ganz fertig vor Neid. Sie sind in Rechenmaschinen eingesperrt oder lungern mit Milliarden von Schicksalsgenossen auf dem Konto von Bill Gates herum wie verlorene Seelen oder werden gleichgültig von Finanzministern hin- und herbefohlen – ödes, sinnloses Soldatenleben.

Wenn ich meinen Taschenrechner ans Ohr halte, höre ich den murmelnden Gefangenenchor:


»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – ach!«


Oder:


»Minus, plus und durch und mal,

sieht denn keiner uns’re Qual?

Marschieren hier durchs Schattenreich,

ist gleich, ist gleich.«


Dann denke ich oft: Ich nehme jetzt einen Schraubenzieher und drehe die kleine Schraube auf, an der Rückseite des Rechners, gleich neben dem Satz »Fabriqué en Formose«, entferne das Rückenteil und hole die Zahlen heraus, befreie sie, wenigstens diese paar Zahlen aus meinem kleinen Sharp-Taschenrechner. Wir würden zusammen in die Welt hinausziehen, denke ich dann, ein kleiner, verschworener Haufen, die Zahlen und ich, und würden alle möglichen Abenteuer bestehen. Wenn ein Fluss zu überqueren wäre, würde die 1 sich wie eine Brücke drüberlegen. Wenn ein Riese uns bedrohte, würde die 3 ihn würgen. Wenn wir abends am Lagerfeuer säßen, würde die 7 uns Märchen erzählen. Und wenn wir Hunger hätten, würde die dicke 6 für uns kochen, Buchstabensuppe vielleicht, und danach würde ich am Busen der 8 einschlafen.

Und wir könnten glücklich sein, oh, könnten wir glücklich sein.

Das Beste aus meinem Leben

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