Читать книгу Die Liebe des Schwarzmagiers - Beatrice Regen - Страница 10
Gewitter
ОглавлениеZwei Tage später saß sie zusammen mit Janina am Küchentisch. Im Radio wurde über das Unwetter diskutiert, das über weite Teile Deutschlands wütete und keine Anstalten machte, weiterzuziehen. Stattdessen breitete es sich weiter aus.
„Unglaublich, dass du bei dem Wetter tatsächlich hierher gefahren bist“, sagte Janina nicht zum ersten Mal. „Und dass dir nichts passiert ist.“ Sie zuckte zusammen, als der nächste Donner ertönte, so laut, dass er selbst Janinas erschreckten Schrei zu übertönen vermochte.
Diana selbst zuckte trotz der Lautstärke nicht einmal mit der Wimper. Sie reagierte schon längst nicht mehr auf die Blitzschläge um sie herum. Ruhig trank sie ihren Kaffee. Die Wärme der braunen Flüssigkeit breitete sich wohltuend in ihr aus. „Ich hatte schon immer einen sehr fleißigen Schutzengel“, gab sie kurz angebunden zurück. Sie sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. „Und da bin ich wohl nicht die Einzige. Wenn man dem Radio glauben darf, ist ja noch niemandem etwas passiert. Gar nicht mal typisch für so ein Wetter.“ Ebenso war es ungewöhnlich, dass der Empfang des Radios nicht längst abgebrochen war. Sie schaltete es ab.
Janina ging gar nicht darauf ein. „Na, jetzt bleibst du jedenfalls hier, bis dieser Sturm vorbei ist. Man muss sein Glück ja nicht überstrapazieren.“
„Sicher.“ Diana schob die Tasse auf dem Tisch von einer Hand in die andere. „Ich habe es ohnehin nicht eilig, wieder nach Hause zu fahren.“
„Du willst immer noch nicht darüber reden, was zwischen dir und John vorgefallen ist, oder?“, fragte Janina einfühlsam. Ihre großen Augen musterten Diana liebevoll. Diana schüttelte nur den Kopf. Über das zu reden, was vorgefallen war, war das Letzte, was sie wollte. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um. Erneut sah sie aus dem Fenster in die Dunkelheit. Und atmete tief durch. „Nein.“
Mit dieser Antwort gab sich Janina allerdings nicht zufrieden. Sie beugte sich über den Tisch und berührte vorsichtig Dianas Hand, die die Kaffeetasse umgriff. „Ich will dich wirklich nicht drängen, aber manchmal hilft es, sich die Dinge von der Seele zu reden.“
„Es ist einfach kompliziert.“
Einen Moment wartete Janina darauf, dass Diana weitersprach. Vergeblich. In Dianas Augen war klar, dass es in diesem Fall nichts besser gemacht hätte, mit irgendjemandem zu reden. Im Gegenteil, es hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
„Glaubst du denn, dass sich das zwischen euch noch klären lässt?“, hakte Janina weiter nach.
Wieder schüttelte Diana nur den Kopf. Sie blinzelte zweimal, um die Tränen zu unterdrücken, die sich den Weg in ihre Augen bahnten. Nicht, weil sie um John trauerte, sondern weil es ihr immer noch unbegreiflich war, welch abscheuliche Tat er im Stande gewesen war, zu tun.
Janina verstärkte den Druck auf ihre Hand. „Du bist so eine tolle Frau. Du brauchst ihn nicht.“
Während sie diesen Satz hörte, fragte Diana sich, wie viele Frauen auf der Welt ihn wohl schon zu Ohren bekommen hatten. „Ich weiß“, antwortete sie schlicht.
Aus dem Flur ertönte das Geräusch eines Schlüssels, der in das Schlüsselloch gesteckt wurde. Bei diesem Geräusch fühlte Diana sich augenblicklich besser. Es bedeutete, dass ihre Zweisamkeit mit Janina ein Ende finden würde und damit auch, dass sie den Fragen über John für eine Zeit lang würde entkommen können. In der nächsten Sekunde erschien Tom in der Küche. Mit einem gut gelaunten „Hallo“ begrüßte er die beiden Frauen und bei seinem Anblick musste selbst Diana lachen. Für einen Moment verdrängte ihre Belustigung ihre Sorgen. „Wolltest du nicht eine Regenjacke anziehen?“
Seine Haare klebten nass an seinem Kopf. Unentwegt tropfte Wasser davon auf seinen roten Wollpullover, welcher vollständig mit Wasser durchtränkt war. Als Tom losgegangen war, hatte die rote Farbe des Pullovers noch deutlich heller gewirkt. Vom Pullover aus tropfte es ebenso unentwegt auf die Jeanshose, die so wirkte, als wäre sie in den letzten zehn Minuten um drei Größen geschrumpft. Seine Socken hinterließen von dem Flur bis zum Küchentisch eine durchgehende Pfütze.
„Ha, Regenjacke. Ich musste aufpassen, dass ich selbst nicht wegfliege.“
„Wo ist Paprika?“, wollte Janina wissen.
„Im Keller. Ich trockne sie gleich ab. Ich wollte nur, dass du vorher siehst, was du mir angetan hast. Das nächste Mal lassen wir sie nur in den Garten.“ Er drehte sich um und verschwand wieder in den Flur.
Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, lachte Diana von neuem. „Es war echt gemein von dir, ihn bei diesem Wetter mit dem Hund raus zu schicken.“
Janina zuckte lächelnd mit den Schultern. „Ja, irgendwann muss sie ja mal raus.“
„Und um ihn hast du dir gar keine Sorgen gemacht?“
„Na ja, zu Fuß kann man einem umfallenden Baum besser ausweichen.“ Sie grinste. Es donnerte und ließ sie wieder zusammenzucken. „Mensch, jetzt könnte dieses Wetter aber auch langsam mal aufhören.“
„Ja, jetzt könnte es langsam mal wieder gut sein.“ Wieder sah Diana hinaus. „Idiot“, dachte sie für sich, „du hast gar keinen Grund sauer zu sein.“ Schließlich war er es allein, der zu verantworten hatte, was vor zwei Tagen geschehen war. Er hatte Daniel getötet. Einfach so. Sie trank den letzten Schluck ihres Kaffees und atmete dessen Aroma tief ein.
Die Tür zum Flur öffnete sich abermals und sofort stürmte Paprika auf Janina zu. „Na, meine Kleine?“ Janina nahm den kleinen weißen Terrier auf den Arm. „Oh, du bist ja ganz kalt.“
„Mir ist auch kalt“, erklärte Tom, immer noch tropfend.
„Du machst den ganzen Boden nass! Zieh dir doch mal endlich die nassen Sachen aus!“
„Ja, mein Schatz.“ Wieder drehte er sich um und verschwand dann durch den Flur in das gegenüberliegende Schlafzimmer.
„Brav, wie er hört, oder?“, fragte Janina Diana.
„Tom? Oder der Hund?“
„Mein Hund sowieso. Nicht wahr meine Kleine?“ Sie kraulte Paprika hinter den Ohren. Es wirkte unrealistisch, wie normal auch hier alles zu sein schien.
„Sie ist echt süß“, sagte Diana, weil sie wusste, dass Janina sich darüber freuen würde. Und weil sie sich wünschte, wieder Teil dieser Normalität zu sein. Sie musste John vergessen und das, was er in der Nacht getan hatte, als das Gewitter begonnen hatte.
Janina strahlte tatsächlich stolz über dieses Kompliment, bis der nächste Donner ihr wieder den Schrecken ins Gesicht trieb. „Wird das eigentlich immer lauter?“, fragte sie beunruhigt.
Diana lachte. „Ich glaube, das kommt dir nur so vor. Nimm dir mal lieber ein Beispiel an Paprika. Für einen Hund nimmt sie das Gewitter ziemlich gelassen hin.“ Paprika saß auf Janinas Schoß und hatte zwar neugierig die Ohren erhoben, beachtete das Gewitter aber sonst nicht weiter.
„Nein, ich glaube, das Gewitter kommt wirklich näher“, kam es nun von Tom, der umgezogen in der Tür stand. In seiner Hand hielt er ein Tuch, mit dem er sich die Haare trocknete. „Vielleicht zieht es ja doch langsam weiter. Jetzt kommt es zu uns und danach hoffentlich ganz weit weg.“
„Ich glaube nicht…“, der nächste Donner schnitt Diana das Wort ab. Der zum Donner gehörende Blitz war nicht viel früher zu sehen gewesen.
„Siehst du, ich habe doch gesagt, dass es näherkommt“, fühlte Tom sich bestätigt.
Angespannt sah Diana noch einmal aus dem Fenster. Obwohl sie es gerne getan hätte, konnte sie nicht abstreiten, dass Tom und seine Frau Recht hatten. Der Abstand zwischen Blitz und Donner wurde immer geringer. Das Gewitter kam näher. Und das tat es schnell.
Sie stand auf. „Habt ihr etwas dagegen, wenn ich mich ins Wohnzimmer zurückziehe?“ Tom und Janina hatten dort das Schlafsofa für sie bereit gemacht und da Fernsehen zurzeit sowieso nicht möglich war, nutzte sie nun das gesamte Zimmer wie ein Gästezimmer.
„Sicher, mach ruhig“, kam die Antwort von Janina.
„Gut, dann bis später. Ach und falls John nach mir fragen sollte… sagt ihm bitte, dass ich nicht mit ihm reden möchte.“
„Weiß er denn, dass du hier bist?“, fragte Janina verwundert.
„Wahrscheinlich. Wo sollte ich sonst sein?“
„Na ja, irgendwo, wohin du nicht dreihundert Kilometer durch den Sturm hättest fahren müssen?“
„Ich sage es ja nur für den Fall, dass er auftaucht.“
Jetzt lachte Janina. „Falls er hier auftaucht? Auf eine Vermutung hin? Ich dachte, du meinst, ich solle ihn abwimmeln, falls er anruft. Aber dass er hier auftaucht ist doch ziemlich unwahrscheinlich, denkst du nicht?“
Diana zuckte mit den Schultern. „Falls er anruft, dann sagt ihm auch, dass ich nicht mit ihm reden möchte.“
Mit ungläubig gehobenen Augenbrauen und amüsiertem Grinsen musterte Janina Diana. „Du hast wirklich gedacht, er würde kommen, oder?“
Diana sah noch einmal aus dem Fenster. Blitz und Donner waren nun bereits fast zeitgleich zu vernehmen. „Ich habe so eine Ahnung“, gab sie schlicht zurück. Sie ignorierte Janinas Lachen und ging ins Wohnzimmer. Hinter sich schloss sie die hölzerne Tür, um sich für einen Augenblick der Ruhe der Abgeschiedenheit hinzugeben. „Du blöder Mistkerl, ich habe dir gesagt, dass ich nicht mehr mit dir reden möchte“, stieß sie dort den Gedanken aus, der nicht im Ansatz das Chaos ihrer Gefühle beschreiben konnte. Sie setzte sich auf die Schlafcouch und zog sich die Decke über die Schultern. Der immer wieder polternde Donner machte ihr keine Angst, doch er zerrte an ihren Nerven. Sie wollte John nicht sehen und erst recht nicht mit ihm reden. In den letzten Tagen hatte sie sich pausenlos Gedanken über das gemacht, was geschehen war. Und es war ihr bewusst geworden, dass John tatsächlich immer anders gewesen war, als sie ihn gesehen hatte. Es war unglaublich, dass sie seine wahre Natur noch nicht früher erkannt hatte. Er war ein Mörder. Einer, den man nicht einmal anzeigen konnte. Kein Gefängnis der Welt hätte ihn halten können. Niemand konnte auch nur irgendetwas gegen ihn ausrichten. Jeden, der sich ihm in den Weg stellte, konnte er von einer Sekunde auf die nächste einfach töten. Eine Gänsehaut überkam sie. Er hatte diese Macht tatsächlich genutzt. Vor ihren Augen. Gegen einen Freund. Und nur aus dummer, unbegründeter Eifersucht. Niemals hätte sie ihn für so primitiv gehalten. „Aber du hast ihn ja auch einmal geliebt“, erinnerte sie sich selbst angewidert. Sie wünschte sich, sie hätte ihn niemals kennengelernt. Und dass sie ihn nicht mehr wiedersehen müsste. Doch es war gewiss, dass er kam. Wieder setzte ihr Herzschlag für einen kurzen Moment aus, als der nächste Donner ertönte.
Es war schließlich schon fast eine Erleichterung für sie, als endlich das erwartete Klingeln an der Tür zu hören war. Sie legte das Buch zur Seite, das sie sich zur Hand genommen hatte, ohne einen Blick darein zu werfen, und ging zu der geschlossenen Wohnzimmertür. Mit angehaltenem Atem lauschte sie dem Geschehen davor. Sie hörte, wie Paprika bellte und jemand zur Haustür ging. In der nächsten Sekunde stieß Tom verwundert aus: „John, was machst du denn hier?“
„Hallo Tom, ich… darf ich hereinkommen? Es regnet ganz schön.“
Eine Weile herrschte Schweigen. „John, ich denke, das ist keine gute Idee“, sagte Tom schließlich sachlich.
„Tom, ich möchte nur mit ihr reden. Bitte.“
„Unglaublich, dass du bei dem Wetter wirklich hierhergekommen bist“, kam es von Janina. Diana konnte sich hinter der geschlossenen Tür den Hauch von Anerkennung in Janinas Blick bildlich vorstellen. Janina hatte John schon immer gemocht. So wie alle Menschen diesen geheimnisvollen Mann schon immer gemocht hatten, ohne sich wirklich zu fragen, was denn das Geheimnis hinter ihm war. Diana konnte sich selbst nicht davon ausschließen.
Der nächste Donner ertönte und ließ auch sie dieses Mal zusammenzucken.
„Darf ich hereinkommen?“, fragte John noch einmal.
Tom blieb hart. Er kannte seine Schwester und wusste, was es bedeutete, wenn sie mitten in einem Gewitter über dreihundert Kilometer fuhr, um bei ihm Zuflucht zu suchen. Und dem schuldete er mehr Anerkennung, als jenem Mann, der sie dazu getrieben hatte, es zu tun. „John, Diana möchte nicht mit dir reden.“
„Ich möchte mich nur bei ihr entschuldigen.“
„Als wäre es mit einer Entschuldigung getan“, ging es ihr durch den Kopf.
„Bitte“, versuchte John es weiter.
„Ach, jetzt komm schon rein! Wir werden ja alle schon ganz nass“, sagte Janina und schloss offenbar die Tür hinter John.
„Danke.“
„Zieh erst einmal deine Jacke und deine Schuhe aus.“
„Janina, ich denke nicht, dass das so eine gute Idee ist“, hörte sie die Stimme ihres Bruders. „Du weißt, dass Diana nicht mit ihm sprechen möchte. John, es tut mir leid“, fuhr Tom fort, „ich möchte mich wirklich nicht einmischen und ich weiß auch nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber denkst du nicht, es wäre besser, Diana mehr Zeit zu geben?“
„Oh, glaube mir, Zeit wird dir ganz sicher auch nicht helfen“, flüsterte Diana. Durch die geschlossene Tür konnte sie ihn nicht sehen, doch sie wusste, auch wenn Janina und Tom es nicht vermochten, so konnte John sie hören. Und dies sollte er auch ruhig hören.
Rascheln ertönte und schließlich hörte sie, wie sich Schritte dem Wohnzimmer näherten. Wieder hielt sie den Atem an, als könne sie dadurch rückgängig machen, dass sie ihm nicht nur gezeigt hatte, wo sie war, sondern darüber hinaus verraten hatte, dass sie ihn hören konnte. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie etwas zu ihm gesagt hatte. Er war es nicht wert, dass sie das Wort an ihn richtete. Und erst recht sollte er sich nicht in der Absicht beflügelt sehen, auch seinerseits mit ihr zu reden. Zu ihrem Glück bewegte sich nun auch ein zweites Fußpaar schnell auf sie zu. Es musste Tom gehören, der John überholte und sich zwischen ihn und die Wohnzimmertür drängte. „Ich muss dich bitten, mein Haus wieder zu verlassen“, erklang seine Stimme in der nächsten Sekunde ernst.
„Tom, willst du John jetzt ernsthaft wieder raus in das Unwetter schicken?“, wies Janina ihren Mann zurecht. Zu John gewandt sagte sie: „Ich würde vorschlagen, wir setzen uns jetzt erst einmal zusammen in die Küche und du erzählst mir, was aus deiner Sicht passiert ist. Vielleicht bekommen wir Diana doch überzeugt davon, sich einmal anzuhören, was du zu sagen hast.“
„Janina, ich danke dir. Doch ich habe dir nichts anderes zu erzählen, als Diana es möglicherweise schon getan hat. Kannst du sie bitte einfach nur fragen, ob ich mit ihr reden kann?“
Diana ging von der Wohnzimmertür weg und zog sich in die hinterste Ecke des Zimmers zurück. Sie wollte John nicht sehen, wenn Janina die Tür öffnete. Sie wollte auch nicht, dass er sie direkt anblicken konnte. Doch sie wusste, Janina würde seiner Bitte nachkommen und die Tür öffnen.
„Gut. Warte doch so lange in der Küche“, hörte sie Janina sagen, was zu erwarten gewesen war. Aus der Entfernung, die Diana zwischen sich und den Flur gebracht hatte, klang ihre Stimme leiser, doch noch immer konnte Diana sie gut verstehen. Danach folgte Schweigen, das Diana schier verrückt machte. Sie zuckte erschrocken zusammen, als es kurz später an die Wohnzimmertür klopfte. „Komm rein“, sagte Diana mit leichter Anspannung. Innerlich wappnete sie sich bereits gegen Janinas Überredungskünste. Gleichzeitig fürchtete sie aber insbesondere, dass es gar nicht Janina war, die bei ihr an die Tür geklopft hatte. Sie beruhigte sich wieder etwas, als Janina ihren Kopf durch die Tür steckte. Janina sagte zunächst einmal gar nichts. Still schloss sie die Tür hinter sich und ging auf Diana zu. Als sie neben ihr stand, legte sie ihr den Arm über die Schulter. „Wenn du wirklich nicht mit ihm reden willst, schicke ich ihn wieder weg“, sagte sie so einfühlsam, dass Diana ihr fast verzieh, dass sie John überhaupt hereingelassen hatte.
„Ich will wirklich nicht mit ihm reden“, beteuerte sie ehrlich und hoffte, Janina würde dies so weiterleiten und John würde es akzeptieren.
Janina nickte. „Aber er ist extra für dich den weiten Weg hierhergekommen“, sagte sie ganz ruhig. „Ich glaube, es tut ihm wirklich leid. Was immer er auch getan hat.“
„Was immer er auch getan hat“, wiederholte Diana in ihrem Kopf. Hätte Janina gewusst, was er wirklich getan hatte, hätte sie sicher anders gesprochen. Doch Diana konnte es ihr einfach nicht sagen. Sie würde es niemandem sagen können. Niemals. „Das glaube ich nicht“, gab sie lediglich zurück. Sie war es müde, zu diskutieren. „Doch selbst wenn, dann macht es das auch nicht wieder rückgängig.“
„Möchtest du ihm nicht wenigstens die Chance geben, sich zu erklären?“
„Glaube mir Janina, da gibt es nichts zu erklären. Wirklich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf.
Für einen Moment wirkte es so, als sehe Janina ein, dass sie Diana nicht umstimmen konnte, dann jedoch umfasste sie Dianas Schultern. „Diana, ich weiß doch, wie sehr du ihn liebst. In Wahrheit bist du doch erleichtert darüber, dass er gekommen ist, oder nicht?“
„Nein, bin ich nicht.“
„Aber…“
„Schick ihn einfach weg, ja?“, platzte es aus Diana heraus. Janina nervte sie. Und ebenso nervte es sie, dass sie sich rechtfertigen musste. Schließlich war es John, der den Mord begangen hatte, nicht sie.
„Aber…“
„Janina, bitte!“, schrie Diana die Frau ihres Bruders an. Es war unfair, dass Janina sich einmischen wollte, ohne dass sie auch nur eine Ahnung davon hatte, was sich wirklich ereignet hatte. Und das, obwohl Diana sie extra gebeten hatte, John zu sagen, dass sie nicht mit ihm sprechen wollte.
Zu Dianas Ärger ließ sich Janina nicht einmal davon einschüchtern, dass Diana sie angeschrien hatte. „Wenn ich ihn jetzt wegschicke“, antwortete sie immer noch ruhig, „und bei der Fahrt nach Hause ein Baum auf sein Auto fällt …sag mir nicht, dass du das nicht bereuen würdest.“
„Janina“, erwiderte Diana zunehmend gereizt, „ich habe John nichts mehr zu sagen. Und das weiß er. Also, wenn du mir einen Gefallen tun möchtest, geh zu ihm und sage ihm, dass ich ihn nie wiedersehen will. Nie wieder!“, schrie sie in Richtung der Tür. Sie schlug Janinas Hände von sich fort, woraufhin diese es endlich aufgab, ihr zu widersprechen. Janina verließ ihrerseits etwas eingeschnappt das Wohnzimmer. „Ich habe es versucht, aber sie möchte nicht mit dir reden“, hörte Diana ihre gereizte Stimme aus der Küche durch die spaltbreitgeöffnete Wohnzimmertür. Ein Stuhl wurde zurückgeschoben, als sich jemand aufrichtete.
„Ich weiß nur nicht, was ich tun kann, um etwas daran zu ändern“, hörte sie John. Genervt ging Diana zur Wohnzimmertür, um sie zu schließen und das Gespräch von sich abzuschneiden, während Janina John antwortete: „Ich glaube, du kannst erst einmal gar nichts tun. Gib ihr Zeit.“ Sie klang resigniert. Trotz geschlossener Tür hörte Diana auch Johns Antwort. Es klang, als gebe er den Versuch auf, sie sehen zu wollen. „Es tut mir leid, dass ich euch störte. Richtet ihr bitte aus, dass ich sie liebe, ja?“
Bei dieser Aussage überkam Diana pure Übelkeit. Dennoch konnte sie sich nicht dazu überwinden, hinter der geschlossenen Wohnzimmertür wegzutreten. Sie stand weiterhin dort, um dem zu lauschen, was in Flur und Küche besprochen wurde. Als sie wieder Schritte auf dem Flur hörte und das Rascheln einer Jacke, war sie sich fast sicher, dass er endlich gehen würde.
„Und mach, dass dieses dumme Gewitter endlich aufhört“, flüsterte sie. Und wieder ärgerte sie sich über sich selbst, sofort nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte. Wieder hatte er sie offensichtlich gehört. Statt aber aus der Haustür hinauszugehen, wie sie es erwartet hatte, kamen Johns Schritte mit einem Mal wieder zielstrebig auf das Wohnzimmer zu. Dieses Mal ließ John sich auch nicht von Tom daran hindern, die Wohnzimmertür zu öffnen. „Wenn du mit mir redest, dann höre dir bitte auch an, was ich zu sagen habe“, forderte er vorwurfsvoll von ihr, sobald er eingetreten war. Es war bedrohlich, wie er sich vor ihr aufbaute.
Schockiert trat Diana von der Tür zurück. Sie musterte John von oben bis unten. Seine Haare fielen ihm feucht auf die Schultern. Dunkle Augenringe ließen ihn alt wirken. Er wirkte krank und dünner als sonst.
„Du siehst schrecklich aus“, sagte sie abwertend. Sie meinte ihre Worte dabei genauso abwertend, wie sie ihr über die Lippen kamen. Ganz sicher hatte sie kein Mitleid mit diesem Mann, der ihr fremder vorkam, denn je.
„Hast du Angst vor mir?“, fragte er auf ihr Zurückweichen hin entsetzt.
Diana verschränkte die Arme vor der Brust und sah zur Wand. „Geh einfach!“, forderte sie. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sie wusste, dass er ihr niemals etwas antun würde. Auch wenn dies momentan wohl das Einzige war, das sie ihm nicht zutraute. Doch ihre nicht vorhandene Angst bedeutete nicht, dass seine Anwesenheit ihr weniger zu schaffen machte.
„Diana, bitte!“ John klang verzweifelt und seine gesamte Haltung spiegelte diese Verzweiflung wider. „Ich habe die letzten Tage pausenlos versucht, wieder rückgängig zu machen, was geschehen ist.“
„Und war es erfolgreich?“, fragte sie kalt.
Seine Augen öffneten sich ein Stück weiter. Er schluckte.
„Na also. Was willst du dann hier?“
„Bitte.“ Unbeholfen trat er von einem Fuß auf den anderen. „Ich bitte dich darum, mir zu verzeihen.“
Diana kniff wütend die Augen zusammen. Sie sah von John weg zu Tom und Janina, die vom Flur aus das Gespräch verfolgten. „Könntet ihr uns bitte alleine lassen?“, fragte sie. Obwohl sie sich schwach und verletzlich fühlte, wusste sie genau, was sie wollte. Sie wollte John loswerden und das für immer. Und möglicherweise konnte ihr dies am besten genau dadurch gelingen, dass sie mit ihm sprach. Ihre Wut verlieh ihr die nötige Stärke dazu. Die Wut darüber, dass John es überhaupt wagte, ihr unter die Augen zu treten und sie um Verzeihung zu bitten. Wie konnte er auch nur im Ansatz davon ausgehen, dass sie ihm verzeihen konnte?
Tom und Janina schienen ihr ihre Stimmung anzusehen. Zumindest kamen sie ihrem Wunsch nach. Nach einem Nicken zogen sich die beiden in die Küche zurück. John schloss sofort die Tür hinter ihnen. „Hören sie uns noch?“, fragte Diana ihn danach leise.
Er schüttelte den Kopf.
Übelkeit überkam sie, als sie das Gefühl bekam, eine Vertrautheit breite sich zwischen ihnen aus.
„John, ich kann nicht mehr zurück“, versuchte sie ganz vernünftig mit ihm zu sprechen, obwohl ihr genau diese Vernunft absurd erschien. „Schon jetzt, wo du einfach nur vor mir stehst, würde ich am liebsten… ich weiß nicht… einfach nur weg von dir.“ Länger war es ihr nicht möglich, in normaler Tonlage mit ihm zu sprechen. Der Ekel bei dem Gedanken, wie nah sie John einmal gewesen war, holte sie ein. „Mir wird schlecht, wenn ich mit dir rede, als wärest du ein normaler Mensch. Denn das bist du nicht. Du gehörst weggesperrt! Mein Gott… ich… was ich jedenfalls weiß, ist, dass ich dich nicht mehr lieben kann. Und darum geht es dir doch, oder?“, versuchte sie es noch einmal mit klaren Worten.
„Bitte, sag das nicht.“ Seine Stimme holperte unsicher.
„Es ist aber die Wahrheit.“
„Das kann nicht wahr sein. Diana…“
„Weißt du, was wirklich nicht wahr sein kann?“, unterbrach sie ihn. „Dass du mich liebst. Oder dass du mich je geliebt hast. Hättest du das nämlich getan, als du mich und Daniel in der Küche gesehen hast, hättest du ihn niemals umgebracht. Du hättest gewusst, dass ich dir das niemals würde verzeihen können. Abgesehen davon, dass du gewusst hättest, dass ich dich nicht betrog.“
John biss sich auf die Unterlippe. „Bitte. Lass diesen Mann nicht zwischen uns stehen.“
„Du hast ihn zwischen uns gebracht!“, schrie sie ihn an.
„Ich weiß, es ist meine Schuld. Sage mir doch einfach nur, wie ich es wieder gut machen kann. Ich würde alles tun, das weißt du.“
„Du kannst aber ganz offensichtlich nicht alles tun. Nicht wahr?“
„Bitte!“ Er kam näher auf sie zu.
„Wage es nicht, mich anzufassen.“
„Diana, ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe.“
„Du hast nicht einfach nur irgendeinen Fehler gemacht. Du hast einem Menschen das Leben genommen und der einzige Grund, aus dem es dir leidtut, ist, dass ich es dir vorhalte.“
John wich ihrem Blick aus. Mit Sorgenfalten sah er seitlich zu Boden. Es wirkte, als wäre er kurz davor zu weinen.
„Du leugnest das ja nicht einmal!“
„Weil er es nicht anders verdient hatte“, sagte er leise, immer noch ohne sie anzusehen. „Es war Daniel. Ausgerechnet ihn musstest du zu uns führen?“ Mit dieser Frage sah er wieder zu ihr auf. „Bei jedem anderen wäre es mir leichter gefallen, mich in dieser Situation zu bändigen, aber Daniel?“
„Ich fasse es nicht, du machst mir doch gerade tatsächlich wieder einen Vorwurf! Oh Gott und es tut dir einfach nicht leid, dass er tot ist!“
„Es war Daniel!“, fuhr er sie an, als wäre dies Antwort genug. Die Aggressivität mit der er sprach, machte ihr nun tatsächlich ein wenig Angst. Noch einmal wich sie ein Stück vor ihm zurück. Doch es waren andere Gefühle als diese Angst, die in ihr überhandnahmen und sie zum Weinen brachten. Es war auch weniger Trauer, sondern eher Wut und Fassungslosigkeit. „Kannst du jetzt bitte endlich einfach gehen?“
Er schüttelte den Kopf. „Diana, hör mir doch zu. Ich möchte dich nicht belügen. Daniel ist es nicht, um den es mir leidtut. Er ist kein Verlust für die Menschheit. Aber es tut mir leid, dass ich dich mit meinem Verhalten enttäuscht habe.“
„Du bist es, der kein Verlust für uns wäre!“ Sie sah berechnend an ihm vorbei zur Tür, um abzuwägen, ob es Sinn machte, dass sie weglief und John hier zurückließ.
„Ich weiß, dass du bei solchen Dingen eine andere Weltanschauung hast als ich, aber…“
„Ja Gott verdammt, die habe ich! Da hast du allerdings Recht. Und deswegen können wir auch nicht zusammen sein! Verstehst du das denn nicht? Warum musst du es uns beiden denn jetzt so schwer machen? Warum gehst du nicht endlich?“
„Diana, du wusstest, dass ich schon Menschen getötet habe, bevor wir zusammengekommen sind. Das…“
„Aber doch nicht wegen so etwas!“
„Nun, was könnte wichtiger sein, als so etwas?“
Diana atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Vielleicht hast du Recht und ich hätte es früher bemerken müssen. Aber spät ist besser als nie. Also, jetzt weiß ich zumindest definitiv, dass ich dich irgendwie falsch eingeschätzt habe.“
„Das hast du nicht. Du…“
„Geh jetzt! Endlich! Und mach, dass dieses dumme Gewitter aufhört.“
„Meinst du etwa, ich habe dieses Gewitter aus Spaß heraufbeschworen? Oder um dich zu ärgern? Es hilft mir dabei, mich abzureagieren, damit ich mich selbst besser unter Kontrolle halte.“ Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung war in seinem Gesicht zu lesen.
„Das macht es nicht besser“, versuchte sie kühl, so wenig wie möglich auf ihn einzugehen.
„Diana, ich bitte dich.“ Seine Stimme zitterte. „Du weißt besser als jeder sonst, wer ich bin. Du bist die Einzige, die meine Fähigkeiten kennt und dennoch nie geglaubt hat, dass ich …böse bin.“
„Vielleicht bin ich einfach die Einzige, die sich die ganze Zeit über geirrt hat. Die Menschen aus deiner Zeit hatten einfach die ganze Zeit Recht. Denn das ist es genau, was du bist. Böse.“
Er verlagerte sein Gewicht. Seine Verzweiflung nahm wieder überhand. Es schien ihn zu überfordern, dass sie beim Namen nannte, was so offensichtlich war.
„Was kann ich tun, um dir das Gegenteil zu beweisen?“, fragte er und wirkte dabei fast hilflos.
„Wir drehen uns im Kreis. Du kannst einfach nichts tun. Und Zeit hilft dir da ganz bestimmt auch nicht weiter.“
„Ich weiß. Du würdest dir mit jedem Tag mehr einreden, mich zu hassen.“ Immer noch zitterte seine Stimme.
„Ich muss mir das nicht einreden.“
Abrupt und völlig unvorhergesehen schlugen Blitze rund um das Haus ein. Das Licht war so hell, dass Diana die Augen zukneifen musste.
„Tut mir leid“, entschuldigte John sich für seinen Gefühlsausbruch.
Sie ignorierte seine Worte. „Gehst du jetzt? Und ich meine ganz. Weg aus unserer Welt. Geh wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist.“
„Du weißt nicht, was du da von mir verlangst.“ Das Zittern seiner Stimme übertrug sich auf seinen gesamten Körper.
„Doch, weiß ich. Versprich mir, dass du gehst, dann kann ich dir zumindest glauben, dass du dir das Beste für mich wünschst.“
Johns Augen weiteten sich. Er trat von ihr zurück, als wolle er nicht wahrhaben, was sie zu ihm sagte. Als wolle er nicht wahrhaben, dass sie Recht hatte. Und doch musste er es irgendwann akzeptieren. Und nun war die Zeit dafür gekommen. Eine tiefe Furche bildete sich auf seiner Stirn. Diana wusste, dass er dabei war, einzusehen, dass er sie verloren hatte.
„Du hast doch immer gewusst, dass du mich nicht verdient hast und dass du nicht gut genug für mich bist“, sprach sie die Gedanken aus, die sie in seinem Kopf vermutete. Und jene, mit denen sie hoffte, ihn endgültig davon überzeugen zu können, dass er gehen sollte. „Also zieh jetzt die entsprechenden Konsequenzen. Beweise mir, dass du mich liebst, indem du mir das Leben ermöglichst, das ich verdient habe. Ohne dich. Indem du gehst.“
Es war, als hätte sie ihn physisch verletzt. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz. Seine Augen blinzelten und sahen wild im Raum hin und her, als suchten sie dort nach einer Lösung. Abwesend schüttelte er langsam den Kopf. Es vergingen auf diese Art einige Minuten, bis er ihr wieder in die Augen blickte. Seine waren feucht. Er nickte kaum merklich, dann drehte er sich abrupt von ihr ab, verließ das Wohnzimmer, ließ seinen Mantel um sich schweben und verließ das Haus.
Diana atmete erleichtert aus. Noch immer verspürte sie Übelkeit, doch sie war definitiv erleichtert, ihn fortgehen zu sehen. Sie sah ihm vom Wohnzimmer aus hinterher, Tom und Janina standen in der Küchentür und blickten ihm noch nach, während er immer mehr in der Dunkelheit des Gewitters verschwand.
„Hat er sich gerade durch einen Zaubertrick, seine Jacke angezogen?“, fragte Janina, als sie endlich die Haustür hinter John schloss.
Diana nickte zur Antwort.
„Wie unpassend, in so einem Moment einen Trick zu üben.“
Diana schluckte. Noch einmal nickte sie. „In so einem Moment hat man keinen Grund mehr, sich zu verstellen.“