Читать книгу Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch - Cara Schweitzer - Страница 13
Flucht nach Italien
ОглавлениеAm 7. Oktober 1920 fährt Hannah Höch für über einen Monat nach Italien.234 Mit dem Zug gelangt sie zunächst nach München, wo sie sich einige Tage aufhält und ihre Beziehungen zu den Expressionistischen Werkstätten pflegt.235 Richard Huelsenbeck schickt ihr in einem Eilbrief die Adressen von Hugo Ball und Emmy Hennings nach. Ball und Hennings leben bereits seit mehreren Jahren im Tessin. Huelsenbeck fordert Hannah Höch auf, die beiden zu besuchen, und gibt ihr weitere Adressempfehlungen für die »Dadaisten« in Italien.236 Von München aus fährt Hannah Höch in das Städtchen Maria Brunn, wo ihre Schwester Margarete wohnt. Gemeinsam mit Grete Höch und deren Freundin, der Schriftstellerin Regina Ullmann, wandert Hannah Höch in mehreren Etappen über die Alpen bis nach Bozen. Das Einreisevisum für Italien, seinerzeit in Folge des Ersten Weltkrieges kein leicht zu erhaltendes bürokratisches Papier, hatte im Vorfeld der Fahrt der Architekt Mies van der Rohe für Hannah Höch vermittelt.237 In ihr Reisetagebuch notiert die Künstlerin vor allem ihre Alltagserfahrungen, das gute Essen und Kinoerlebnisse finden Erwähnung, während die Besuche italienischer Kunstdenkmäler nur mit kurzen Stichpunkten vermerkt werden. Die Frauen reisen gemeinsam bis nach Venedig. In der Lagunenstadt lernt Hannah Höch Richard Kaufmann kennen, einen Architekten und Anhänger der zionistischen Bewegung, der sich von Venedig aus über das Mittelmeer nach Ägypten und dann weiter nach Jerusalem auf den Weg macht.238 Hannah Höch wird auch nach der Reise in Briefkontakt mit ihm bleiben. Seinen Schreiben kann man entnehmen, dass zumindest von seiner Seite ein Interesse an der Künstlerin bestanden zu haben scheint, das über eine rein freundschaftliche Beziehung hätte hinausgehen können.
In Venedig trennen sich die Wege der drei gemeinsam reisenden Frauen. Nachdem Regine Ullmann abgereist ist, die seinerzeit in Florenz lebt, fahren Höch und ihre Schwester nach Bologna, von wo aus Margarete Höch wieder nach Deutschland zurückkehrt.239 Allein wandert und trampt Hannah Höch bis nach Rom: »Ich war mit einem modischen, roten Mäntelchen angetan und trug einen großen Rucksack – eine unmögliche Erscheinung. In der Tasche hatte ich 300 Mark, die mir mein Vater, in Anbetracht der nun galoppierenden Inflation, gutwillig überlassen hatte – die übrigen 700 Mark des mir für Ausstattungszwecke einmal zugewendeten Geldes hatte die Geldentwertung bereits gefressen«, erinnerte sich Hannah Höch.240 Im Jahr 1920 war Hannah Höchs nicht auf Bequemlichkeit setzende Art der Fortbewegung für eine Frau ungewöhnlich. In Rom knüpft Hannah Höch Kontakte mit den dort lebenden an Dada beteiligten Künstlern. Vor allem hat sie Kontakt zu Enrico Prampolini, der sie mit den neuesten Kunstzeitschriften versorgt. Der Austausch zwischen der zeitgenössischen Berliner Kunstszene und der römischen wird insbesondere durch eine von Marinetti und Prampolini gemeinsam organisierte Übernahme einer Ausstellung der Novembergruppe ersichtlich.241
Johannes Baader übermittelt Hannah Höch während ihres Romaufenthalts postalisch mehrere Missionen, die sie im Auftrag für ihn bei Papst Benedikt XV. erledigen soll. »Sei doch so gut und sage Benedikt, er möge die sella curulis oder die cathedra ex machen, Baader kommt in die Peterskirche und wird die erste große Weltdada-Messe zelebrieren. Benedikt soll Posaune blasen. Aber rechtzeitig. Auch seine Töne kann dada brauchen«, schreibt Baader im November nach Rom, was so viel heißt, wie dass der Papst für ihn seinen heiligen Stuhl räumen soll.242
Hannah Höch genießt während der Italienreise ihre Freiheit. Möglicherweise löste der erste längere Aufenthalt im Ausland bei der Künstlerin, die während ihrer Station in Bologna ihren 31. Geburtstag feiert,243 ein Reisefieber aus, das Hannah Höch lediglich unterbrochen durch den Zweiten Weltkrieg ihr Leben lang immer wieder packen wird.
Der Fahrt gehen erneut unvermeidbare und heftige Auseinandersetzungen mit Raoul Hausmann voraus, die diesmal zu einer Flucht der Künstlerin ins Ausland führen. Baader berichtet ihr nach Italien, dass er Hausmann zusammen mit seiner Frau Elfriede zufällig auf einem Empfang getroffen habe.244 Und wieder einmal wird Baader in die Konflikte involviert, die sich dieses Mal vor allem zwischen ihm, Hausmann und dessen Frau auftun. Hausmann versucht über Elfriede Hausmann-Schaeffer bei Höchs Eltern ihre römische Adresse zu erfragen, was offenbar gelingt.245 Aus Rom schreibt Hannah Höch ihrer Schwester Grete:
»5 Jahre lang habe ich doch immer wieder versucht, mich von ihm zu befreien – nicht nur äußerlich, auch innerlich, bin ich Gott weiß wohin vor ihm geflohen, habe mit aller Kraft versucht, mir mit andern Menschen ein leichteres Leben zu zimmern – aber ich sage Dir heute, und dies nach schwersten Erfahrungen, ich muß neben diesem Mann weiter aushalten, ich kann mir nicht mehr vorlügen, daß ich weiterleben kann, sowenig wie er ohne mich, ohne ihn, es geht eine Weile – und dann würde ich eben lieber sterben gehen (ohne alle Sentimentalität) als weiterleben. Ich gehe also, wie Christus auf die Frage: Herr wohin gehst Du, antwortet: ich gehe, um mich noch einmal kreuzigen zu lassen. – Denke nun nicht, dass dies heißt, dass ich jetzt nach Berlin gehe um mich wieder in seine Arme zu stürzen – es wird ihn noch einen harten Kampf kosten – aber im Vertrauen sage ich dir – ich bin mit Raoul Hausmann nicht fertig – wir haben noch mehr miteinander zu tun.«246
Am 15. November 1920 tritt Hannah Höch mit der Bahn den Heimweg nach Deutschland an, zunächst fährt sie zu ihren Eltern nach Gotha. Über ihre Zeit in Italien schreibt die Künstlerin einen satirischen Essay, der im Mai 1921 in einer Veröffentlichung der Novembergruppe publiziert wird.247 Zu einer erneuten Versöhnung zwischen Hausmann und Höch scheint es, wie Höch in ihrem Brief an die Schwester schon angekündigt hatte, nicht sofort nach ihrer Rückkehr nach Berlin gekommen zu sein. In ihren Taschenkalender notiert sie am 5. Dezember 1920: »Raoul vor der Tür! Ich komme, um mich nochmals kreuzigen zu lassen. Venio iterum crucifigi. (las ich in Rom) Ich unterlag wieder.«248 Die Worte, die Hannah Höch hier für ihren erneuten Friedensschluss mit Hausmann wählt, entstammen christlicher Kreuzessymbolik oder sind Metaphern des Kampfes, aus denen keine Hoffnung auf Verbesserung ihrer Beziehung spricht. Vielmehr scheint sie mittlerweile ihr gemeinsames Leid als unabänderliches Schicksal akzeptiert zu haben.
Im folgenden Jahr 1921 führen Hannah Höch und Raoul Hausmann zumindest phasenweise das Projekt Dada gemeinsam weiter. Es entstehen von beiden auch in der folgenden Zeit wichtige Arbeiten, die heute im Kontext der Dada-Bewegung interpretiert werden, unter anderem Raoul Hausmanns berühmter »Mechanischer Kopf«.249 Die Veränderungen und Auflösungserscheinungen innerhalb der Berliner Dada-Gruppe spiegeln sich auch in der Verlagerung von Raoul Hausmanns freundschaftlichen Beziehungen wider. Johannes Baader gewinnt bei ihm wieder an Einfluss, während George Grosz und John Heartfield mit ihren linkspolitisch ausgerichteten Zielen eher in den Hintergrund treten. Hausmann interessiert sich zusehends für konstruktivistische Tendenzen in der Kunst.250 Er kommt in Kontakt mit dem Begründer der niederländischen De-Stijl-Bewegung, Theo van Doesburg, den auch Hannah Höch zuerst über Raoul Hausmann kennenlernt und der wenig später gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Nelly zu ihren engen Freunden zählen wird. Während der Berliner Dada-Kreis sich bereits in Auflösung befindet, initiieren Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck gemeinsam mit dem späteren Verfasser des surrealistischen Manifests André Breton in Frankreich die Pariser Dada-Bewegung.251
Im Herbst 1921 kommt es noch einmal zu einer gemeinsamen Aktion einstiger Mitglieder des Berliner Dada-Zirkels, die sich gegen die Leitung der Novembergruppe richtete. Der »Gegner«, die in Wieland Herzfeldes Malik-Verlag erscheinende Zeitschrift, druckt einen offenen Brief, in dem dem Vorstand der Novembergruppe vorgeworfen wird, seine ursprünglichen revolutionären Ziele an den Nagel gehängt zu haben und jetzt mit der Bourgeoisie gemeinsame Sache zu machen.252 Auslöser der Auseinandersetzung ist die Verweigerung der Novembergruppenleitung, zwei Arbeiten von Otto Dix und Rudolf Schlichter in der Großen Berliner Kunstausstellung im Rahmen der Gruppenpräsentation zu zeigen, da das Kultusministerium gegen die Werke Einspruch erhob.253 Otto Dix, George Grosz, Rudolf Schlichter, Thomas Ring, Raoul Hausmann, Hannah Höch und einige andere unterzeichnen den Brief und erklären aus Sicht der Novembergruppenleitung damit offiziell ihren Austritt. Dieser offene Brief wird Jahre später für Hannah Höch noch einmal für Verwicklungen sorgen. In der Zeit des Nationalsozialismus stellte ihre Unterschrift für sie eine massive Bedrohung dar.
Anders als Raoul Hausmann beteiligt sich Hannah Höch in den folgenden Jahren immer wieder an Ausstellungsprojekten der Novembergruppe. Sie findet hier Freunde, wie die Maler Otto Freundlich und Thomas Ring. Die Präsentationen im Rahmen der Novembergruppe bieten ihr in den zwanziger Jahren die Chance, ihre Arbeiten in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Obwohl es im Sommer zu einem erneuten Zerwürfnis mit Hausmann kommt, das jetzt beiden zeigt, dass ihre Beziehung nach Hannah Höchs Italienreise im Herbst 1920 kaum noch aufrechtzuerhalten ist, und sie unabhängig voneinander den befreundeten Maler Arthur Segal um Vermittlung bitten, unternehmen Höch und Hausmann im September eine »Antidada-Merz-Presentismus«-Tour mit Kurt und Helma Schwitters nach Prag.254 Die Fahrt markiert den Beginn einer intensiven Freundschaft zwischen Hannah Höch und Kurt Schwitters (Abb. 8). Die freundschaftliche Beziehung zu den Schwitters wird Hannah Höch in der Zeit nach ihrer Trennung von Raoul Hausmann tragen. Was für viele Außenstehende wohl die letzte Möglichkeit gewesen zu sein scheint, nämlich den ständig teils unterschwellig, teils offen brodelnden Konflikt zwischen Hannah Höch und Raoul Hausmann zu lösen, vollzieht sich im Sommer 1922. Diesmal ist es nicht Hannah Höch, die versucht, die Beziehung zu beenden, sondern Raoul Hausmann. Bereits Anfang des Jahres hat er eine neue Frau kennengelernt, die Malerin Hedwig Mankiewitz. Im Frühjahr reicht er seine Scheidung ein und heiratet 1923 seine neue Partnerin.255
Hannah Höch hat ihren Schmerz über diesen Schritt von Hausmann im September 1922 ihrem Tagebuch anvertraut, aus der Erinnerung an einen Spaziergang am Schlachtensee geschrieben:
»Und nun trat ich aus der Böschung und meine Sinne begannen einen Erinnerungsreigen und tanzten rückwärts, blasse Tücher schwingend um eine feine Stunde an eben dieser Stelle. Auch war der Herbsttag so seltsam lächelnd – auch war der See geteilt in eine grüne und eine blaue Hälfte und – die Wasser deiner Beredsamkeit sprangen und erschütterten alle Grenzen und unser Blut sang, – da nahmst du ein Messer und schnittst ein Herz in jene Birke. Ein Herz – so wie August seiner Minna ein Herz in eine Birke schneidet. Ich aber war voll Dankbarkeit ob dieser Heldentat. Ob das Herz noch zu sehen ist, das kleine Herz in der keuschen weissen Rinde – oder frass die Zeit es auf? Oder der grosse Baum verzehrte selbst diese kleine Wunde?? Und – ehe ich mich entschliesse die zehn Schritte zu gehen um vielleicht mit meinem Finger, ganz leise, das Herz zu fühlen kommt munter ein Hündelein, ein kleines Pintscherchen, und – hebt stillvergnügt ein Beinelein – gerade hebt es sein Hinterbeinelein an der weissen Birke. Das Herz will ich nicht mehr fühlen. [...]«256
Noch in den sechziger Jahren fällt es der Künstlerin schwer, über ihre Beziehung zu Hausmann zu sprechen. Für einen Vortrag, den sie 1966 in Düsseldorf hält, notiert sie sich:
»Es ist falsch zu denken, dass der Sinn meines Zusammenlebens mit ihm [Hausmann] der war – dem Leben jeden Sinn zu nehmen. [...] Ich war zu dieser Zeit noch so naiv und schrecklich anständig. [...] Und dann bin ich so enttäuscht, zertreten, zermanscht worden, dass es mir auch heute noch fast nicht möglich ist mich mit diesen Jahren zu befassen. Da ich mir klar bin, dass es nun höchste Zeit wird, auch in diesen Abschnitt meines Lebens Ordnung aus objektiver Sicht zu bringen (schon darum, weil zwischen R. H. und mir noch heute offene Fragen sind) weil, ohne unser Hinzutun, Dinge Gewicht bekommen haben, die wir zu damaliger Zeit gar nicht in Betracht haben ziehen können.«257
Die Trennung von Hausmann wirft Hannah Höch auf sich selbst zurück. In der folgenden Zeit intensiviert sie ihre Kontakte zu befreundeten Künstlern und arbeitet viel. In Hinblick auf ihr künstlerisches Werk wirkte die Auflösung der Beziehung durch Hausmann wie ein Befreiungsschlag. Hannah Höch widmet sich neben den Fotomontagen vor allem der Malerei in verschiedenen Techniken. Trotz aller Einflüsse neuer malerischer Tendenzen, wie der neuen Sachlichkeit und frühen surrealistischen Strömungen, entwickelt die Künstlerin auch in dieser Gattung in den nächsten Jahren eine vielfältige und eigene Bildsprache.