Читать книгу Handbuch Wirtschaftsstrafrecht - Udo Wackernagel, Axel Nordemann, Jurgen Brauer - Страница 446

A. Grundlagen

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Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren im Jahr 2016 rund 5,5 Millionen Menschen im Gesundheitswesen beschäftigt[1] – mehr als das 4,5-fache im Vergleich zur Automobilbranche, die mit ihren knapp 820.000 Beschäftigten in der Öffentlichkeit nicht selten als die Stütze der deutschen Wirtschaft schlechthin wahrgenommen wird.[2] Gleichzeitig haben die Gesundheitsausgaben aller Kostenträger in Deutschland im Jahr 2017 erstmals die Marke von 356 Milliarden EUR – also fast 1 Milliarde EUR täglich! – überschritten, mit weiter steigender Tendenz.[3] Dass Geldströme in dieser Größenordnung grundsätzlich geeignet sind, kriminelle Begehrlichkeiten zu wecken,[4] ist zunächst eine Binsenweisheit. Darüber hinaus weist das deutsche Gesundheitswesen allerdings spezielle Strukturmerkmale auf, die bestimmte Formen von (Wirtschafts-)Delinquenz und insbesondere die hier zu behandelnde Korruption[5] besonders begünstigen.[6] Dazu zählt neben teilweise stark veralteten, weite Teile der modernen Medizin nicht abbildenden und daher zur „Kreativität“ anregenden Abrechnungssystemen (wie etwa dem EBM oder – in noch stärkerem Maße – der GOÄ)[7] zunächst der Umstand, dass jedenfalls im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Empfänger von Gesundheitsleistungen (d.h. die Patienten) und Kostenträger dieser Leistungen (zumeist die Krankenkassen) auseinanderfallen – dies begünstigt insbesondere das Phänomen des Abrechnungsbetrugs.[8] Ein spezifisches Korruptionsrisiko wurzelt in der herausgehobenen Stellung bestimmter Heilberufsangehöriger – allen voran von Ärzten –, denen auf Grund ihrer medizinischen Fachexpertise nicht nur ein Informationsvorsprung gegenüber Kostenträgern und Patienten zukommt,[9] sondern die als „gate keeper“ im Gesundheitssystem die Weichen dafür stellen, welche Arznei-, Heil- und Hilfsmittel für die Versorgung eines Patienten eingesetzt und welche anderen Leistungserbringer mit der Behandlung des Patienten betraut werden.[10] Da Heilberufsangehörige auf Grund der skizzierten Schlüsselstellung im Gesundheitswesen die Umsätze von Pharmaunternehmen und sonstigen Leistungserbringern erheblich beeinflussen können, verwundert es nicht, dass die Gesundheitswirtschaft den Kontakt zu ihnen – auch bereits im Ausbildungsstadium[11] – sucht, um auf das heilberufliche Entscheidungsverhalten zu eigenen Gunsten Einfluss zu nehmen.[12] Das gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass der ökonomische Erfolg eines Produkts insbesondere auf dem Markt der Arzneimittel vornehmlich auf einem erfolgreichen Vertriebsprozess und weniger auf dem (häufig nicht vorhandenen) medizinischen Mehrwert des Produkts beruht.[13]

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Belastbare empirische Untersuchungen zu den durch Korruption im deutschen Gesundheitswesen verursachten Schäden liegen nicht vor.[14] Untersuchungen zur tatsächlichen Verbreitung korruptiver Geschäftspraktiken in der Gesundheitswirtschaft[15] sowie die Höhe der allein von der Pharmaindustrie jährlich für die Einwirkung auf Heilberufsangehörige aufgebrachten Summen[16] lassen einen Schaden im Milliardenbereich allerdings zumindest plausibel erscheinen.

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Etwa seit dem Jahr 2010 ist das Phänomen der Korruption im Gesundheitswesen verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt und hat nach und nach zu gesetzlichen Neuregelungen auf den Gebieten des Berufs-, Sozial- und Wettbewerbsrechts (näher Rn. 4 ff.)[17] sowie des Strafrechts (eingehend Rn. 15 ff.) geführt. Diese regulative Entwicklung wurde seit dem Sommer 2014 durch ein DFG-Forschungsprojekt um Kölbel begleitet und dabei aus kriminologischer Sicht[18] auf ihre Wirksamkeit hin untersucht.[19] Die Ergebnisse dieser Untersuchung weisen darauf hin, dass Pharmaunternehmen unter dem steigenden Regulierungsdruck heute weitgehend (wenn auch nicht vollständig) davon absehen, Heilberufsangehörige durch rechtswidrige Zuwendungen direkt zu beeinflussen.[20] Dies deckt sich zunächst mit Berichten aus der anwaltlichen Praxis, wonach insbesondere die Einführung der §§ 299a, 299b StGB (Rn. 15 ff.) dazu geführt hat, dass zahlreiche Leistungserbringer Rechtsberatung in Anspruch genommen und daraufhin ihre Geschäfts- und Kooperationsmodelle zum Teil verändert haben.[21] Allerdings – und hier dürfte die entscheidende Erkenntnis der Forschung Kölbels liegen – zielen die vorgenommenen Änderungen an der Vertriebspraxis im Pharmabereich lediglich darauf ab, formelle Konformität mit dem geltenden Recht herzustellen, während gleichzeitig funktionale Äquivalente zur „Hard-Core“-Bestechung ausgebaut werden.[22] Dazu zählen insbesondere (erlaubte!) Maßnahmen der sog. „Landschaftspflege“, die zwar nicht auf die Beeinflussung konkreter Entscheidungen von Heilberufsangehörigen abzielen, jedoch deren generelles Wohlwollen sichern sollen (z.B. durch Einladungen zu Betriebsbesichtigungen, das Anbieten von Kursen für das Praxispersonal, Computerschulungen oder Schulungen zur betriebswirtschaftlichen Praxisführung sowie zur Gestaltung von Praxiswebsites im Internet), das Fortbildungssponsoring sowie die zumindest im Grundsatz legalen Anwendungsbeobachtungen.[23] Stärkere Bedeutung haben zudem indirekte Methoden der Einflussnahme erhalten. So besteht eine gängige Strategie beispielsweise darin, einflussreiche „Key Opinion Leader“ durch Honorarverträge, Berufung in Beratungsgremien oder institutionelle Förderung eine „produkt-fürsprechende“ Haltung (insbesondere in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Studien oder Vorträgen) abzuringen.[24] Dieses Vorgehen erstreckt sich nach dem Eindruck der Verf. auch auf die (Straf-)Rechtswissenschaft, wo im Bereich der Korruption im Gesundheitswesen auffällig viele erkennbar interessengeleitete Rechtspositionen vertreten werden.[25]

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