Читать книгу Kommissar Terani ermittelt - Bettina Bäumert - Страница 6
ОглавлениеProlog
*
Sie hasste dieses Zimmer, dessen Einrichtung so sparsam wie schäbig war. Seit gut einer halben Stunde saß sie bereits schweigend und bewegungslos in dem einzigen, vorhandenen Sessel, dessen unzählige Flecken wohl viele Geschichten erzählen könnten. Dabei betrachtete sie ihn aufmerksam und ernst. Den Mann, der ihr im gleichen Maße fremd und doch vertraut war. Mit leicht angewinkeltem rechten Bein und hinter dem Kopf verschränkten Armen lag er entspannt auf dem zerschlissenen Sofa in diesem abgedunkelten, muffig riechenden Zimmer, das sie so sehr verabscheute.
Erst jetzt, da er schon eine Weile schnarchte, wagte sie es, sich zu bewegen. Noch etwas unsicher vom langen Ausharren in einer Stellung, stand sie auf.
Über dem Fußboden verstreut lagen etliche leere Weinflaschen. Eine kostspielige Marke. Schließlich legte er großen Wert auf gutes Essen und auf einen erlesenen Wein. Zugegeben, er war ein Weinkenner, ein Gourmet. Was die Schäbigkeit des Zimmers, das er angemietet hatte, allerdings keineswegs vermuten ließ. Bis in die frühen Morgenstunden hinein hatte er dem guten Tropfen ausgiebig zugesprochen. Und doch hatte es lange gedauert, bis das berauschende Getränk auch endlich seine einschläfernde Wirkung gezeigt hatte.
Über ihr Gesicht huschte ein spöttisches Lächeln. Er wurde immer müde, trank er Wein.
Trotz allem musste sie auf der Hut sein. Sie durfte keineswegs über Flaschen stolpern, oder sie gar ins Rollen bringen. Das würde er hören. Davon würde er wach werden. Sie durfte nicht das kleinste Geräusch machen. Er hatte schließlich einen sehr leichten Schlaf. Das wusste sie.
Jeden Abend verriegelte er sorgsam die Tür. Anschließend nahm er den Schlüssel grinsend an sich. Doch heute, heute hatte er es vergessen.
Sie hatte es geschafft. Ohne, dass er sich auch nur einmal bewegte, war sie bis zur Tür gelangt. Sie sah zu ihm. Er lag noch immer unverändert auf dem durchgesessenen Sofa, das gleichzeitig auch als Bett diente. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hielt den Atem an, als sie zittrig und leise, Millimeter für Millimeter den Türgriff vorsichtig nach unten drückte.
Die Tür schnappte auf.
Viel zu laut. Einem Donnerschlag gleich.
Erschrocken drehte sie sich zu ihm um. Er hatte nichts bemerkt. Noch immer lag er unverändert und leise schnarchend auf der Couch. Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dieses Mal würde sie es schaffen. Sie sah sich bereits draußen auf der Straße und nach Hause laufen.
In dem Moment, in dem sie durch den schmalen Spalt der offenen Tür schlüpfen wollte, wurde sie mit einem unterdrückten Wutschrei von hinten gepackt. Gleich darauf verlor sie den Boden unter den Füßen. Er hob sie mit Leichtigkeit hoch. Jetzt hielt er ihr Gesicht dicht vor das seine. Eine voll Minute sah er sie mit vor Zorn funkelnden Augen an, bevor er sie wütend zurück ins Zimmer warf. …
*
Sie wachte auf. Dieser Traum ließ sie nicht los. Sie schrie und weinte.
*
Im ersten Moment betrachtete er den Mann äußerst verwirrt, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen vor ihm im Gras lag. Im ersten Moment hegte er auch die Überzeugung, dieser überraschend junge Mann mit dem welligen, schwarzen Haar würde ganz entspannt ein Schläfchen halten. Als genauer Beobachter und Analytiker, bemerkte er jedoch die gerunzelte Stirn und die Unruhe hinter den geschlossenen Augenlidern seines eigenen Abbildes. Und mit einem Male wurde ihm klar, dass er es war, der vor ihm in der Wiese lag.
Verwirrt sah er sich um. Alles an diesem Ort war ihm zugleich sonderbar vertraut und völlig fremd. Das ins Blaue gehende Grün des Grases, das weit mehr an ein wogendes Meer erinnerte, denn an eine ruhige, verträumte Wiese, war ihm bestens bekannt. Auch die Blumen mit ihren überdimensionalen Blüten und ihrem starken, hohen Wuchs irritierten ihn nicht. Und genau hinter dieser grellbunten, mannshohen Pracht lag er selbst, der nach außen hin ruhig wirkte und im Innersten äußerst aufgewühlt war. Alles hier war seine Schöpfung, und doch auch wieder nicht. Etwas störte, und er konnte nicht sagen, was es war. In dem Moment, in dem ihm diese Unsicherheit klar wurde, verschwand sein Abbild und er selbst lag hinter diesem Schutzwall bunter Blumen.
Nervös sah er sich nach allen Seiten um. Obgleich er wusste, dass er sich in seinem eigenen Traum befand, beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl. Noch nie war er in einem seiner erdachten Träume Akteur und Beobachter zugleich gewesen. Verwundert verfolgte er den Flug bunter Vögel an einem strahlend blauen Himmel. Auch sie waren, wie alles in seinem Traum, seine Schöpfung.
ER alleine hatte diese tiefrote Sonne ans Firmament gezaubert. ER alleine war es, der diese Landschaft, ihre außergewöhnliche Schönheit und ihre elementare Extravaganz geschaffen hatte. Der Künstler, dessen Fantasie Frieden und Harmonie zu schaffen in der Lage war, war ER. Denn nur hier, in seiner selbst geformten Welt, war es ihm auch möglich, Abstand von all den Wirren des Alltags zu finden. Nur hier, in seinem erfundenen Paradies, konnte er die Kraft und Zuversicht schöpfen, die ihm eigen waren.
Jetzt allerdings hatte er das bedrückende Gefühl, nicht alleine zu sein. Und das in seinem eigenen Traum. Er war sich sicher – und genau das verunsicherte ihn zutiefst, dass ihn jemand ganz genau beobachtete.
Aber wer würde so etwas wagen? Und wer war auch noch dazu in der Lage? Wer war fähig, in seinen Traum einzudringen?
War er ehrlich zu sich selbst, hatte er heute mit derartigen Schwierigkeiten gerechnet. Irgendetwas war anders gewesen. Etwas hatte gestört und hatte sein Innerstes nicht zur Ruhe kommen lassen. An diesem Abend war es ihm unendlich schwer gefallen, in seine Traumlandschaft zu flüchten. Mit etwas Fremden in seinem eigenen Traum hatte er allerdings nicht gerechnet.
Ein penetrantes, äußerst befremdliches Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Es störte die Ruhe, die sonst in seinen Träumen herrschte. Zwar war das, was immer es auch war, noch weit entfernt und leise, allerdings kam es von Minute zu Minute näher und wurde immer aufdringlicher. Dieser seltsame Ton gehörte nicht in die Traumlandschaft, die er Kraft seines Geistes geschaffen hatte.
Um besser hören zu können, erhob er sich leicht. Auf seine Unterarme gestützt, sah er sich angestrengt nach allen Seiten um. Kurz darauf schüttelte er unwillig mit dem Kopf. Es hörte sich doch tatsächlich an, als ob ein Kätzchen jämmerlich klagen würde. Allerdings konnte dies unmöglich sein, denn Katzen hatte er in seine Traumwelt nicht mit aufgenommen. Durch jahrelange Übung hatte er schließlich gelernt, alles, das er nicht in seinen Träumen haben wollte, daraus zu verbannen.
ER war zum Meister der Gestaltung nicht nur seiner eigenen Träume geworden. Ihm alleine war es möglich, auch seinen Mitmenschen friedliche oder beängstigende Traumbilder zu suggerieren. Und das, je nachdem wie ER es wollte.
Im Moment allerdings war er – für ihn völlig unbegreiflich – gezwungen, hilflos mit anzusehen, wie sich ein Schleier aus grauem Nichts drückend über seine Schöpfung legte. Jetzt fuhr er erschrocken hoch. Sein Firmament, das er geschaffen hatte, versank vor seinen Augen immer weiter in Farblosigkeit.
Und in all diesem Grau entdeckte er voller Entsetzen ein Gesicht, eine Fratze, die sich unabdingbar in sein Traumgefilde drängte und die Zerstörung seiner Schimäre mit hämischem Grinsen fortsetzte. Er hatte nicht den Hauch einer Chance, das Werk der Vernichtung seiner von ihm kreierten Welt zu stoppen.
Mit einem Male kristallisierte sich aus dem jämmerlichen Klagen eines Kätzchens immer deutlicher ein heftiges Schluchzen heraus. Wovon er nun endgültig in die Realität gezogen wurde.
*
Er öffnete erschrocken seine Augen. Danach brauchte er einige Zeit, um sich zurechtzufinden, und um zu realisieren, wo genau er sich befand. Einen Moment blieb er noch mit weit geöffneten Augen, den Blick starr in die Dunkelheit gerichtet, im Bett liegen.
Erschüttert musste er sich eingestehen, dass etwas Unbekanntes, etwas Fremdes in seinen Traum eingedrungen war, und somit seinen Rückzugsort für immer zerstört hatte. Im Grunde wusste er auch ganz genau, wer das bewerkstelligen konnte. Wer dazu in der Lage war. Wer die Kraft dazu hatte und stärker war, als er es je war und je sein würde. Und doch konnte und wollte er sich nicht erinnern.
Erschöpft wälzte er sich aus seinem Bett. Kurze Zeit später schlurfte er mit schwerfälligen Schritten über den dunklen Flur ins nebenan gelegene Zimmer.
Sie saß weinend im Bett. Und er wusste, sie war noch immer in einem bösen Traum gefangen. Nicht wirklich wach hielt sie ihr buntes Tuch mit beiden Händen fest umklammert. Gleichwohl, als sei dieses Tuch ihr einziger Halt in einer kalten, beängstigenden Welt.
Er seufzte unterdrückt, bevor er sich sachte auf den Bettrand setzte und sie behutsam in seine Arme nahm. Dabei streichelte er sanft ihren zarten, zerbrechlich wirkenden Rücken.
„Schscht … schscht … ist doch nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum“, flüsterte er beruhigend.
Unter seiner liebevollen Berührung entspannte sich ihr verkrampfter, fragiler Körper. Jetzt war sie wirklich wach. Noch immer schluchzte sie leise.
„Der Traum … Ich hatte solche Angst … furchtbare Angst ...“, stammelte sie weinend, ohne den Kopf von seiner Schulter zu nehmen.
„Ich weiß“, murmelte er. „Ich weiß.“
Sie klammerte sich fester an ihn.
Durch den dünnen Stoff seines Pyjamas bohrten sich ihre Fingernägel tief in seine Oberarme. Trotz des Schmerzes gab er keinen Laut von sich. Er rührte sich nicht. Ihren aufkeimenden Zorn über ihre eigene Hilflosigkeit in ihren Träumen, nahm er schließlich jedes Mal physisch wie auch emotional überdeutlich wahr. Gerade er, der jeden anderen helfen konnte, jedem anderen angenehme Träume schicken konnte, war ausgerechnet bei ihren Träumen völlig machtlos.
„Ich werde nie mehr schlafen. Nie mehr“, stieß sie trotzig aus.
Auch diese Worte äußerte sie mit der gleichen Regelmäßigkeit, in der sie von diesen periodisch wiederkehrenden Albträumen heimgesucht wurde. Dann schwor sie sich und ihm, nie mehr zu schlafen.
Lächelnd umfasste er mit beiden Händen ihr Gesicht. Dabei blickte er ihr liebevoll in die Augen.
„Doch. Doch, du wirst wieder schlafen. Du musst wieder schlafen. Es ist noch mitten in der Nacht. Ohne genügend Schlaf hast du keine Kraft für den neuen Tag. Sieh mich an, Kleines, sieh mich an.“
Sie gehorchte seinem sanften Drängen. Mit einem kläglichen Lächeln erwiderte sie seinen liebevollen Blick. Kurz darauf wurde sie ruhiger. Nicht lange, und sie murmelte müde.
„Es geht wieder.“
Zufrieden sank sie zurück in ihre Kissen. Fürsorglich strich er ihre bunte Decke glatt.
„Werde ich jetzt von etwas Schönem träumen? Von Licht und Sonne? Von Liebe? Von einem Prinzen?“
Sie gähnte herzhaft. Im nächsten Moment tauchte sie ein in ein friedvolles Land der Träume voller Wärme und Glück.
Er blieb an ihrem Bett sitzen und sah sie nachdenklich an. Und mit einem Male dachte er an einen kleinen Jungen. Einen Jungen, der vor langer Zeit noch sehr jung schon viel zu früh erwachsen sein musste.