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d) Organisationsverschulden patientenferner Entscheider
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Infrastrukturbedingte Behandlungsfehler[675] können durchaus als Nebenwirkung einer zunehmend ökonomisierten Medizin bezeichnet werden.[676] Diese führt vielfach zur strukturellen Problematik einer (schadensstiftenden) personellen und/oder apparativen Unterversorgung der Patienten. Ein aktueller „Schadensfall“ stellt sich dann als das Ergebnis betrieblicher Fehlentwicklungen dar.[677] Während im zivilrechtlichen Haftungsrecht[678] neben den Ärzten, denen unmittelbar ein Behandlungsfehler unterlief, zumeist die solventen Träger der Gesundheitseinrichtung (wenn auch weniger die für diese juristischen Personen agierenden natürlichen Personen [Organe[679]]) haftbar gemacht werden,[680] ist dies für den Bereich des Strafrechts zumeist[681] nicht der Fall. Hier geraten patientenferne Entscheider, die die patientengefährdenden Krankenhausstrukturen vorgegeben hatten, allenfalls bei der (infolge von Organisationsmängeln abgesenkten) Strafzumessung in Bezug auf die gegen den unmittelbar am Patienten unter dem Regime der Organisation agierenden Arzt zu verhängende Sanktion in den Blick.[682] Dies ist – jedenfalls auf den ersten Blick – deshalb erstaunlich, weil nach allgemeinen Grundsätzen der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eine Verantwortlichkeit patientenferner Entscheider (z.B. des Krankenhaus-Geschäftsführers[683]) als Nebentäter durchaus naheliegt.[684] Insoweit kann auf die klarstellenden Ausführungen von Kudlich/Schulte-Sasse[685] Bezug genommen werden: Die Sorgfaltspflichtverletzung der Krankenhausmanager[686] (bzw. Praxisbetreiber) liegt darin, dass sie – entweder durch aktives Tun[687] oder durch garantenpflichtwidriges Unterlassen[688] – aus betriebswirtschaftlichen Gründen[689] ein patientengefährdendes System der Krankenbehandlung geschaffen bzw. unterhalten haben, das geeignet war, über die Zeit Patienten erheblich zu gefährden.[690] Insoweit ist an die Ausführungen oben unter Rn. 41 ff. zum Einfluss ökonomischer Zwänge auf den Facharztstandard zu erinnern. Dass die konkrete Schädigung des Patienten erst durch den (nicht-)behandelnden Arzt erfolgt, ist unerheblich,[691] da sich in dessen Pflichtwidrigkeit (z.B. Operieren im übermüdeten Zustand) der Sorgfaltsverstoß des patientenfernen Entscheiders im tatbestandlichen Erfolg verwirklicht.[692] Der konkrete Behandlungsfehler hat also keine eigenständige Gefahrenquelle geschaffen, die nach dem Grundsatz des Verantwortungsprinzips eine Zurechnung des Erfolgs auf den Hintermann ausschlösse.[693] Im Gegenteil: In dem konkreten Behandlungsfehler realisiert sich gerade die Gefahr, die der „Hintermann“ als Nebentäter pflichtwidrig durch seine organisatorischen Vorgaben geschaffen hatte.[694] Die vom 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bereits 1985 statuierte Pflicht,[695] der Krankenhausträger dürfe nicht vor ihm bekannten Zuständen mit der Gefahr „illegaler Praktiken“ und sogenannter „Umimprovisationen“ die Augen schließen und darauf vertrauen, die in der Klinik tätigen Ärzte würden mit der jeweiligen Situation schon irgendwie fertig werden und sich nach Kräften bemühen, die Patienten trotz allem vor Schäden zu bewahren, gilt genauso im Bereich strafrechtlicher Ahndung eines Organisationsfehlers.
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Allerdings wird häufig der für eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit unerlässliche Pflichtwidrigkeitszusammenhang (Rn. 154 f.) nur schwer nachzuweisen sein:[696] Die Patientenschädigung muss sich ja als Verwirklichung der vom Klinikmanagement durch seine organisatorischen Vorgaben unerlaubt gesetzten Gefahr darstellen. Dieser zur Fahrlässigkeitsstrafbarkeit unerlässliche Zusammenhang fehlt aber immer dann, wenn beim erkennenden Gericht auf Tatsachen gestützte, mehr als nur theoretische Zweifel daran verbleiben, dass ein pflichtgemäßes Verhalten den Erfolgseintritt verhindert hätte.[697] Beispielhaft hierfür ist der von Kudlich/Schulte-Sasse[698] angeführte Fall: Bei einem pflichtwidrig angeordneten fachübergreifenden Bereitschaftsdienst (hierzu Rn. 106) übersieht der fachfremde Bereitschaftsarzt Krankheitssymptome, die möglicherweise aber auch ein Facharzt fehlgedeutet hätte; oder: Der Patient stirbt bei einer lebensgefährlichen Operation infolge eines groben Behandlungsfehlers des völlig übermüdeten Chirurgen; es ist aber nicht auszuschließen, dass der Patient auch eine fachgerecht ausgeführte Operation (oder bei Nichtvornahme der Operation die einzig möglicher Verlegung in ein für derartige Eingriffe nicht gerüstetes Krankenhaus) nicht überlebt hätte. Dies darf aber nicht – der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens entgegenstehend – dahingehend missverstanden werden, dass angesichts des in-dubio-Grundsatzes eine entsprechende Strafbarkeit der Leitungsebene stets auszuscheiden hat: Der Anwendung des Zweifelgrundsatzes ist die freie richterliche Beweiswürdigung vorgeschaltet.[699] Ein Letztes: Eine Inblicknahme patientenferner Entscheider und ihre potentielle Strafbarkeit ist dem Schutz von Leib und Leben potentieller Patienten durchaus dienlich, da angesichts des – gegenwärtig allerdings zumeist fehlenden[700] – generalpräventiven Handlungsdrucks des Strafrechts[701] zu erwarten steht, dass in nicht wenigen Fällen die schadensanfällige Organisation verbessert oder zumindest das jeweilige Behandlungs- und Leistungsvolumen den tatsächlich gegebenen Klinikverhältnissen angepasst wird.[702] Derzeit besteht hingegen für die wirtschaftlich verantwortlichen Klinik-Betreiber eher ein Anreiz, kostengünstige, aber potentiell gefährliche Organisationsstrukturen aufrechtzuerhalten oder sogar neu einzuführen.[703]