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LE HAVRE – POESIE IN BETON
DAS TOR ZUM OZEAN
Alles in Le Havre ist überraschend: seine Architektur, seine Parks, seine Kunst – und seine Menschen. Kaum eine französische Stadt entspricht so wenig dem Vorurteil, das man von ihr hat. König Franz I., der sie vor 1517 an der Seine-Mündung gegründet hat, wäre verwundert. Und begeistert!
Das alte Le Havre, einst Frankreichs größter Kaffeehafen, mit großzügigen Boulevards der Belle Époque und barocken Reederpalais, starb im Zweiten Weltkrieg. Die deutschen Truppen hatten die Stadt zum größten Kriegshafen am Atlantik gemacht. Die Alliierten zerstörten ihn in 132 Bombenangriffen. 133 Hektar Ruinen bedeckten bei Kriegsende das Stadtzentrum.
Die französische Regierung reagierte mit einem radikalen Plan: Le Havre sollte als Musterstadt der Moderne auferstehen. 1945 beauftragte sie den Architekten Auguste Perret mit dem Masterplan. Auf 130 Hektar sollte er für 60 000 Menschen eine neue Stadt im Stil von Le Corbusier schaffen, mit würdigen Lebensbedingungen für eine klassenlose Gesellschaft: Licht, Luft, Strom und fließend Wasser für alle. Baumaterial war knapp, riesige Schuttberge gab es jedoch massenhaft. Perret schuf daraus einzigartige Betonvariationen: zermahlen, nach Farben und nach Strukturen getrennt, mitunter wieder eingefärbt, mit feinen Glassplittern oder Kieselsteinen vermischt, erfand er völlig neue Oberflächen, grob oder fein, gefärbt, gewachst, versehen mit verspielten Ornamenten, Zitaten griechischer Säulen oder ausstaffiert mit Elementen des Klassizismus.
Perret konnte nicht mehr erleben, wie sein Gesamtkunstwerk vollendet wurde – und auch nicht die Diskussionen verfolgen, die sein Werk auslöste. Als »doppelte Zerstörung« kritisierten es viele Franzosen. Doch Perret war überzeugt: »Mein Beton ist schöner als Stein, dessen Schönheit die edelsten Baumaterialien übertrifft. Er hat seine eigene Poesie.«
Welterbe seit 2005
50 Jahre später erhielt Perrets Vision weltweite Anerkennung: Die zukunftsweisende Architektur des Stadtbilds wurde 2005 als Ensemble ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. Straßengestaltung und Gebäudeformationen des neuen Zentrums erinnern teilweise an Interpretationen des sozialistischen Realismus. Luftige Kuben mit großzügigen Balkons säumen die Avenue Foch, die schnurgerade auf das Meer zuläuft. Dreistöckige Gebäude mit Flachdächern und zehnstöckige Hochhäuser umgeben den Rathausplatz.
Schulen, Kirchen und Hafenanlagen schuf Perret – und das bis heute höchste Gebäude von Le Havre: den 106 Meter hohen Turm der Église Saint-Joseph. Auch bei den Wohnungen standen für den futuristischen Stadtplaner Rationalität und Flexibilität im Vordergrund. So soll das Wohnzimmer, das Herzstück jeder Wohnung, auch als Empfangsraum für Gäste, Esszimmer oder Büro dienen. Um diese unterschiedlichen Zwecke erfüllen zu können, nutzte Perret ein System verschiebbarer Trennwände. Der Architekt arbeitete mit den Raumausstattern René Gabriel, Marcel Gascoin und André Beaudouin zusammen, um eine zeitgemäße Wohnungseinrichtung zu entwerfen. Charakteristisch für diese Möbel sind Funktionalität und Standardisierung für die Massenherstellung. Hautnah vermittelt heute das Appartement Témoin den Aufbruchsgeist der 1950er-Jahre. Alltagsgegenstände wie Küchengeräte oder Kinderspielzeug hauchen der Musterwohnung Leben ein. Knapp 30 Jahre später hinterließ eine zweite Ikone der Moderne ihre Spuren: Oscar Niemeyer, der Vater der südamerikanischen Hauptstadt Brasilia, schuf für Le Havre 1972 bis 1982 die Maison de la Culture du Havre, die rasch ihren Spitznamen Le Volcan erhielt.
Heute schreiben Star-Architekten wie Jean Nouvel die Avantgarde-Architektur Le Havres fort. 2008 eröffneten im alten Hafenbereich Nouvels Bains des Docks als 5000 Quadratmeter große Bade- und Wellnessoase. Von außen ein grauer Betonklotz, zeigt sich das städtische Schwimmbad im Innern strahlend weiß und lichtdurchflutet, mit klaren Formen, Vorsprüngen und Durchbrüchen. Abends bringt die Installation des Lichtplaners Yann Kersalé die Fassade zum Strahlen. Dann legen auch die Englandfähren und Kreuzfahrtschiffe ab und ziehen Seine-abwärts Richtung Ärmelkanal und Atlantik. Porte d’Océane nennt sich Le Havre stolz, »Tor zum Ozean«. Wie bedeutend der Seine-Hafen ist, zeigen Hafenrundfahrten durch den Port Historique und den Port 2000.
SO WIE DER CONTAINERUMSCHLAG IM SEINE-HAFEN BRUMMT, BOOMT AUCH DIE KULTUR IN LE HAVRE – DAS BEWEIST UNTER ANDEREM DIE STADTBIBLIOTHEK IM KLEINEN »VULKAN«.
Licht und Wasser
Sie starten inmitten der tausend Masten des Sportboothafens, der sich alle zwei Jahre im Herbst in ein Lager der besten Segler der Welt verwandelt: Dann startet die einzigartige Hochseeregatta auf den Spuren des Kaffees. Die Transat Jacques Vabre ist mehr als ein Segelspektakel – ein Volksfest, begleitet von vielen Events, die zeigen, wie eng Le Havre im Kaffeehandel mit Süd- und Mittelamerika verbunden war. Vom Reichtum der Reeder erzählt das Museum im Maison de l’Armateur. Paul-Michel Thibault hatte das Haus um 1790 für den Reeder Martin-Pierre Foäche gebaut. Jener richtete sein Arbeitszimmer und seine Empfangsräume für winterliche Feiern mit Blick auf den Hafen ein. Der Volksmund munkelt, es hätte dort auch einige Liebesnächte gegeben, und das nicht immer mit der eigenen Frau, die in ihrem Salon ebenfalls die feine Gesellschaft von Le Havre empfing.
Der Hafen von Le Havre hat die Stadt reich gemacht. Und auch die Kunst hob seine Bedeutung. Denn vor 150 Jahren malte Claude Monet ein Seestück, das zum Namensgeber der neuen Bewegung wurde: (»Impression, Sonnenaufgang«). Der Impressionismus war geboren. Zu sehen ist der Hafen von Le Havre im Morgendunst. Auf dem Wasser spiegelt sich die aufgehende Sonne. Kurze Pinselstriche lassen die Luft flimmern. Wichtiger als die Objekte war die Stimmung, eingefangen in den Farben Violett, Blau und einem leuchtenden Orange.
Das besondere Licht von Le Havre genießen auch Bewohnerinnen und Besucher am langen Strand der Stadt, der sich bis nach Sainte-Adresse hinzieht. Sainte-Adresse ist seit der Belle Époque der noble Villenvorort von Le Havre und war im Zweiten Weltkrieg sogar Standort der belgischen Exilregierung. Mal nostalgisch verschnörkelt, dann wieder kantig-klar und modern, säumen Luxusvillen den Seine-Hang. Bedecken in Stadtnähe noch große Kiesel den Strand, breitet sich hier auch feiner Sand. Und so bummeln die Einheimischen vorbei an Skaterbahnen und Strandlokalen wie der berühmten Frittenbude Chez Victor hin zu jenen weißen Badekabinen, die sich seit Generationen in der Hand alteingesessener Familien befinden. Vor den kleinen Hütten legen sie sich zum Sonnen aufs Holz und erleben entspannte Stunden bis zum Apéro. Auch ihn könnte man beim Picknick am Strand genießen. Oder zu einer einfachen Bretterbude am Hang pilgern, die Kult ist beim Sunset: Le Bout du Monde – »das Ende der Welt«. Mit Apérol-Spritz, Bier, Wein, Säften und Limonaden – und dem wohl schönsten Blick zurück zur Stadt, der Seine-Mündung und dem malerischen Ort Honfleur an der Côte Fleurie, der »Blumenküste«.
DIE JARDINS SUSPENDUS
Über den Villen und Stränden von Sainte-Adresse bewacht seit 1856 ein wuchtiges Backsteinfort die Seine-Mündung. 2005 verwandelten der Landschaftsplaner Samuel Craquelin, der Architekt Olivier Bressac und der Botaniker Jean-Pierre Demoly die Militärbrache in den schönsten Park der Stadt. Inspirieren ließen sie sich für ihre Jardins Suspendus von den Hängenden Gärten der Semiramis in der Antike. Das weitläufige, 17 Hektar große Gelände lädt zu einer botanischen Weltreise in die Themengärten der vier Bastionen. Die Gewächshäuser auf dem einstigen Exerzierplatz sind den großen Entdeckern gewidmet, die aus Regenwald, Savanne und Wüste exotische Pflanzen zurück in die Normandie brachten, die dort heimisch wurden. Das ganze Jahr hindurch ist dieser behindertengerecht angelegte Garten ein Paradies – und eröffnet zudem atemberaubende Ausblicke auf die Stadt, die Seine und den Ärmelkanal.
WEITERE INFORMATIONEN
Le Havre-Etretat Tourisme, www.lehavre-etretat-tourisme.com/de