Читать книгу Träume - Calin Noell - Страница 21
ОглавлениеBegegnungen
Ich hetzte dahin, ohne anzuhalten, bis in die tiefe Nacht hinein. Die Dunkelheit störte mich nicht, im Gegenteil. Doch langsam aber sicher spürte ich das Nachlassen meiner Kräfte. Zwar lief ich inzwischen längst nicht mehr mit voller Geschwindigkeit, dafür war der Weg viel zu weit, dennoch trieb mich das beständige Gefühl, ich würde zu spät kommen, unablässig voran.
Ich erinnerte mich, dass die Hüter immer eine gute Woche fortblieben, wenn sie nach Tari aufbrachen. Den Rückweg bewältigten sie schneller, auf dem Hinweg mussten sie jedoch Rücksicht auf ihre Begleiter nehmen, die längst noch nicht über so viel Ausdauer verfügten. Trotzdem besaß ich keine genaue Vorstellung davon, wann Reed ankommen müsste, wie viele Tage er benötigte und das trieb mich schier in den Wahnsinn.
Ich ruhte so wenig wie möglich, doch bereits in der zweiten Nacht forderte mein Körper sein Recht, und ich schlief wesentlich länger als beabsichtigt. Beim Aufwachen ärgerte ich mich maßlos darüber, dennoch ließ es sich nun nicht mehr ändern. Hier gab es nichts und niemanden, der mich rechtzeitig hätte wecken können.
Ich aß einige Beeren, die ich im Wald fand, und verfluchte mich dafür, so unvorbereitet aufgebrochen zu sein. Das war so gar nicht meine Art, doch auch das musste ich nun so hinnehmen. Also lief ich unermüdlich weiter, bis in den späten Nachmittag hinein. Aufgrund der Bilder, die ich in meinem Kopf trug, wusste ich, dass nur noch wenige Stunden vor mir lagen, und gab meine Zurückhaltung auf. Ich brauchte meine Kräfte nicht länger über Tage einzuteilen, und so beschleunigte ich meinen Lauf.
Wäre die Befürchtung, dass ich zu spät kommen würde, nicht so groß gewesen, hätte ich diesen Weg mit Sicherheit genossen. So jedoch verkrampfte sich mein Herz immer mehr und die Angst fraß sich gierig durch mein Innerstes. Das drängende Gefühl verschlimmerte sich mit jedem Schritt, der mich näher an mein Ziel brachte.
Als ich um die letzte Biegung hetzte, stieß ich beinahe mit Reed zusammen. Ich war so darauf konzentriert, den Bildern in meinem Kopf zu folgen, dass ich die Wahrnehmung meiner Umgebung vollkommen vernachlässigt hatte. Innerlich fluchend sprang ich im letzten Moment mit einem mächtigen Satz über ihn hinweg, denn zum Ausweichen war es bereits zu spät. Dennoch wäre ich mit ihm zusammengeprallt, hätte er sich nicht im selben Augenblick auf den Boden fallen lassen.
Durch die unerwartete Begegnung geriet mein Sprung allerdings ein wenig ins Wanken, und ich landete unsanft auf meinen Pfoten. Ich ignorierte sowohl den Schmerz als auch Reed und hetzte einfach weiter. Angst umklammerte mein Herz. Wenn Reed schon wieder unterwegs war, konnte ich es dann überhaupt noch rechtzeitig schaffen?
Erst kurz vor dem Tor kam ich schlitternd zum Stehen und wandelte mich. Es war verschlossen. »Verdammt!«, fluchte ich lautstark und hämmerte gewaltsam mit der Faust dagegen, dennoch reagierte niemand. Wütend lief ich jeweils ein Stück nach links und rechts, an der Mauer entlang, entdeckte jedoch keinen anderen Eingang.
»Die Tore öffnen sich erst in einem Mond wieder«, erklang hinter mir Reeds tiefe Stimme, doch ich beachtete ihn nicht. Ich besah mir bereits die Mauer, die scheinbar eher einen symbolischen Charakter besaß. Es gab genügend Ritzen und Fugen, um hinaufzuklettern.
Eilig begann ich meinen Aufstieg und schöpfte Hoffnung, dass ich es vielleicht noch rechtzeitig schaffen könnte, als ich plötzlich von hinten gepackt wurde. Arme umschlangen meine Taille und zogen mich hinunter. Diese Berührung weckte in mir sämtliche Instinkte, die mich die letzten Jahre hatten überleben lassen. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung ergriff ich mein Messer, zog es aus meiner verdeckten Tasche am Hosenbein, während ich mich in seinem Griff seitlich drehte, und hielt es ihm an die Kehle. In seinem Blick spiegelten sich Erstaunen und Überraschung gleichermaßen und augenblicklich ließ er mich los.
»Verzieh dich!«, zischte ich und schritt rückwärts auf die Mauer zu. Ich wusste, dass ich niemals schnell genug nach oben gelangen würde, also außerhalb seiner Reichweite, sollte er es darauf anlegen, mich festzusetzen, und fluchte innerlich.
Beschwichtigend hob er die Hände. »Du musst Talil sein. Ich will dir nichts tun, doch du wirst warten müssen, bis sie die Tore wieder öffnen. Vorher lassen sie niemanden ein.« Herausfordernd sah er mich an.
»Das habe ich mir bereits gedacht, oder was glaubst du, weshalb ich klettern wollte. Ich muss sofort hinein. Ich muss zu Rian«, stieß ich hervor und steckte zögernd mein Messer weg. Ruckartig wandte ich mich um und kletterte in Windeseile so hoch wie möglich, ohne Gefahr zu laufen, abzustürzen. Hier machten sich das Training und meine Leidenschaft fürs Klettern endlich einmal bezahlt.
»Was glaubst du, was du da tust?«, rief er hinter mir her, eher belustigt als besorgt. Ich reagierte nicht, konzentrierte mich vollkommen auf den Aufstieg, denn je höher ich kam, je schwieriger wurde es.
Ich schätzte die Mauer auf etwa sechs Meter und hatte zwei Drittel bereits erklommen, als ich seitlich, etwas unterhalb meiner eigenen Position, eine Bewegung wahrnahm, und einen Blick nach unten warf.
»Und was glaubst du hier zu tun?«, rief ich genervt, weil Reed mir grinsend folgte. Doch diesmal antwortete er nicht, und so stieg ich weiter hinauf, während ich überlegte, wie der Hüter hieß, der dazugekommen war.
»Wann hast du Bohl das letzte Mal gesehen?«, rief ich in seine Richtung, als mir der Name endlich wieder einfiel, suchte unterdessen immer hektischer mit meiner Hand die nächste Spalte.
»Bohl?«, fragte er irritiert.
»Ja, verdammt, Bohl. Wann?«, entgegnete ich genervt und zog mich ein Stück höher, nachdem ich sicheren Halt gefunden hatte. Zwei Griffe noch, und ich könnte mich an der Kante hochziehen.
»Vor wenigen Minuten. Was ist hier los, Talil?«
Ich hatte die Kante erreicht und registrierte erstaunt, dass Reed fast aufgeschlossen hatte. »Ich muss zu Rian.« Ich zog mich hoch und wusste, dass der Abstieg viel zu lange dauern würde, wandelte mich und sprang.
»Talil, nicht!«, schrie Reed hinter mir her, doch es war bereits zu spät.
Wie erwartet schlug ich hart auf dem Boden auf, meine Beine federten die Gewalt des Aufpralls nicht genügend ab, irgendetwas brach und mir presste es die Luft aus den Lungen. Ich jaulte auf, unfähig, etwas dagegen zu tun, und einige Dunkelelben, die noch immer in dem Hof standen und durch den lauten Ruf von Reed bereits auf uns aufmerksam geworden waren, liefen eilig herbei.
Zitternd erhob ich mich, während sie auf mich zutraten, die Arme ausgebreitet, als wollten sie mich einfangen. Ich konnte einen Hinterlauf nicht mehr belasten und humpelte zögernd in die Mitte des Kreises, der sich gebildet hatte.
»Nicht! Lasst sie durch«, erklang plötzlich Reeds Stimme von oben. Er war noch immer mit dem Abstieg beschäftigt. »Bohl, lass sie, aber lauf hinterher. Sie muss zu Rian, vertrau mir.«
Ich wartete nicht ab, ob sie auf ihn hören würden, nutzte ihre Ablenkung, denn genau das war meine Chance. Ich lief zwischen ihnen hindurch, ignorierte die Schmerzen, die jede Bewegung an meinem Hinterbein verursachte und hetzte in das Nebengebäude hinein, bis zu der Hintertür. Ich wusste, dass sich inzwischen mehrere Verfolger hinter mir befanden. Unsicher, ob sie mich nicht doch noch immer einfangen wollten, oder einfach nur Reeds Anweisungen befolgten, holte ich so viel Vorsprung wie möglich raus. Ich konnte es nicht darauf ankommen lassen, die Zeit lief mir davon, und als ich die Tür verschlossen vorfand, wandelte ich mich mitten im Lauf. Mein Schrei, als ich plötzlich mit meinem gebrochenen Bein auftrat, klang selbst in meinen Ohren furchtbar, doch ich erreichte die Klinke und drückte sie hinunter. Noch während die Tür aufschwang, wandelte ich mich zurück und kämpfte verbissen gegen die Schmerzen und die nahende Ohnmacht an. Ich registrierte die überraschten Laute nur am Rande, als sie Zeuge meiner Wandlung wurden, während sie in das Gebäude stürmten. Ich ignorierte sie, hetzte unbeirrt weiter, so schnell es mir auf drei Beinen möglich war, zu dem alten Übungsplatz, von dem nun das Krachen der aufeinanderprallenden Schwerter immer deutlicher zu hören war.
Rian lebte, doch der Kampf war bereits in vollem Gang. Ich erkannte die Szene wieder und stürzte panisch auf die beiden zu. Gleich würde Rian seine Deckung öffnen.
Was soll ich tun?
Ich wollte sie nicht ablenken, sodass durch mein Eingreifen dennoch etwas Schlimmes geschah. Noch im Lauf wandelte ich mich, was mir mein Körper spürbar übelnahm und schrie: »Nicht.« Mit letzter Kraft sprang ich, anders als in meiner Vision nicht vor Rian, also zwischen sie, sondern seitlich, direkt auf ihn zu.
Von meinem Schrei abgelenkt, ließ Jesse, sein Schwert augenblicklich sinken. Hart prallte ich gegen Rian, mein Schwung holte uns von den Füßen und der Schmerz in meinem Bein, während wir gemeinsam stürzten, raubte mir unmittelbar die Sinne. Ich glaube, ich schrie noch auf, doch sicher bin ich mir nicht.