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3 Siebenundsiebzig 11. Januar 2014

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»Oma, du musst über den Bildschirm wischen und die Figur durch das Labyrinth rollen lassen«, feixte der fünfjährige Luca. »Schau, das ist doch ganz einfach.« Er hielt sein iPad hoch, damit Elaine das Display besser sehen konnte, und spielte sich geschickt in die nächsthöhere Ebene. Dabei folgten seine Augen konzentriert den Bewegungen der drolligen Figur, während seine kleinen Finger geschickt über den Screen flogen. »Wieso verstehst du das nicht?«

»Ach, Luca, das geht mir zu schnell. Aber ich freue mich, dass du Spaß damit hast.« Elaine drückte ihren Enkel liebevoll. »Wie heißt das Spiel?«

»Thinkroll. Was war dein Lieblingsspiel, Oma?«

»Als ich so alt wie du war, gab es noch nicht mal einen Fernseher, ein iPad war unvorstellbar.«

»Das hat Papa auch erzählt. Womit hast du denn gespielt?«

Elaine erzählte Luca von ihrer Puppe, die sie von ihrem Großvater als kleines Mädchen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. »Greta bedeutete damals die Welt für mich und sitzt heute noch in meinem Schlafzimmer.«

»Was, du hast nur mit einer Puppe gespielt?« Er verdrehte die Augen und kicherte: »Das verstehen nur Mädchen.«

Elaine streichelte über seinen dunklen Lockenschopf. »Ich habe mit Greta gekocht, ihr Kleidung ausgesucht oder Einkaufen gespielt. Hat diese runde Figur mit dem Schnauzbart einen Namen?«

»Der blaue Avokiddo heißt Benny.«

»Avokiddo?«

»Na, ein Avatar-Kid, Oma.«

Lucas Erwiderung, als wäre sie begriffsstutzig, ließ Elaine schmunzeln. Die freudige Erregung, mit der er spielte, seine ehrlichen Reaktionen und sein grenzenloses Vertrauen ins Leben rührten sie. Wie wundervoll musste sich das anfühlen? Sie konnte sich an ihrem jüngsten Enkel nicht sattsehen. Die dichten und lang geschwungenen Wimpern über den braunen Augen, seine samtweiche Haut, die noch unschuldig duftete, und die frappierende Ähnlichkeit mit seinem Vater berührten ihr Herz jedes Mal wieder. Sie würde alles tun, um diesen lieben, klugen Jungen mit seiner unschuldigen Seele vor den Schlechtigkeiten dieser Welt zu beschützen. Natürlich war dies illusorisch, trotzdem inspirierte Luca sie und Elaine wünschte sich sehnsüchtig, seinen Weg noch so lange wie möglich begleiten zu dürfen.

Luca, der nichts von den schwermütigen Gedanken seiner Großmutter ahnte, war schon wieder ins Spiel versunken. »Puh, das Wurmloch-Level ist schwer.« Er schaute sich um. »Papa, hilfst du mir?«

Alessandro unterbrach die Unterhaltung mit Elaines Freundin und nahm seinen Sohn auf den Schoß. Glücklich beobachtete Elaine die beiden und wünschte, sie könnte die Zeit anhalten.

»Zeig mal her«, sagte Alessandro. Gemeinsam schafften sie es im dritten Versuch, den Wurmlöchern auszuweichen, den Avokiddo durch das Labyrinth zu rollen und den Ausgang zu erreichen. Sie gaben sich High-five. Glücklich lief Luca zu seiner älteren Schwester.

Elaine nutzte den günstigen Moment, als sie mit Alessandro allein war, und bat ihn, am Montag in ihr Büro zu kommen.

»Da bin ich ziemlich voll mit Terminen. Wir müssten uns schon um 8 Uhr treffen.«

»Das passt. Du solltest eine Stunde einplanen.«

Alessandro schaute seiner Mutter ins Gesicht. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Elaine nickte und bemerkte schnell: »Du siehst abgekämpft aus.«

»Mich plagen Kopfschmerzen, wahrscheinlich mein verspannter Nacken.« Alessandro massierte ihn mit einer Hand. »Mittwoch habe ich einen Termin beim Chiropraktiker.«

Besorgt fragte sich Elaine, ob er Stress in der Firma oder wieder Streit mit seiner Frau hatte.

Unterdessen legte Alessandro galant den Arm um ihre Schulter und küsste sie auf die Wange. »Hast dich super gehalten, Mama. Nochmals alles Liebe zum Geburtstag.«

Sein lieb gemeintes Kompliment versetzte Elaine trotzdem einen Stich. »Danke. Sag mal, treibst du keinen Sport mehr?«, überspielte sie die Situation nach einem Blick auf das Hemd ihres Sohnes, das er neuerdings über der Hose trug, um den Bauchansatz zu kaschieren und mahnte, dass er nach den beiden Infarkten auf sich aufpassen solle.

»Das mache ich doch, keine Sorge.«

Wie bei den meisten Menschen, verlief auch bei Elaine die Kurve zwischen Alter und Interesse an Geburtstagsfeiern entgegengesetzt, der Schnittpunkt beider lag Jahrzehnte zurück. In diesem Jahr war sie über ihren Schatten gesprungen. Seit der Arzt die niederschmetternde Diagnose bestätigt und ihr zudem gesagt hatte, dass der Tumor inoperabel war, sah sie Feiertage in einem anderen Licht. Jetzt träumte sie davon, die Achtzig zu erreichen. Bisher hatte sie nur konsequent ihre Ernährung umgestellt, und im Moment fühlte Elaine sich gut, verspürte keine Schmerzen. Es half ihr, die Krankheit zu verdrängen. Trotzdem gab sie dem sentimentalen Anflug nach, dass es ihr letzter Geburtstag sein könnte. Deswegen hatte sie ihre Kinder Claudia und Alessandro mit ihren Familien und ihre vier engsten Freunde zu einer gemütlichen Feier nach Hause eingeladen.

Es fügte sich perfekt, dass der Geburtstag auf einen Samstag fiel. Ihre engste Freundin Béatrice du Marignac, die sie bereits als ihre eigentliche ›bessere Hälfte‹ bezeichnet hatte, als sie noch einen Ehering trug, war schon gestern aus Rom gekommen und würde übers Wochenende bleiben. Isabella Corsini, ihre andere Freundin, kannte sie seit über sechzig Jahren aus der gemeinsamen Schulzeit. Die Juristin unterhielt ein Büro für Personenauskünfte in Monaco und überprüfte alle potenziellen Mieter für sie.

Vervollständigt wurde die Runde von zwei Männern, die über ihre Arbeit zu Freunden und wichtigen Vertrauten für Elaine geworden waren. Jacques Verrier vertrat seit vier Jahrzehnten als Anwalt ihre Interessen und Paolo Bernasconti war seit über dreißig Jahren ihr Hausarzt.

Elaine hatte vorab scherzhaft mit einer Strafe gedroht, sollte ihr jemand etwas schenken wollen. Siebenundsiebzig zu werden, sei bereits Geschenk genug. Da jedoch weder die Kinder noch die Freunde mit leeren Händen kommen wollten, glich ihr Wohnzimmer einem Blumengeschäft. Die Mischung von Freunden und Familie aus drei Generationen funktionierte. Man witzelte über den letzten Monaco-Klatsch, hörte den Geschichten der Enkel zu, die man angeregt kommentierte, und trank Champagner. Elaine genoss es wie lange nicht, ihre Lieben um sich zu haben.

Vor dem Abendessen klopfte Béatrice mit dem Silberlöffel an ihr Glas, und gab danach lustige Anekdoten ihrer Freundschaft mit Elaine zum Besten. Dafür hatte sie sogar alte Fotos mitgebracht. Die Jüngsten lachten Tränen über die Outfits und Frisuren.

Nach dem Essen unterhielten sich Alessandro und Jacques Verrier auf der Terrasse über die neuesten Automodelle, Trends und die zeitlose Eleganz von Oldtimern. Plötzlich versteifte sich Alessandros Körper, seine Gesichtszüge verschoben sich und er lallte Unverständliches. Sekunden später zersplitterte sein Glas auf dem Boden. Der Rotwein spritzte über die hellen Fliesen.

Geistesgegenwärtig umfasste Jacques den viel kräftigeren Mann, hievte ihn in einen breiten Korbsessel und rief laut: »Paolo, schnell! Mit Alessandro stimmt was nicht!«

Schlagartig verstummten die Gespräche.

Paolo Bernasconti, ein erfahrener Allgemeinmediziner, beugte sich über Alessandro, hob seine Augenlider an und fragt ihn, ob seine Arme bewegen könne.

»Nur lin…«, lallte er.

»Fühlt sich der rechte Arm gelähmt an?«

»Hm.«

»Das Gesicht?«

»Ja«, murmelte er gequält.

Paolo tippte bereits die Nummer des Notdienstes ins Handy. »Dr. Bernasconti, ich habe einen Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall. Er hat eine Vorgeschichte mit Herzinfarkten und benötigt einen Transport ins Krankenhaus nach Nizza. Sofort bitte!« Dann suchten seine Augen Elaine. »Wir brauchen Kissen. Holst du welche?«

»Stirbt mein Papa?«, fragte Luca und sprach damit aus, was sich die anderen nicht zu denken trauten. Als er laut zu weinen begann, nahm ihn seine Mutter, selbst kalkweiß im Gesicht, auf den Arm.

Elaine versuchte ihren Schock durch Aktivität zu überspielen, hastete zurück ins Wohnzimmer und reichte schließlich Paolo einige Kissen, die er hinter Alessandros Rücken schob.

»Seine linke Pupille ist stark erweitert. Ich werde zur Sicherheit ins Krankenhaus mitfahren, damit er gleich richtig behandelt wird.« Paolo sah erst jetzt, wie Elaines Hände zitterten. »Kein Grund, die Nerven zu verlieren«, versuchte er sie zu beruhigen.

Inzwischen hatte er die Knöpfe von Alessandros Hemd sowie den Gürtel der Hose geöffnet und seine Beine auf einen Stuhl gelegt. »Ärztliche Hilfe ist unterwegs. Alles wird gut.«

Besorgt zog er Jacques Verrier zur Seite. »Rede mit Alessandro, erzähl ihm irgendetwas. Wir müssen ihn bei Bewusstsein halten«, flüsterte er. »Ich werde drinnen mit dem Krankenhaus telefonieren. Ich fürchte, sie müssen das Katheter-Labor vorbereiten. Jede Minute zählt. Ich will vermeiden, dass Alessandro mithört und Panik schiebt.«

Elaine erlebte den Rest ihres Geburtstags wie in Trance. Nachdem der Krankenwagen abgefahren war, hatte Béatrice resolut alle Gäste nach Hause geschickt und kümmerte sich um die Freundin, die apathisch auf dem Sofa lag.

Erst kurz vor Mitternacht, als Paolo Bernasconti vom Krankenhaus zurückkam und berichtete, dass Alessandro einen ischämischen Schlaganfall erlitten habe, die Durchblutungsstörung aber relativ harmlos gewesen sei, murmelte Elaine erleichtert: »Gott sei Dank.«

»Der Schlaganfall und Alessandros vorherige Herzinfarkte sind, umgangssprachlich ausgedrückt, Verwandte. Diesmal war ein Gefäß im Gehirn anstatt im Herz verstopft. Deswegen sind im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig einige Fähigkeiten seines Gehirns ausgefallen.« Die bildliche Schilderung des Hausarztes war gut gemeint, hallte aber wie eine Bedrohung durch das Wohnzimmer.

»Alessandro muss endlich seine Lebensweise umstellen. So geht das nicht weiter«, unterbrach ihn Elaine. Ihre Stimme vibrierte.

Béatrice legte fürsorglich den Arm um die Freundin. »Jetzt sei doch erst einmal froh, dass Alessandro den Eingriff gut überstanden hat.«

Elaine nickte und seufzte gleichzeitig. »Er hat wirklich Glück gehabt.«

»Wie man’s nimmt.«

Hellhörig griff sie nach Paolos Arm. »Was weiß ich noch nicht?«

»Der Neuroradiologe versicherte mir, dass die Sauerstoffversorgung von Alessandros Gehirnzellen nur kurz unterbrochen war.«

»Und weiter?« Auf einmal war Elaine schrecklich aufgeregt.

»Dass er die Thrombektomie innerhalb von 90 Minuten durchgeführt, das Blutgerinnsel mit dem Mikrokatheter entfernt und den Blutfluss wieder hergestellt hat.« Paolo, dem Elaines Anspannung nicht entgangen war, strich sich einige Male die Haare aus der Stirn und suchte nach entschärfenden Worten. Er fand sie nicht und schaute auf den Boden, als er leise gestand, Alessandro würde schlimmstenfalls geringe bleibende Schäden zurückbehalten.

»Wovon redest du?«, fragte Elaine erschrocken.

»Unmittelbar nach dem Eingriff konnte der Neuroradiologe noch keine endgültige Diagnose stellen. Möglich, dass Alessandro motorische Bewegungen wieder neu erlernen muss oder sein Sprachzentrum vorübergehend geschädigt ist.«

»Er wird für Monate krank sein?«

»Was hast du erwartet?«

Elaine zuckte innerlich zusammen. Wie Alessandros Diagnose aus­fallen würde sowie ihre Folgen, hatte sie bisher verdrängt.

»Die Heilung variiert natürlich von Patient zu Patient. Die Rehabilitation wird aber sicher sechs, sieben Monate oder noch länger dauern. Sieh es positiv«, versuchte er Elaine aufzubauen, »mit größter Wahrscheinlichkeit kann alles therapiert werden, und was ist schon ein halbes Jahr in seinem Alter?«

Inzwischen klopfte Elaines Herz wieder hart vor Angst um ihren geliebten Sohn, und in ihrem Kopf echote die zeitliche Prognose der Heilung. Sicher normalerweise kein Problem für einen Mann Mitte vierzig, aber in ihrer Situation? Für sie hatte Zeit inzwischen eine andere Bedeutung. Diese Nachricht konnte Elaine nicht mehr verarbeiten. Ihr Körper kollabierte, und es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie sank in die Arme von Béatrice, die neben ihr saß. Die hielt Elaine für eine Weile einfach ganz fest. Dann brachte sie mit Paolo zusammen die Freundin ins Bett, wo er ihr ein Beruhigungsmittel einflößte. Nach wenigen Minuten legte sich eine Schwere wie ein schützender Vorhang über Elaines Bewusstsein und ließ sie in einen traumlosen Schlaf gleiten.

Monaco Enigma

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