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4 Schicksalsschläge Donnerstag, 06. Februar 2014

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Alessandros Schlaganfall sollte nicht der einzige Schicksalsschlag in diesem Winter sein. Es war bereits der dritte Monat hintereinander, an dem ein unerwarteter Einschnitt Elaine erschütterte.

Ihr Bruder Marcel Volante, einer der mächtigsten Männer im Fürstentum, den man insgeheim den zweiten Prinzen nannte, war letzten Sonntag überraschend gestorben. Nur die engste Familie und wenige Eingeweihte hatten zuvor von seiner Krebserkrankung gewusst. Wie die Tentakel des Oktopus reichte sein Einfluss in wichtige Bereiche der Wirtschaft, der Politik, des Sports sowie der Kunst in Monaco. Ging es um Immobilien an der Riviera, kam niemand an ihm vorbei. Sein Wort zählte, und man hatte Marcel Volante besser zum Freund. Ehrfurcht und Neid ihm gegenüber hatten sich zeitlebens die Waage gehalten.

Fünfhundert Gäste, unter ihnen alte Adelsgeschlechter, Politiker, tonangebende Geschäftsleute, Freunde und Bekannte aus aller Welt, hatten sich zu Marcels Beerdigung angesagt. Aus diesem Grund hatte die Familie Volante entschieden, eine offizielle Trauerfeier in der Kirche Saint-Charles durchzuführen, die einen würdigen Rahmen setzte.

Es war ein ungewöhnlicher Februartag, an dem das Wetter von einer Sekunde auf die andere wechselte. Soeben war die Sonne hinter einer dicken Wolke verschwunden. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, der Wind frischte plötzlich auf und ließ vor allem die Frauen auf den Stufen vor dem Glockenturm frösteln. Es dauerte, ehe alle im Inneren der Kirche ihren Platz gefunden hatten. Nach der berührenden Rede des Priesters traten lediglich seine Witwe Chantal, ihre fünf Kinder und seine Schwester Elaine an den offenen Sarg, um Abschied zu nehmen.

Die Volantes verband eine enge Beziehung mit der kleinen Kirche Saint-Charles. Der Großvater hatte bei ihrem Erbau ab 1880 genau hier seine erste Arbeitsstelle als fünfzehnjähriger Steinmetz in Monaco ergattert und diese Geschichte Elaine immer wieder erzählt, denn damit hatte der unglaubliche Aufstieg der Familie begonnen.

Die Verantwortung, das Imperium und die führende Stellung der Volantes im Fürstentum zu erhalten, ruhte nun – als letzte Lebende der dritten Generation – auf Elaines schmalen Schultern. Obwohl ihr Patronat nach dem Tod der Brüder ein ungeschriebenes Gesetz in der Familie war, gab sie sich keinen Illusionen hin, dass deshalb innerhalb des Clans bald Kämpfe ausbrechen würden. Schließlich ging es um Milliarden, Immobilen, Kunst und vor allem um Macht im Fürstentum.

Elaine beugte sich andächtig über den aufgebahrten Bruder und bewunderte ein letztes Mal seine imposante Statur, sah sein verbindliches Lächeln vor sich und hörte das leichte Lispeln beim Reden, was seiner Präsenz stets einen charmanten Zug verliehen hatte. Der Nachzügler war der Liebling ihrer Mutter gewesen, dem mancher Streich von den strengen Eltern verziehen wurde. Elaine fielen lange vergessene Episoden ihrer Kindheit wieder ein. Diese Erinnerungen gehörten nun ihr allein. Sie fürchtete für eine Sekunde, dass ihre Knie nachgeben würden. Seit Dezember hatte sie fünf Kilo abgenommen. Nach den Ereignissen der letzten Wochen bekam sie kaum einen Bissen hinunter.

Hingebungsvoll flüsterte sie ein letztes Gebet für Marcel. Als Elaine sich bekreuzigte, zitterte ihre rechte Hand. Die linke hielt verkrampft ein Bukett aus weißen Rosen, das sie küsste, bevor sie es andächtig neben den Sarg legte. Dabei fielen ihr die schulterlangen, dunklen Haare ins Gesicht, die eine perlenbesetzten Spange zu einem tiefen Pferdeschwanz gehalten hatte, der sich gerade auflöste. Den Mund hatte sie zusammengepresst, so dass ihre Lippen wie ein schmaler Strich erschienen. Ihre Augen verbarg Elaine hinter einer leicht getönten Brille mit großem Gestell. Man sah nur die Muskeln in ihrem Gesicht zucken.

Marcel, ihr jüngerer Bruder, war siebzig Jahre alt geworden. Ihr älterer Bruder Vittorio war vor dreizehn Jahren im Alter von sechsundsechzig gestorben. Beide waren dem Krebs erlegen, obwohl sie sich mit den besten Ärzten und allem, was die moderne Medizin bot, dagegen gewehrt hatten.

Den Tod von Vittorio hatte Elaine damals als unglücklichen Umstand hingenommen, auch wenn sie ahnte, dass dies nicht der vollen Wahrheit entsprach. Der Todeszeitpunkt von Marcel war wieder so ein seltsamer Zufall – drei Wochen, nachdem er mit seinen Partnern das Großprojekt Port Hercule gewonnen hatte. Zog sich die Laune des Lebens bis in den Tod oder lag gar ein Fluch auf der Familie?

Elaine atmete tief durch, ließ ihren Blick zu der goldenen Taube, dem Symbol des Heiligen Geists am blauen Deckengewölbe schweifen und ihre Gedanken fliegen. Was stand ihr in Zukunft bevor? Zukunft? ... Dabei streckte sie leicht, aber entschieden das Kinn nach vorn. Voller Mitgefühl schloss sie kurz darauf die Hände von Marcels Witwe Chantal in ihre und küsste sie auf die Wangen.

Um sich nicht weiter in der melancholischen Stimmung zu verlieren, nahm sie gemeinsam mit Marcels Familie die Beileidsbekundungen entgegen und schüttelte unzählige Hände. Nach einer halben Stunde war sie der trivialen Reden überdrüssig, der Magen schmerzte, ihr wurde schwindlig. Außer einem Glas Wasser hatte Elaine nichts zu sich genommen. Sie versuchte unauffällig die Veranstaltung zu verlassen. Bevor sie den Ausgang erreichte, griff ihre Schwägerin nach ihrem Arm und zog sie zur Seite.

»Danke für deine Anteilnahme. Elaine, wir müssen dringend reden.«

»Worüber?«, fauchte sie kurz angebunden zurück. Sie hatte sich erschrocken, und es missfiel ihr, von Chantal auf diese Art aufgehalten zu werden.

»Marcel hat mir vor Wochen noch einmal bestätigt, dass du automatisch das Familienoberhaupt bist, falls er stirbt. Wir müssen die Nachfolge zwischen unseren Kindern regeln, erst recht nach dem Schlaganfall von Alessandro.«

Ja, Elaine trauerte nicht nur um den kleinen Bruder, sondern sorgte sich vor allem auch um ihren Sohn. Täglich fuhr sie nach Nizza ins Hospital, und das würde sie auch heute tun. Alessandro musste rund um die Uhr betreut werden. Abgesehen von den körperlichen Leiden durchlief er immer wieder depressive Phasen. Zudem fiel es ihm schwer, in vollständigen Sätzen zu sprechen. Ein Desaster, das Elaine fast verzweifeln ließ.

Sie musterte Chantal kalt, sah ihre verweinten Augen mit den dunklen Rändern, das zerzauste Haar, das zerflossene Make-up. Das war nicht mehr die lebenslustige Frau, die früher auf Empfängen im Rampenlicht geglänzt hatte. Aber was wusste Chantal schon von ihren Sorgen?

»Wie geschmacklos von dir, das Thema heute anzusprechen. Die Nachfolge unter unseren Kindern ist dein größtes Problem, noch bevor Marcel unter der Erde ist?«, entgegnete sie unwirsch.

»Den Kommentar kannst du dir sparen. Das muss schnellstens geklärt werden, ob es dir passt oder nicht. Es sind große Gelder im Umlauf. Marcel hat …«

Hinter lächelnden Masken, und ausschließlich durch ihre Augen, verschossen die Frauen blitzschnell unsichtbare Pfeile, getränkt mit dem Gift des Neids bei Chantal und mit Unverständnis bei Elaine. Ein nonverbales Beben, nur eine winzige Sekunde lang. Elaine hielt dem abschätzenden Blick der Schwägerin problemlos stand, bis diese ihre Augenlider senkte. Erst dann trat sie forsch einen Schritt auf sie zu, ihre Gesichter trennten bloß wenige Zentimeter.

»Jetzt hör gut zu, Chantal. Ich entscheide über meinen Nachfolger sowie den Zeitpunkt der Ernennung. Du kannst sicher sein, ich bin mir der Verantwortung bewusst. Aber jetzt fahre ich zu Alessandro.« Dann äffte Elaine ihre Schwägerin nach: »Ob es dir passt oder nicht«, und lief festen Schrittes zu ihrem Wagen, wo ihr Chauffeur bereits die Tür offen hielt.

Monaco Enigma

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