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IV. Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO
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Beispiel 3a (Subsidiarität des § 765a ZPO):
Als der Gerichtsvollzieher bei Ehepaar S klingelt, um zu pfänden, taucht Herr S mit ganz zerzausten Haaren auf. Bevor er dem Gerichtsvollzieher noch erklären kann, dass seine Frau im Schlafzimmer gerade ihr erstes Kind bekommt, stürmt dieser schweigend an ihm vorbei, weil er durch den Spalt der offenen Schlafzimmertür eine Geldkassette gesehen hat. Der Gerichtsvollzieher nimmt die Kassette an sich, öffnet noch einige Schubladen und verschwindet dann mit der Kassette und etwas Schmuck beinahe so schnell, wie er gekommen war. Kann das Ehepaar S sich auf § 765a ZPO berufen?
Beispiel 3b (Gefahr für die Gesundheit, nach BGH NJW 2008, 1000):
Schuldnerin S wehrt sich gegen die Räumung ihrer Wohnung durch G. Nach Sachverständigengutachten leidet S an einer durch Insektizide verursachten chronischen neurotoxischen Schädigung sämtlicher Organsysteme sowie allergischen Reaktionen im Sinne eines MCS-Syndroms (Multiple Chemical Sensitivity). Dies führte zum Verlust der Sprechfähigkeit, dem teilweise vollständigen Verlust des Hörvermögens, Polyneuropathien, Dysästhesien, Parästhesien, Trigeminusneuralgie und starken, sehr schmerzhaften Myopathien am gesamten Körper. Die Krankheit ist von einer derartigen Schwere, dass ein Umzug ohne gesundheitlich nachteilige Folgen für S nur aufgrund gründlicher medizinischer Vorbereitung durchführbar ist. Eine solche Vorbereitung sei ihr bei einer Zwangsräumung durch den Gerichtsvollzieher und der damit verbundenen Einweisung in eine Notunterkunft nicht möglich. Kann sie die Räumung abwehren?
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Es kann Fälle geben, in denen die Zwangsvollstreckung gänzlich unverhältnismäßig oder unbillig erscheint, aber kein spezielles Vollstreckungsverbot eingreift. Gerade wegen der soeben besprochenen typischen Grundrechtsrelevanz der Vollstreckungsmaßnahmen muss es zum Schutz des Schuldners eine Auffangregelung für solche Fälle geben. Diese findet sich in § 765a ZPO. Die Standardfälle des § 765a ZPO sind die Fälle, in denen beim Schuldner durch die Räumungsvollstreckung Suizidgefahr ausgelöst wird – oder er eine solche zumindest vorgibt. Für die Klausur darf man nicht übersehen, dass es auch sonstige Fälle unverhältnismäßiger Härten gibt.[11] Immer aber ist zu beachten, dass § 765a ZPO subsidiär gegenüber § 766 ZPO ist, der bei jedem Verstoß gegen eine vollstreckungsrechtliche Vorschrift (also z.B. §§ 803 oder 811 ZPO) eingreift. Diese Subsidiarität führt dazu, dass in Beispiel 3a § 765a ZPO gar nicht eingreift. Vielmehr greift § 766 ZPO, weil der Gerichtsvollzieher ohne Durchsuchungsanordnung und ohne Einwilligung des Schuldners in die Wohnung gestürmt ist und damit einen Verfahrensfehler begangen hat.
Klausurhinweis:
Die Subsidiarität ist Bestandteil der Statthaftigkeit des Antrags auf Vollstreckungsschutz und wird nicht erst beim Rechtsschutzbedürfnis geprüft.
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Zuständig für die Entscheidung ist das Vollstreckungsgericht. Der Antrag folgt den Regeln des § 569 II, III ZPO, kann also auch zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden. Er unterliegt folglich selbst dann nicht dem Anwaltszwang, wenn (in der Beschwerdeinstanz) das Landgericht als Vollstreckungsgericht tätig wird (§ 78 III ZPO).
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Die Praxis bis hin zum Bundesverfassungsgericht hat bei § 765a ZPO insgesamt seit Jahren große Schwierigkeiten mit der Abwägung im Einzelfall[12]: Wie groß muss die (Schein-)Gefahr sein, wie lange dauert sie an, ist sie wirklich nachgewiesen oder nur vorgeschoben?
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In Beispiel 3b ist an der ausführlichen Beschreibung der Krankheit (die im originalen Urteil noch länger ist) zunächst zu erkennen, dass es nur um extreme und ganz konkrete gesundheitliche Nachteile gehen kann, wenn Vollstreckungsschutz gewährt werden soll. Dennoch reichen diese nicht ohne weiteres aus, die Vollstreckung zu verhindern. Hier ist es entscheidend, dass die Schuldnerin den Umzug, anders als sie vorträgt, sehr wohl vorbereiten und dann durchführen könnte. Sie kann daher allenfalls verlangen, dass ihr nochmals eine Frist eingeräumt wird, um diese Vorbereitungen zu treffen. Die Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit ist auf absolute Ausnahmefälle zu beschränken[13] und scheint auch hier vermeidbar.
Zur Abwägung im Falle der Suizidgefahr des Schuldners auch BGH NJW 2005, 1859:
„1. Besteht im Fall einer Zwangsräumung bei einem nahen Angehörigen des Schuldners eine Suizidgefahr, ist diese bei der Anwendung des § 765a ZPO in gleicher Weise wie eine beim Schuldner selbst bestehende Gefahr zu berücksichtigen.
2. Selbst dann, wenn mit einer Zwangsvollstreckung eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners oder eines nahen Angehörigen verbunden ist, kann eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung nicht ohne weiteres einstweilen eingestellt werden. Erforderlich ist stets die Abwägung der – in solchen Fällen ganz besonders gewichtigen – Interessen der Betroffenen mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers. Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Suizidgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auch auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Auch der Gefährdete selbst ist gehalten, das ihm Zumutbare zu tun, um die Risiken, die für ihn im Fall der Vollstreckung bestehen, zu verringern.“
Sehr problematisch ist in den „Suizidfällen“ schon die Feststellung, dass tatsächlich eine konkrete Suizidgefahr vorliegt. Wenngleich die Suizidgefahr sicherlich oft bloß vorgespiegelt wird, ist eine entsprechende Aussage des Schuldners ernst zu nehmen, und notfalls eine gerichtliche Beweisaufnahme erforderlich[14]. Zu prüfen ist auch, ob Alternativen zur Einstellung der Zwangsvollstreckung bestehen, die von der Hinzuziehung eines Arztes bis zur privat- oder öffentlich-rechtlichen Unterbringung des Schuldners reichen können[15].
Zur Vertiefung BGH NJW 2008, 1678:
„Pfändet der Gläubiger den einer Mitschuldnerin und Ehefrau zustehenden Auszahlungsanspruch aus Girokontovertrag gegen einen Drittschuldner, können die Schuldner und Eheleute zwar nicht nach § 850k ZPO, jedoch unter den Voraussetzungen des § 765a ZPO Vollstreckungsschutz beanspruchen, soweit das Guthaben auf dem Girokonto aus der Überweisung von unpfändbarem Arbeitseinkommen des Ehemannes herrührt.“
BGH NJW 2009, 78:
„Im eröffneten Insolvenzverfahren kann dem Schuldner, der eine natürliche Person ist, bei Vollstreckungsmaßnahmen des Insolvenzverwalters nach § 148 II InsO auf Antrag Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gewährt werden, jedenfalls soweit dies zur Erhaltung von Leben und Gesundheit des Schuldners erforderlich ist.“
BGH NJW 2009, 444:
„Die Zwangsverwaltung eines mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks ist unzulässig, wenn sie nur dazu dient, dem im Haus wohnenden Schuldner den Bezug von Sozialleistungen zu ermöglichen, damit er an den Zwangsverwalter ein Entgelt für die Nutzung der Räume entrichten kann, die ihm nicht nach § 149 I ZVG zu belassen sind.“
BVerfG NJW 2016, 3090:
„Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist.“
Aufbau: Vollstreckungsschutzantrag ( § 765a ZPO )
I. | Zulässigkeit 1. Zuständigkeit: Vollstreckungsgericht, § 765a I 1 ZPO 2. Statthaft ist der Antrag gegen alle Maßnahmen irgendeines Vollstreckungsorgans. Es muss eine Rechtsverletzung der in der Norm genannten Art behauptet werden. Aber: Subsidiarität – der Antrag darf nicht auf Einwendungen gestützt werden, für die ein anderer Rechtsbehelf statthaft ist. 3. Antrag: (teilweise) Untersagung der Maßnahme, (einstweilige) Einstellung oder Aufhebung der Zwangsvollstreckung 4. Rechtsschutzbedürfnis: fehlt nur, wenn die Vollstreckung vollständig beendet ist |
II. | Begründetheit Der Antrag ist nur begründet, wenn die angegriffene Maßnahme aufgrund einer Interessenabwägung für den Schuldner eine besondere und sittenwidrige Härte bedeutet: „Untragbares Ergebnis“ (Grundrechte beachten!). |
§ 2 Grundsätze des Vollstreckungsverfahrens › V. Systematik der zwangsvollstreckungsrechtlichen Regelungen