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LILLE – WILLKOMMEN BEI DEN SCH’TIS

EINE STADT DRÜCKT AUFS TEMPO


»Der TGV hat alles verändert«, heißt es in Lille. Seit der Hochgeschwindigkeitszug in der Hauptstadt Französisch Flanderns hält, dauert die Fahrt nach Paris nur knapp fünfzig Minuten, die zur Londoner Waterloo Station eineinhalb Stunden, die nach Köln drei Stunden. Und auch sonst gibt die Stadt Gas.


Erst ein Film setzte die nördlichste Großstadt Frankreichs auf die touristische Landkarte. 2008 löste »Bienvenue chez les Ch’tis« ein Massenphänomen aus. Die turbulente Komödie um einen aus der sonnigen Provence in den vermeintlich tristen Norden verschickten Postbeamten war nicht nur in Frankreich ein Riesenerfolg. Seither möchten fast alle Franzosen und immer mehr ausländische Besucher wissen, wie sich das Leben mit Nuschellauten, Moules-frites und einer Pression, einem gezapften Bier, aushalten lässt.

Keine zehn Minuten Fußweg braucht man vom Bahnhof Lille-Europe über die Spannbetonbrücke Le Corbusier ins Herz der alten flämischen Stadt. Ein Banken-Tower von Christian de Portzamparc sprengt mit kühnem Schwung die Gesetze der Statik. Bahnhof und Gebäude gegenüber behauptet sich Euralille, ein gläsernes, von Stararchitekt Rem Koolhaas entworfenes, mit Bürotürmen auftrumpfendes Quartier. Das Hotel mit der goldchangierenden Fassade hinter dem Bahnhof Lille Europe? Von Jean Nouvel natürlich. Der Parc Henri Matisse, der sich zwischen die von Burgundern, Habsburgern und Spaniern geprägte alte Stadt und das von den Global Playern der Avantgarde geschaffene neue Viertel schiebt? Ein Werk von Gilles Clément, dem Star unter Frankreichs Gartenarchitekten.

Flämisch à la française

Rund um die Grand’Place mit ihren von Friesen und Girlanden verzierten Barockgiebeln kann Le Vieux-Lille, die zauberhafte, Straßenzug um Straßenzug sanierte Altstadt, die Verwandtschaft mit Brügge oder Gent nicht leugnen. Über roten Ziegeln und Stufengiebeln leuchtet die Reklame für Stella-Artois-Bier. In den Auslagen wiegen die Pâtisserien schwer, in den Feinkostgeschäften sind Wurst, Käse, Obst so drapiert wie auf flämischen Stillleben. Krumm legen sich die Gassen um die Kathedrale Notre-Dame-de-la-Treille.


FLÄMISCHER BAROCK, FRANZÖSISCHE BELLE ÉPOQUE, DIE AVANTGARDE DES 21. JAHRHUNDERTS: DIE MISCHUNG MACHT’S. EIN BISSCHEN VERRÜCKTHEIT WIE BEI DER MAISON FOLIE DARF ES AUCH NOCH SEIN.

Etwas weiter nördlich wechselt das flämische Stadtbild. Im Quartier Royal kommt Lille vornehm französisch daher. Die Straßen sind wie mit dem Lineal gezogen – der Sonnenkönig hat es so gewollt. Nachdem Ludwig XIV. 1667 unter dem Druck einer zehntägigen Belagerung die Hauptstadt Französisch Flanderns eingenommen hatte, beauftragte er Festungsbauer Sébastien Le Prestre de Vauban mit dem Bau der Zitadelle und ließ ein neues Viertel im staatstragenden Barock des Ancien Régime anlegen, genannt Quartier Royal.

Die Kunst ist am Zug

Einen Steinwurf entfernt spiegelt das neobarocke Palais des Beaux-Arts, Frankreichs bedeutendstes Kunstmuseum außerhalb von Paris, die zwei Seelen der Stadt. Einträchtig hängen die Flamen Rubens, Van Dyck, Snyders und die Franzosen David, Delacroix, Courbet in den rotgetünchten Sälen. Die Gemäldesammlung belegt Lilles reiche Kunstgeschichte, auch Frühgeschichte und Antike sind vertreten. Die Moderne kommt in Lille ebenso hochkarätig inszeniert zum Zug. Aus einer ehemaligen Brauerei im Vorort Moulins wurde eine Maison Folie, ein flippiges Kulturzentrum. Mitten im volkstümlichen Stadtteil Wazemmes etwa hat das Rotterdamer Büro NOX die Ziegelsteinburg der Spinnerei Leclercq ebenfalls zur Maison Folie verwandelt. Zum Kulturzentrum gehören neben Veranstaltungsbühne, Ateliers und Ausstellungssälen auch ein Hammam, eine Reverenz an die nordafrikanischen Zuwanderer aus der nahen Rue des Sarrazins. In der südlichen Randgemeinde Villeneuve-d’Ascq, die Teil des Gemeindeverbands Lille Métropole ist, eröffnete das Musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art Brut, kurz LaM.


DER GENERAL GENIESST

Für Charles de Gaulle waren die Gaufres de Méert das, was für Proust die Madeleine bedeutete: eine Erinnerung an glückliche Tage. Die quietschsüßen Waffeln aus der Feinbäckerei hatte Klein-Charles in Kindertagen entdeckt: de Gaulle kam 1890 in der Rue Princesse 9 zur Welt, im Haus der Großeltern. An deren Hand ging es regelmäßig zur Confiserie Méert in der Rue Esquermoise. Als Präsident ließ de Gaulle die Waffeln per Eilzustellung in den Pariser Elysée-Palast liefern. Seit 1864 ist Méert zudem Lieferant des belgischen Königs. Das Ladenlokal sieht mit Emporen und lackierten Holzpaneelen noch immer so aus wie eine Bonbonniere des frühen 19. Jahrhunderts. Die mit Madagaskar-Vanillecreme gefüllten Waffeln stehen nach wie vor auf der Karte. Präsidenten und Könige kommen und gehen. Méert aber bleibt, und das seit 1839.

WEITERE INFORMATIONEN

Lille, www.lilletourism.com

Maisons Folie, https://maisonsfolie.lille.fr

LaM, www.musee-lam.fr

Confiserie Méert, www.meert.fr

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