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1 Schneegestöber Dienstag, 17. Dezember 2013

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Es schneite seit dem frühen Morgen. Tänzeln­de Eiskristalle verzauberten die farblose Landschaft innerhalb weniger Stunden in ein weißes Wunderland. Später hingen dicke Wolken drohend über den Schweizer Alpen, und der Horizont ging nahtlos in den grauen Himmel über.

Trotzdem brach Elaine Volante am Nachmittag zu einem Spaziergang auf. Sie hoffte, die Bewegung an der frischen Luft würde den Druck etwas lösen, der seit gestern Mittag auf ihr lastete. Die Diagnose ihres Arztes drehte sich als Endlosschleife in ihrem Kopf. Doch genauso wie sich die Nässe der Schneeflocken stetig in ihren Mantel saugte, bohrte sich die Angst mit jedem Schritt tiefer in ihr Herz. Sogar das Wetter schien sich ihrer Stimmung angepasst zu haben.

Um jeden Irrtum auszuschließen, ließ der Arzt die Proben in einem Speziallabor nochmals untersuchen. Schweren Herzens hatte Elaine zugestimmt, in zwei Tagen wiederzukommen. Um unerkannt zu bleiben, verbrachte sie die Zeit im neu eröffneten Luxushotel Chedi in Andermatt und nicht wie sonst nach ihrem jährlichen Routinecheck in Vitznau.

Der Concierge hatte ihr empfohlen, links vor der Konditorei den Fußweg Richtung Nätschen hinauf zu nehmen. Erst jetzt, als sie langsam durch den frisch gefallenen Schnee stapfte, merkte Elaine, dass die ausgeliehenen Wanderschuhe mindestens eine Nummer zu groß waren. Ihren glockenförmigen Wollfilzhut im Stil der Zwanzigerjahre hatte sie tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Seitentaschen ihres Nerzmantels vergraben. Die feinen Lederhandschuhe wärmten kaum. Obwohl Elaine regelmäßig pausierte, erschöpfte sie der Anstieg.

Kurz bevor sie die Skipiste kreuzte, lehnte sie sich keuchend an einen Kiefernstamm. Von einem tief hängenden Ast nieselten ein paar Flocken herab. Genau in dem Augenblick, als sie nach oben sah, entlud sich eine größere Ladung Schnee über sie. Elaine wischte das nasse Weiß aus dem Gesicht und erinnerte sich, wie ihre Mutter den Geschwistern in einem Winterurlaub verboten hatte, Schnee zu essen. Natürlich taten sie es trotzdem, wie alle Kinder. Um von den Brüdern nicht gehänselt zu werden, machte Elaine auch mit. Aber war es nicht wie Wassertrinken aus einer Pfütze?

Trotzig streifte sie jetzt die Handschuhe ab, bückte sich und formte einen Schneeball. Die Wärme ihrer Finger ließ die flockige Masse schnell zu einer festen Kugel werden. Elaine schaute sich zuerst um, bevor sie die Zunge herausstreckte und daran leckte. Erfrischend, trotz des immer noch faden Nachgeschmacks. Sie warf den Schneeball in die Zweige des gegenüberliegenden Baums und schaute auf ihre Uhr. Kurz nach halb vier. Es dämmerte bereits. Im Tal stieg Rauch aus den Schornsteinen der Häuser, hier und da brannte Licht hinter den Fenstern. Das Chedi war nur durch die Umrisse der weihnachtlichen Außen­beleuchtung zu erkennen.

Elaine wollte weitergehen, schaffte es aber nur ein kurzes Stück. Weit weg von ihrem Zuhause, dem mondänen Monaco, überwältigte sie plötzlich Todesangst. Ihre Beine drohten nachzugeben. Mühsam schleppte sie sich bis zur nächsten Bank, wischte den Schnee flüchtig zur Seite und brach zusammen. Elaine weinte hemmungslos, dann schrie sie die Diagnose verzweifelt heraus: Bauchspeicheldrüsenkrebs! Das lange Wort verhallte ohne Echo im Halbdunkel. Sie wiederholte es einige Male. Schnell wurde ihre Stimme leiser, bis nur noch Tränen aus den Augenwinkeln über ihre Wangen rannen. Vermischt mit Wimperntusche, bildeten sie eine schwärzliche Spur. Als die Tränen versiegten, spürte Elaine die Kälte in den Rücken kriechen. Die Angst war nur kurz gewichen, dafür waren ihre Hände blau gefroren. Sie musste sie heftig aneinanderreiben, bis sie die Finger wieder bewegen konnte, um mit dem Taschentuch ihr Gesicht abzutupfen. Mühsam erhob sie sich. Die Muskeln ihrer steif gewordenen Beine reagierten nur lan­gsam, und sie stützte sich an der Rückenlehne der Bank ab. Dabei fiel ihr Blick auf die kleine Plakette: Andermatt – Starke Momente. Welche Ironie! Sie atmete tief durch und sog dabei die kalte Luft ein. Schluss mit dem Lamentieren!

Die Dunkelheit brach nun rasch herein. Elaine begab sich auf den Rückweg und beschloss, den Befund vorerst für sich zu behalten. Ihr stand ein wichtiges Jahr bevor, der Zeitpunkt war unpassend, nicht zu reden von ihrem überquellenden Terminkalender. Die bevorstehenden Feiertage wollte sie mit Besuchen bei den Kindern und Enkeln genießen. Ab Mitte Januar, nach ihrem Geburtstag, sollte es ruhiger werden. Dann würde sie mit ihrem Sohn Alessandro reden.

Sollte sie ihm die Geschäfte dann gleich ganz übergeben?

Als sie an der kleinen Pfarrkirche vorbeikam, sandte sie ein Stoß­gebet gen Himmel. Konfuzius kam ihr in den Sinn: Der Weg ist das Ziel. Abrupt blieb Elaine stehen. Ließ sich das Leben wirklich auf diesen Satz reduzieren?

Monaco Enigma

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