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10 Ungewissheit Freitag, 21. Februar 2014

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Jacques Verrier nutzte die Tage bis zu Elaines Rückkehr nach Monaco, um sich mit der Struktur der Vatikanbank und den rechtlichen Rahmenbedingungen zu beschäftigten. Je tiefer er in die Materie eindrang, desto besorgter wurde er. Mittlerweile sah er mit Bangen dem Treffen entgegen.

Elaine erwartete ihren Anwalt im privaten Teil ihres Büros, der wie ein Salon mit Sofas und einem Sessel in harmonierenden weiß-beigen Farbtönen, Glastisch, Teppich und moderner Kunst an den Wänden eingerichtet war. Jacques gefiel die familiäre Atmosphäre hier, und er bewunderte jedes Mal die kleine Giacometti-Skulptur, die als einziges Schmuckstück auf der grau lackierten Kommode stand.

Am Morgen hatte Elaine ihre Sekretärin gebeten, Petits Fours mit Schokolade einzukaufen. Sie kannte Jacques’ Vorliebe für Süßes zum Espresso und wusste, wie sehr er solche Aufmerksamkeiten schätzte.

Jacques Verrier überließ Elaine den Sessel und setzte sich auf das Sofa. Zu gerne hätte er gewusst, warum sie ihm nicht von dem Verlust der 3 Milliarden und den Problemen mit Kardinal Bretone erzählt hatte. Doch er hielt sich respektvoll zurück, denn nur selten hatte Elaine in den letzten Jahrzehnten unbedacht gehandelt. Sie plauderten ein wenig, und er naschte von den kleinen Köstlichkeiten. Als ihm auffiel, dass Elaine Kräutertee statt Espresso trank, fragte er, ob es ihr gut gehe. Sie nickte, und er begann daraufhin von seinem Treffen mit Kardinal Bretone in Rom zu berichten.

Elaine hörte ihm konzentriert zu. Erst als ihr Anwalt die Worte von Kardinal Bretone wiederholte, der eine Verbindung zwischen Dr. Schachtmann und versteckten Nazigeldern herstellte, unterbrach sie ihn empört.

»Nazigelder? Welche Frechheit, mir das ohne Beweis zu unterstellen!«, regte sie sich auf. »Kardinal Bretone versucht hinter meinem Rücken Infor­mationen zu bekommen, die ich ihm angeblich vorenthalten habe? Was denkt er sich eigentlich dabei?«

»Ich heiße sein Verhalten auf gar keinen Fall gut, aber der Kardinal will oder muss das Problem irgendwie lösen. Also versucht er, um jeden Preis die nötigen Angaben zu bekommen.«

»Hätten sie die Gelder nicht veruntreut, bräuchte er die nicht. Eine schwache Ausrede.«

Jacques nickte. »Da hast du natürlich recht.«

»Welche Bank in Monaco will meine Immobilien refinanzieren?«

»Die Banca Nazionale di Roma.«

Schweigend schauten sie sich an.

»Ich sorge mich um dich, Elaine. Warum hast du bei einem so schwer­wiegenden Problem nicht angerufen?«

»Ach Jacques, die letzten Wochen waren schwierig.«

Da der Anwalt seit vielen Jahren mehr als nur Sympathie für Elaine hegte, vermied er es, sie zu kritisieren. Ihr Wohl lag ihm im wahrsten Sinne des Wortes am Herzen. Wenn sie gelegentlich zusammen zum Essen gingen, sich über die Geschehnisse in Monaco und der Welt austauschten oder private Sorgen teilten, war er glücklich. Zu gern hätte Jacques Verrier die Beziehung zu Elaine vertieft, war aber erfahren genug, sich zu gedulden. Nach dem Schlaganfall von Alessandro und dem Tod von Marcel erschien ihm der Zeitpunkt ungünstiger denn je – leider.

»Warst du deswegen in der Schweiz?«

»Vielleicht will man mich unter Umständen auch einfach nur erpressen?«, antwortete Elaine mit einer Gegenfrage, die den Anwalt überraschte.

»Wieso sollte der Kardinal das versuchen?«

»Weil unsere Familie Geheimnisse mit dem Vatikan teilt.«

»Um deine Frage zu beantworten, müsste ich wissen, wovon du redest. Wieso hast du die Geheimnisse nie erwähnt?« Ihm war unbehaglich zumute.

»Weil es sonst keine mehr wären.«

Eine gewisse Logik konnte Jacques der Antwort nicht absprechen, trotzdem verengten sich seine Augen. Er war enttäuscht. Um dies zu verbergen, versicherte er, dass Kardinal Bretone diese Gespräche keines­falls führen würde, wäre er nicht ernsthaft um die Folgen des möglichen Skandals für die Vatikanbank und das Fürstentum besorgt. Dann griff er nach einem weiteren Gebäck und haderte innerlich mit sich. Wenn er Elaine nicht endlich seine Gefühle gestand, würde er sich immer wieder verletzt fühlen. Schließlich stand es ihm nicht auf die Stirn geschrieben, dass sich seine Gedanken fast nur um sie drehten … Eine Spur engagierter als sonst fügte er deshalb hinzu: »Elaine, ich sorge mich sehr um dich. Was wird da wirklich gespielt? Und warum zieht der Kardinal Thierry Louron in diese heikle Geschichte hinein? Kennst du ihn näher? Der spielt doch trotz seines Mandats weit unter dem Niveau des Kardinals.«

»Nur vom Hörensagen. Einer der privaten Anwälte des Fürsten, der sich um dessen verzwickte private Angelegenheiten kümmert. Da gab es in der Vergangenheit mehr als genug Frauen, Gerüchte um uneheliche Kinder und andere Geschichten.«

»Das soll uns heute nicht tangieren. Und welchen möglichen Skandal meinte der Kardinal?«

Elaine seufzte und winkte ab. »Dann kann ich meine letzten Hoffnungen begraben, dass sich alles irgendwie regeln lässt?«

»Die Gelder wurden definitiv veruntreut.«

»Weißt du, allein über den Verlust von 3 Milliarden Dollar nachzudenken, zieht mir die letzte Kraft aus dem Körper.«

»Das glaube ich dir sofort. Wie lange arbeitest du schon mit Kardinal Bretone? Es scheint immerhin eine komplizierte Geschichte zu sein, willst du mich nicht einweihen?«

Elaine stand auf und stellte sich vor das Sideboard. Sie fuhr mit dem Zeigefinger einige Male über die schmale Giacometti-Skulptur. Dann drehte sie sich wieder zu Jacques und erzählte ihm, dass sie für ihren jährlichen Routine-Check in die Schweiz gefahren sei. Um in Ruhe und mit Abstand vom Alltagsgeschäft bei Spaziergängen im Schnee und an der frischen Luft nachzudenken, hätte sie drei Tage angehängt. »Ich bin gezwungen, in den nächsten Wochen wichtige Entscheidungen zu treffen, weil ich keine andere Wahl habe, als den Kredit bis zum 20. Mai zurückzuzahlen. Die Frage ist, was ich in drei Monaten gegen den Vatikan unternehmen kann oder wo ich das Geld hernehme. Und ich muss dringend meine Nachfolge regeln.«

Jacques nickte verständnisvoll. »Eine Menge. Und, hast du dich erholt?«

»Nein. Ich konnte nicht abschalten«, antwortete Elaine und fügte schnell hinzu, dass der gigantische Betrug des Vatikans für sie als Katholikin unfassbar sei. »Wo bleiben die Werte, die von der Kirche beständig gepredigt werden?«

Jacques hatte natürlich bemerkt, dass sie seiner Frage ausgewichen war. Da er sich nicht in einer wenig zielführenden Diskussion verlieren wollte, kam er auf den Punkt zu sprechen, der ihn als Anwalt beschäftigte. »Ich habe den Sachverhalt gründlich geprüft, um deine rechtlichen Möglichkeiten abzuklären. Ohne den exakten Vertragsinhalt zu kennen, ist das allerdings schwierig.«

Er machte eine Pause in der Hoffnung, Elaine würde sich endlich erklären, doch die forderte nur ungeduldig: »Nun sag doch schon!«

»Es sieht nicht gut aus.« Jacques Verrier blätterte durch seine Notizen und legte dar, dass die Statuten und die zusätzlichen Abkommen mit dem italienischen Staat die Vatikanbank zu einem Offshore-Finanzplatz machten, der sich jeglicher Kontrolle entzog. Die Vatikanbank gebe den Mitarbeitern freie Hand bei allen Finanzaktivitäten, garantiere strengste Geheimhaltung und Straffreiheit. Die Angestellten der Bank könnten innerhalb ihrer Mauern nach Belieben schalten und walten.

»Und keiner kontrolliert sie? Schockierend!« Elaine setzte sich kopfschüttelnd wieder in den Sessel.

»Leider keine Übertreibung, sondern Realität. Nach der Interpretation des Kassationsgerichts können Mitarbeiter des Heiligen Stuhls in Italien weder festgenommen noch vor Gericht gestellt werden. Sie genießen strafrechtliche Immunität.«

»Ich habe also auf legalem Weg nicht die Spur einer Chance?«

»Wenn du einen Gerichtsstreit in Erwägung ziehst, leider nein.«

»Hat denn noch nie ein Kunde die Vatikanbank verklagt?«, fragte sie ungläubig.

»Ich konnte lediglich Notizen über den Fall eines Ex-Ministers Anfang der Neunzigerjahre finden«, sagte Jacques.

»Und?«

»Er versteckte Gelder bei der Vatikanbank, als er im Visier der italienischen Ermittler wegen Schmiergeldern und Mafiakontakten stand. Eine tragikomische Geschichte, denn als er nach fünfzehn Prozessjahren endlich freigesprochen wurde und sich sein Geld auszahlen lassen wollte, war es verschwunden.«

»Du meinst, sie haben sein Konto geleert?«

»So sieht es aus. Er verklagte die Bank, aber Zeugen erinnerten sich nicht mehr oder waren mittlerweile gestorben. Obwohl er kein Unbekannter in Italien war, stand er am Ende ohne einen Dollar da.«

Elaines Augen weiteten sich. »Jacques, die Summe, die in meinem Fall veruntreut wurde, ist wesentlich größer.«

»Dann weißt du hoffentlich, in welcher Liga du spielst. Zeig mir doch bitte den Vertrag, damit ich dir helfen kann«, bat er Elaine inständig.

»Das bringt nach deinen Ausführungen doch überhaupt nichts. Was würde es ändern, wenn ich die Bank sowieso nicht verklagen kann?«

»Man könnte eine außergerichtliche Einigung anstreben. Kardinal Bretone möchte wissen, wer der Kreditgeber ist. Dort könnte man ansetzen. Vielleicht kannst du doch noch ein paar 100 Millionen Dollar retten.«

Sie tauschten einen abschätzenden Blick, dann seufzte Elaine tief.

»Der Kreditgeber bestand auf Anonymität, ich darf keine Details offenlegen. Das habe ich meinem Vater und Dr. Schachtmann ver­sprochen.«

»Du weißt, wer es ist?«

Sie nickte.

»Verhandelst du direkt?«

»Nein, die Umstände sind zu brisant. Würde ich dem Kreditgeber sagen, wer die Gelder veruntreut hat, wäre es fast genauso schlimm, wie nicht zu bezahlen. Es würde einen gefährlichen Konflikt heraufbeschwören.«

Jacques rang nervös seine Hände. »Ich kann nicht mehr tun, als dir meine Hilfe anzubieten.«

»Dafür bin ich sehr dankbar.« Elaine schaute ihn ruhig an, sagte aber nichts mehr.

Um das Schweigen zu brechen, meinte Jacques nur, dass sie dann den Verlust von 3 Milliarden Dollar akzeptieren müsse, da es weder eine Basis für einen Rechtsstreit noch anderweitige Verhandlungen gebe. Es fiel ihm zunehmend schwer, seine Enttäuschung über ihr Verhalten zu verbergen. Tagelang hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie er Elaine helfen konnte, und wurde nun wie ein kleiner Schuljunge abgewiesen. Dass sie ihm nach vier Jahrzehnten Zusammenarbeit in ihrem schwierigsten Fall nicht vertraute, traf ihn hart.

Elaine spürte das. »Jacques, ich habe in den letzten Tagen gegrübelt, ob ich dich einweihen soll. Wie wir gerade herausgefunden haben, würde es an den Fakten nichts ändern. Warum soll ich ein zusätzliches Risiko eingehen?«, versuchte sie erklärend einzulenken.

»Du siehst mich als Risiko?«

»Das war doch nicht wörtlich gemeint. Mir sind die Hände gebunden und zugegeben, mich macht das Ganze sehr nervös.« Elaine legte ihre Hand versöhnlich auf Jacques’ Arm. »Bisher war es mir einigermaßen gelungen, diese ganze Misere aus meinem Bewusstsein zu verdrängen. Jetzt ist klar, ich muss innerhalb von drei Monaten eine Lösung finden, und zwar allein.«

»Allein? Du willst unser Gespräch an diesem Punkt abbrechen, obwohl ich meine Ausführungen noch nicht beendet habe?« Unruhig rutschte er auf dem Sofa hin und her. »Hoffentlich mutest du dir nicht zu viel zu.« Er hatte Elaine noch nicht gefragt, ob sie von der Leasehold-Geschichte wusste. Insgeheim hatte der Anwalt bis jetzt gehofft, sie würde sich öffnen. Zu gern hätte er dann offenbart, dass sein Vater ihn trotz der Geheimhaltungsklausel im Vertrag eingeweiht hatte. Sein ursprünglicher Plan war, gemeinsam mit Elaine übers Wochenende eine Verhandlungsstrategie auszuarbeiten.

»Sei bitte nicht verärgert, Jacques. Gib mir ein bisschen Zeit, alles zu verdauen und zu überdenken.«

Jacques Verrier spürte, wie verunsichert Elaine war, und konnte das durchaus nachvollziehen. Vielleicht würde sie ihre Meinung noch ändern, und auf eine Woche mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Vertrauen und Respekt hatten von Beginn an die Basis ihrer Zusammenarbeit gebildet, und diese wollte er auf keinen Fall zerstören.

»Gut. Wie du meinst.« Schweren Herzens erhob er sich. Wie sollte er Elaine je seine Gefühle erklären?

»Ich komme auf dich zurück. Versprochen.«

Unerwartet umarmte sie ihn zum Abschied.


Elaine schaute auf die Uhr, halb vier. Nach dem Gespräch mit ihrem Anwalt fühlte sie sich ausgebrannt. Ihr Energielevel sank wie ihre Stimmung Richtung Nullpunkt, der Magen schmerzte stärker als sonst. Obwohl sie nur zwei kleine Petits Fours gegessen hatte, war sie nicht hungrig. Natürlich hatte sie Jacques’ Enttäuschung gespürt, und es belastete sie, ihm nicht alles sagen zu können. Sie brauchte dringend Rat und sehnte sich nach einer Schulter zum Anlehnen. Abgebrochen hatte sie das Gespräch nur, weil ihr schlecht geworden war und sie sich keine Blöße geben wollte. Was hätte sie Jacques denn erzählen sollen? Nicht nur die Geschäfte waren kompliziert, sondern auch Elaines medizinische Diagnose.

Da ihr Arzt eine operative Entfernung des Tumors für zu gefährlich hielt und sie eine Chemotherapie abgelehnt hatte, einigten sie sich schließlich auf die Vitamin-B17-Therapie. Diese konnte den Krebs zwar nicht heilen, aber einige lebenswerte Monate zu gewinnen, erschien Elaine inzwischen als lohnenswertes Ziel. Der Arzt hatte ihr ausführlich erklärt, dass die hochdosierte Vitamintherapie ihre Wirkung nur dann optimal entfalten konnte, wenn zuvor eine Behandlung durchgeführt werden würde, die das Immunsystem stärkte und aufbaute. Zu Deutsch: Es musste entsäuert, entgiftet und der Darm saniert werden, bevor man Enzyme, Mineralstoffe sowie Vitamine entsprechend ergänzte.

Den Beginn dieser Therapie hatte Elaine immer wieder verschoben, denn dafür musste sie fünf Tage in die Schweiz fahren und im Hospital bleiben. Und dazu konnte sie sich lange nicht durchringen.

Nach dem Gespräch mit Kardinal Bretone blieb ihr keine Wahl mehr. Dieses Problem zu lösen und ihre Geschäfte geordnet an Alessandro zu übergeben, hatte nun oberste Priorität. Dafür musste sie so lange wie möglich fit bleiben und ihre Krankheit verheimlichen, denn das Wissen darüber hätte ihre Verhandlungsposition enorm geschwächt und eine Lawine anderer Komplikationen ausgelöst. Das unvermeidliche Versteckspiel aber strapazierte die enge, bisher harmonische Geschäftsbeziehung zu Jacques Verrier und zermürbte sie.

Am liebsten wäre Elaine nach Hause gefahren und hätte eine Stunde geschlafen. Sie musste jedoch einen Termin mit dem Interessenten einer Luxuswohnung wahrnehmen, den sie schon letzte Woche verschoben hatte. Belastend kam hinzu, dass sie es versäumt hatte, Isabella Corsini die übliche Hintergrundüberprüfung vornehmen zu lassen. Ihre älteste Freundin checkte seit dreißig Jahren ausnahmslos jeden Mieter für sie. Und das waren Tausende.

Unabhängig von den Informationen, die Elaine normalerweise von Isabellas Agentur erhielt, führte sie mit jedem potenziellen Mieter ein persönliches Gespräch. Der Vermietungsmarkt in Monaco war eng, und Elaine konnte sich den Komfort der Auswahl leisten. Sie wollte den Menschen in die Augen schauen und wissen, mit wem sie einen Vertrag einging. Die Beweggründe, warum sie nach Monaco kamen, interessierten sie nur am Rand, genauso, mit welchem Beruf oder Geschäft sie ihr Geld verdienten. Elaine wollte keinen Ärger, keine Kriminellen und keine Spinner. Nach Tausenden solcher Gespräche spürte sie genau, ob die Geschichten mit den Menschen in Einklang standen. Eine Fähigkeit, die ihrer Tochter fehlte, und ein weiterer Grund, warum sie ihr das Geschäft noch nicht überließ.

Elaine schluckte diszipliniert ihre Vitaminkapseln, trank eine weitere Tasse Kräutertee und aß einige Apfelstücke, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Dann legte sie sich auf ihr Sofa und schloss für eine Viertelstunde die Augen. Mit dem Gedanken an das nahende Wochenende hangelte sie sich über ihren Tiefpunkt hinweg.

Als ihre Sekretärin hereinkam und den schmalen, mit Rubatschov beschrifteten Ordner auf ihren Schreibtisch legte, saß Elaine schon wieder am Schreibtisch und sortierte die Post nach Dringlichkeit.

»Herr Rubatschov wartet bereits draußen.«

»Gib mir bitte zwei Minuten, bevor du ihn reinschickst.« Elaine überflog die wenigen Notizen, die eine Mitarbeiterin nach der ersten Wohnungsbesichtigung zusammengestellt hatte: Sergej Rubatschov, 51 Jahre, Investmentbanker, verheiratet mit Tanja, 42 Jahre, Künstlerin, zwei Söhne. Die russischen Passkopien lagen bei. Die Familie wollte eine Fünf-Zimmer-Wohnung mieten und hatte das Residenzvisum für Monaco beantragt – die Genehmigung für einen dauerhaften Aufenthalt. Derzeitige Adresse: London. Der Mietpreis könnte bis zu 35.000 Euro monatlich betragen. Dafür wünschten die Rubatschovs eine obere Etage mit Sicht aufs Meer. Mit Bleistift stand darunter geschrieben: Nichtraucher, charismatischer Typ, Macho, spricht gutes Französisch und Englisch.

Sergej Rubatschov schüttelte Elaine zur Begrüßung galant die Hand. Dabei fiel ihr sofort die goldene Jaeger-LeCoultre Tourbillon auf, die unter dem Ärmel des Designeranzugs hervorblitzte. Nachdem Rubatschov im Sessel Platz genommen und die Beine übereinandergeschlagen hatte, sah sie seine handgefertigten Schuhe – klassisch schwarz aus feinstem Leder. Zuvorkommend beglückwünschte er sie zu ihrem stilvollen Büro. Dies gab Elaine die Gelegenheit, ihn über den Schreibtisch hinweg zu taxieren. Mit einer unbewussten, aber typischen Geste für einen Geschäftsmann, der in unzähligen Meetings gesessen hatte, richtete er seine violette Hermès-Krawatte und strich sich danach über den gepflegten Vollbart. Wenige braune Haare umkränzten den lichten Oberkopf. Rubatschov war unverkennbar ein erfolgreicher Emporkömmling aus der ehemaligen Sowjetunion, der beste Marken als Statussymbol trug. Elaine hielt ihm zugute, dass er es diskret tat. Man musste sich auskennen.

»Warum wollen Sie mit Ihrer Familie von London nach Monaco ziehen? Erzählen Sie mir bitte ein wenig von sich«, forderte sie ihn freundlich auf.

Rubatschov wippte mit der Fußspitze, schaute Elaine dann direkt in die Augen. »Madame Volante, ich möchte Ihnen mein Beileid zum Tod Ihres Bruders aussprechen. Marcel war ein feiner Mensch.«

»Sie kannten meinen Bruder?«, fragte sie irritiert. Mit diesem Gesprächsbeginn hatte sie nicht gerechnet.

»Seit vielen Jahren. Ich möchte Sie nicht unnötig aufhalten, sondern nutzte die Mietwohnung lediglich als Vorwand, um Sie zu treffen.«

Brüskiert erhob sich Elaine und forderte ihn auf, sofort das Büro zu verlassen.

»Setzen Sie sich bitte, ich möchte doch nur mit Ihnen reden.«

»Ich wüsste nicht, was wir zu besprechen hätten.« Das hatte ihr heute gerade noch gefehlt.

»Bitte, hören Sie mir zu«, bat er höflich, aber bestimmt. »Ich befinde mich in einer unangenehmen Situation, denn ich habe Marcel im letzten November 120 Millionen Euro gegeben. Er sollte fünf Villen an der Riviera für mich kaufen. Wir standen im Januar kurz vor Vertragsabschluss, dann starb Marcel plötzlich.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

»In Monacos speziellen Kreisen ist bekannt, dass Sie jetzt die Familie führen. Ich brauche diese Villen oder mein Geld zurück, und zwar so schnell wie möglich. Ich kann Ihnen leider nur eine Woche Zeit geben, denn ich stehe unter enormem Druck.« Jetzt erhob er sich ebenfalls. »Nächsten Freitag bin ich um die gleiche Zeit wieder hier.«

Elaine hatte sich inzwischen gefasst. »Niemand sagt mir, was ich zu tun habe«, entgegnete sie kühl. »Auf welche Bank haben Sie das Geld überwiesen?«

»Madame, wenn ich eine Überweisung machen muss, kann ich zu jedem Makler gehen.«

»Sie behaupten, den vollen Betrag bar per Vorkasse geleistet zu haben? 120 Millionen Euro? Ohne mir einen Beleg als Beweis geben zu können?«

Sergej Rubatschov schaute Elaine ruhig an und nickte.

»Wer hat Ihnen denn die Villen gezeigt?«

»Ihr Bruder, ich habe exklusiv mit ihm gearbeitet. Nachdem Vittorio gestorben war, hat er Teile seines Geschäfts übernommen.«

»Welche Geschäfte hat Marcel von Vittorio übernommen?«

»Cash gegen Immobilien.«

»Kein Beleg, keine Banküberweisung, keine Papiere? Am Ende nur ein Grundbucheintrag?«

Sergej Rubatschov nickte abermals.

»Was für eine absurde Behauptung! Verschwinden Sie aus meinem Büro!«

»Sehe ich aus wie ein Hochstapler? Die Wahrheit ist oft schwer zu akzeptieren!«, allmählich verlor Rubatschov die Geduld. »Ich bin ein etablierter Geschäftsmann. Haben Sie nicht Ihre üblichen Erkundigungen eingeholt?«

Mit dieser Bemerkung überraschte er Elaine ein zweites Mal. Woher wusste er von der Hintergrundüberprüfung?

»Das geht Sie nichts an«, erwiderte sie. »Und selbst wenn, woher soll ich wissen, dass Ihre Geschichte stimmt? Ich habe bisher weder von Ihnen noch von Bargeldgeschäften mit Russen gehört. Zudem verfügen Sie über keine Belege, und das bei dieser Summe? Lächerlich!«

»Das geschah zu Ihrer Sicherheit. Ihre Brüder haben Sie dadurch geschützt.« Rubatschov strich sich einige Male über die Halbglatze, zögerte. »Ich habe Marcel vor Jahren bei einem sehr großen Geschäft aus der Patsche geholfen. Er wollte mir den Gefallen auf diese Weise erwidern.«

Als Elaine nicht reagierte, trat Rubatschov einen Schritt auf den Schreibtisch zu, blieb direkt vor ihr stehen und flüsterte: »Wollen Sie die lange Geschäftsbeziehung, die ich zu Ihrem Bruder pflegte, wirklich unrühmlich auflösen? Nächsten Freitag, hier, gleiche Zeit, und bitte mit einer positiven Antwort. In der Zwischenzeit sprechen Sie besser mit niemandem darüber.«

»Sie drohen mir?« Zwischen Elaines Augen bildete sich eine Zornesfalte, doch ihre Hände schwitzten.

»Ich gebe Ihnen lediglich einen guten Rat, nicht mehr und nicht weniger. Au revoir, Madame Volante. Ce fut un plaisir de vous rencontrer.«

Bei den letzten Worten fixierten seine stahlblauen Augen Elaine, dass sie Gänsehaut bekam. Würde er es wagen, sie auch physisch unter Druck zu setzen? Sie war heilfroh, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Der Schwindelanfall erwischte sie unvorbereitet. Elaine wankte und klammerte sich an die Tischkante, um nicht umzufallen. Tief atmete sie ein und aus, streifte dabei die Pumps ab. Sie fröstelte, fühlte sich elend. Einige Minuten lang kauerte sie am Boden und wimmerte leise vor sich hin. Dann griff sie mit zittrigen Händen nach ihrer Handtasche, suchte nach dem Pillendöschen und schluckte eine Prozac-Kapsel. Seit einigen Wochen war das Antidepressionsmittel ihr täglicher Begleiter. Ihr Hausarzt Paolo Bernasconti hatte ihr Prozac nach Alessandros Schlaganfall verschrieben, als sie mit ihren Nerven am Ende gewesen war. Nach drei Tagen hatte sie damals die Kapseln achtlos weggelegt. Seit dem letzten Treffen mit Kardinal Bretone in Rom war Elaine froh um das Medikament. Schon nach wenigen Minuten fühlte sie sich besser. Sie schlüpfte zurück in ihre Schuhe, richtete ihr Kostüm, klemmte sich entschlossen die Mappe mit den Angaben über Rubatschov unter den Arm und verließ das Büro. Zeit, um Alessandro in Nizza zu besuchen.

Bevor Elaine auf dem Rücksitz im Auto eindöste, erinnerte sie sich an Chantals Bemerkung nach der Beerdigung. Wusste die Schwägerin von den Bargeldgeschäften ihres Mannes? Wer war Sergej Rubatschov? Dann gingen ihr die warnenden Worte von Jacques durch den Kopf ...

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