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2. Kapitel
Оглавление»Damen ohne Herrengesellschaft ist das Rauchen hier nicht gestattet«
Raoul Hausmann. Dada-Berlin.
Künstlerfreundschaften
(1915–1926)
Das Foto zeigt einen jungen Mann in typischem Porträtformat (Abb. 2). Er trägt einen eleganten dunklen Anzug, einen dunklen Schlips und ein steifes weißes Oberhemd. Sein leicht vorgeschobener Unterkiefer und die vollen Lippen verleihen ihm einen energischen, fast brutalen Gesichtsausdruck, der durch den ernsten Blick verstärkt wird. Breite Schultern betonen seine Männlichkeit. Hausmann schaut nicht direkt in die Kamera, er fokussiert etwas, das sich links neben ihr befindet. Der Mann hat eine Vision, vermittelt unmissverständlich sein Blick aus dem Bild. Im Glas seines Monokels bricht sich das Licht. Die Sehhilfe erzeugt einen Lupeneffekt, der das dahinterliegende Auge vergrößert und verzerrt.
In dem Foto aus dem Jahr 1915 sind bereits alle stilbildenden Attribute angelegt, auf die Raoul Hausmann zukünftig bei seiner Selbstinszenierung als Künstler Wert legt. Dazu zählt die kämpferische Haltung, gepaart mit Eleganz. Auf das Monokel wird Hausmann kaum noch verzichten. Das konservative Image des Einglases steht im Kontrast zu seinem sonstigen Erscheinungsbild. Der Widerspruch verwandelt das Monokel in ein modisches Accessoire, das seinem Träger die nötige Lässigkeit verleiht. Doch das Monokel ist nicht nur Dekor. Hausmann leidet seit seiner Kindheit an Kurzsichtigkeit und ist auf seinem linken Auge fast blind.1 »Ich muß erwähnen, daß Monokeltragen zu der Zeit zwar etwas provozierend wirkte, es aber doch weit mehr benutzt wurde als heute; Hausmann kam wahrscheinlich schon mit Monokel auf die Welt. Denn schon als ich ihn kennenlernte, also längst vor DADA, wäre er sich ohne ... wie ohne Kleidung vorgekommen. Er hatte seine Augen, die schon immer einer Stütze bedurften, so an das Einglas gewöhnt, dass es saß wie eingewachsen. Er hat es auch nie an einer Schnur getragen. Und wenn er den ganzen Kurfürstendamm hinunter hätte Purzelbäume schlagen müssen, er hätte das Glas nicht einen Augenblick abgenommen oder gar verloren. Psychologisch gesehen gehörte es auch zu ihm, er musste es tragen aus der prinzipiellen Verneinung des Üblichen«, kommentierte Hannah Höch die Extravaganz ihres Partners im Rückblick.2 Modebewusstsein zählt zu seinen Charaktereigenschaften.
Hannah Höch notierte auf dem Foto, das sich heute in ihrem Nachlass in der Berlinischen Galerie befindet, »Raoul Hausmann 1915. Als ich ihn kennenlernte.«3
Am 12. Juli 1886 wurde Raoul Hausmann in Wien in eine wohlhabende Künstlerfamilie geboren. Der Vater, Victor Hausmann, stammte aus Ungarn, aus einer betuchten Großkaufmannsfamilie. Zunächst zog er für ein Studium an der Kunstgewerbeschule und dann an der Wiener Akademie in die Hauptstadt der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Hier erarbeitete der Vater sich einen Ruf als Porträt- und Historienmaler. Dennoch zieht die Familie 1900 nach Berlin, in die südwestlichen Vorortbezirke nahe der Havel. Dort entsteht eine neue, großzügig angelegte bürgerliche Wohngegend im Grünen mit großen freistehenden Häusern, umgeben von Gartenanlagen. Berlin bedeutet für Hausmanns Vater einen Karrieresprung. Wilhelm II. berief ihn als Hofmaler in die kaiserliche Reichshauptstadt. Zudem verlangte die weiterhin von konservativen Kreisen dominierte Berliner Kunstszene anders als das im Aufbruch befindliche Wien von dem etablierten Maler nicht allzu große Anpassungen an neue Kunstauffassungen.4
Der junge Raoul Hausmann wächst, zumindest was seine pekuniäre Situation anbelangt, in ähnlich behüteten Verhältnissen auf wie Hannah Höch. Über seine Kindheit ist wenig bekannt. Wahrscheinlich ist, dass der Vierzehnjährige in Berlin nicht mehr eine Schule besucht, sondern sich autodidaktisch weiterbildet. Ursache für die Entscheidung der Eltern, ihren Sohn nicht noch einmal in eine schulische Einrichtung zu geben, mögen seine Schwierigkeiten mit Autoritäten gewesen sein: »In dem Wiener Realgymniasium habe ich wirklich nichts als Unfug gemacht, und als ich dann nach Berlin kam, war mein Vater so davon überzeugt, dass ich in keiner Schule zu halten sei, dass er mich der Malerei und dem Radfahren überließ«, kommentiert Hausmann.5
Als er Hannah Höch 1915 kennenlernt, war das Verhältnis zu seinen Eltern und seiner Schwester Mira, die er 1916 zum letzten Mal sieht, distanziert.6 Seine Eltern nehmen sich 1920 gemeinsam das Leben. Über die Ursachen für die Tat erfährt man aus der Korrespondenz zwischen Raoul Hausmann und der Künstlerin nichts. Die Inflation und der Verlust von Ansehen nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie und dem Ende des Kaiserreiches hatten das Selbstverständnis des akademischen Hofmalers zerstört.7
Sowohl Raoul Hausmann als auch Hannah Höch haben die Stimmung ihrer ersten Begegnungen in Gedichten füreinander eingefangen. Im April schreibt Hannah Höch ihr Poem »Erstes Rendez-vous«:
»Stille, mit dem Tau in Verbund.
Alle Geräusche verzehrte die Nacht,
Ein Stern steigt von Stunde zu Stund’ behutsam weiter.
Einer wandernden Wolke Pracht
lockt den Mond in weiße, steife Schleifen,
damit nicht seiner Neugier Licht
die aufgeschloss’nen Straße streife
auf deinem und meinem Angesicht.«8
Ausgedehnte Spaziergänge im Berliner Grunewald waren ein regelmäßiger Bestandteil gemeinsamer Unternehmungen des Paares. Im November 1915, kurz nach Hannah Höchs sechsundzwanzigstem Geburtstag, verfasst Raoul Hausmann für sie ein Gedicht. Ihre Beziehung besteht nun seit einem halben Jahr.
»Zwei Tage erinnere ich.
Der eine,
Jener 28. April dieses Jahres
An dessen Abend ich,
zurückgezogen auf mein innerstes Selbst
hingeführt wurde in die Prinz-Albrecht-Straße
wo ich Dich gewann, weil ich die äußerlich egoistischen Schranken
fallengelassen hatte und Du Dich in mir spiegeln konntest;
das wussten wir Beide nicht.
Und der andre Tag ist
Der 3. Juli danach gewesen.
Wir hatten im Bad Wannsee
Whitman gelesen.
Er ist der Tag,
an dem ich das Erste mal
furchtsam, zitternd – aber doch
willentlich und wissentlich
Deinen Schoß in meine Hand nahm.
An diesen beiden Tagen,
so verschieden sind sie,
hängt unser ganzes Schicksal.«9
Hannah Höch wird sich rückblickend dem Kunsthistoriker Heinz Ohff gegenüber äußern: »Raoul Hausmann war der erste von den bedeutenden Menschen, die in meinem Leben eine Rolle spielen. Er soll hier nur kurz Erwähnung finden. Vom Leben habe ich in dieser Zeit mit ihm unendlich viel erfahren. Auch: ausweglosen Tiefen philosophischen Denkens nachzuspüren. Auch: der irdischen Liebe meinen Tribut zu zollen.«10 Lange Zeit hat es die Künstlerin vermieden, über ihre Beziehung zu Hausmann zu sprechen.11
In seinem Gedicht aus der Anfangsphase ihrer Liebe klingen zukünftige Konflikte an. Nach Höchs Tod wurde das Verhältnis zwischen der Künstlerin und Raoul Hausmann in der Literatur vielfach beleuchtet. Zu den umfangreichsten und einfühlsamsten Schilderungen zählt Karoline Hilles detaillierte und lebendige Darstellung der psychisch belastenden Auseinandersetzungen des Paares. Erst jüngst erschien die Dissertation von Silke Wagener, die die Künstlerbeziehung in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen am Ende des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der zwanziger Jahre einordnet. Sie analysiert die von Hausmann rezipierte psychoanalytische und philosophische Literatur und untersucht, wie er das angelesene theoretische Wissen auf seine Beziehung anwendet. Exemplarisch für die Geschlechterbeziehungen der Avantgarden beschreibt sie das Rollenverständnis von Höch und Hausmann. Beide Autorinnen werten die zahlreichen Briefe und Dokumente aus, die sich in Raoul Hausmanns und Hannah Höchs Nachlass befinden. Ebenso wird der Einfluss der Beziehung auf die künstlerischen Arbeiten Hannah Höchs thematisiert.
Trotz ihrer noch jungen Liebesbeziehung zu Hausmann hält sich Hannah Höch im Sommer 1915 für über zwei Monate bei ihrer Familie in Gotha auf. In die Leidenschaft der ersten Wochen hat sich ein Bewusstsein für die komplizierten Voraussetzungen gemischt, die zumindest aus Höchs Sicht gegen ein ernsthaftes Verhältnis zu Hausmann sprechen. Die Erkenntnis mag auch ein Grund dafür sein, warum Hannah Höch für lange Zeit von Berlin wegbleibt: »Was mir am allernötigsten für Dich sowohl als für mich erscheint ist dies, wir müssen Beide jetzt Ruhe erzwingen. Ich meine nicht Concentration, sondern ein Vergessen (augenblicklich) der widrigen Umstände, an die wir schon genug dachten; [...]«12, schreibt ihr der Geliebte aus der Hauptstadt. In einem seiner zahlreichen Briefe äußert sich Hausmann offen über die »widrigen Umstände«, die schon im ersten Jahr ihrer Liebe zum zentralen Anlass aller zukünftigen Auseinandersetzungen werden sollen. Hausmann hatte eine Ehefrau, die Geigerin Elfriede Schaeffer, und eine siebenjährige Tochter, Vera. Die gemeinsame Zweizimmerwohnung in Steglitz hatte er verlassen. Er wohnte zur Untermiete in der Charlottenburger Pestalozzistraße.13 Wie so oft war er eine Nacht lang mit dem Philosophen und Kunsthistoriker Salomon Friedlaender durch die Straßen in Charlottenburg flaniert: »Ich habe ihm nämlich gesagt, ›ich würde mich vielleicht von meiner Familie trennen‹, und habe lange mit ihm über meine Frau gesprochen, er kennt sie nämlich – er beurteilt sie eigentlich so wie ich. Er meint schwer, schlimm, und nur mit Vorsicht. Es darf kein Versehen passieren, das wäre unter Umständen ein Todesurteil. Daß ich nicht anders kann, giebt er zu. Ich sprach mit ihm nur was ich wusste, aber er ist sehr gescheit und daß er so dachte wie ich, hat mich doch irgendwie beruhigt«, schreibt Raoul Hausmann nach Gotha.14
Bei dem »Vielleicht« sollte es für die fast sieben Jahre währende Beziehung bleiben. Salomon Friedlaender gehörte in dieser Zeit zu seinen engeren Freunden. Raoul Hausmann verkehrt, wie es von einem Bohemien zu erwarten ist, in den entsprechenden Berliner Kaffeehäusern und kennt zahlreiche Künstler und Intellektuelle der Berliner Kulturszene. Er ist auf der Suche. Seinen Platz in der Kunstwelt hat er noch nicht gefunden. Bei verschiedenen Zirkeln, in denen sich Anhänger des Expressionismus treffen, kämpft er um Anerkennung. Hausmann hat Kontakt mit dem Brückekünstler Karl Schmidt-Rottluff, der Anfang 1915 darum bemüht ist, zum Militär eingezogen zu werden: »Lieber Herr Hausmann, meine Versuche, artilleristisch beschäftigt zu werden, nehmen vorläufig einen komödienhaften Verlauf. – Würden Sie mir schreiben, ob u. wann ich Sie mal besuchen dürfte.«15 Hausmann teilt die Sehnsucht, endlich in den Kriegsdienst eingezogen zu werden, allerdings nicht.
Viele der einst in Dresden ansässigen Expressionisten waren Anfang der 1910er Jahre, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nach Berlin gezogen. Zu ihnen zählte Ludwig Meidner, der nie Mitglied der Brücke war, dessen apokalyptische Stadtansichten mit ihren perspektivischen Brüchen und zersplitternden Strukturen ihm weithin den Ruf einbrachten, der expressivste unter den Expressionisten zu sein. In regelmäßigen Abständen traf sich abends in Meidners Berliner Atelier ein lockerer Kreis von Künstlern, die sich dem Expressionismus verpflichtet fühlten. Seit 1914 gehört Meidner der links-expressionistischen Zeitschrift »Die Aktion« an, die der Literat Franz Pfemfert herausgibt und die keinen Hehl aus ihrer Antikriegshaltung macht. Meidner wird 1916 zum Kriegsdienst eingezogen. Die freiwillige oder unfreiwillige Beteiligung an den mörderischen Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beherrschte seit Kriegsausbruch das intellektuelle Leben der Künstlergeneration, zu der Hannah Höch wie auch Raoul Hausmann zählt. Während die einen, wie etwa die Blauen Reiter August Macke und Franz Marc, sich freiwillig an die Front melden und darauf hoffen, durch Zerstörung und Kriegsgewalt an der Erschaffung einer neuen Welt beteiligt zu sein, irritieren die Widersprüche zwischen öffentlicher Kriegsbegeisterung und den ersten Berichten von den Schrecken in den Schützengräben. Im Sommer 1915 steht Raoul Hausmann vor der Musterung, doch offenbar wird er wegen seiner Kurzsichtigkeit für untauglich erklärt. Sein Freund Salomon Friedlaender, der, obwohl er mittlerweile Mitte vierzig ist, zweimal gemustert wird, deutet an, dass man ihn für kriegsuntauglich erklärt habe, da es ihm gelungen sei, vor den Militärs als geistesschwach zu erscheinen: »Mein König! Ich halte Dich für vollkommen untauglich, also werden sie Dich nicht nehmen. Sie haben mich auch nicht genommen. [...] Aber, mein König, Du bist systematisch vergeßlich [...].«16 In Friedlaenders Anspielungen und seiner Benennung Hausmanns als »König« stecken erste dadaistische Nuancen. Später, zu DADA-Zeiten, werden sich die Künstler Spitznamen aussuchen. Hausmann wird sich immer wieder darum sorgen, doch noch zum Militär eingezogen zu werden. Im Sommer 1916 schreibt er Hannah Höch in zynischem Ton an die Ostsee: »Bei unseren Musterungen werden von den alten (40–50 Jahre) Leuten von 10–8 genommen. Gute Aussicht!«17
Auch der junge expressionistische Maler Conrad Felixmüller aus Dresden versucht, Kontakt zum Kreis um Meidner zu knüpfen. Bei den abendlichen Treffen der Gruppe herrscht eine gereizte Atmosphäre, angestachelt durch die künstlerischen Konkurrenzen unter den Männern. Hausmann ist nicht unbeteiligt. Er provoziert durch sein extrovertiertes Verhalten. Aber das ist nur eine aufgesetzte Fassade.18 In seinen Briefen an Höch spricht er offen über Unsicherheiten. Hausmanns Selbstbewusstsein leidet unter den ständigen Sticheleien und Neckereien der anderen Künstler: »Bei Meidner ist der Maler Felix Müller aus Dresden zu Besuch, er will eine neue Gruppe gründen und ich sollte ihn kennen lernen, deshalb war ich also Dienstag Abend zu Meidner gegangen. Das ganze Männchen ist 18 Jahre alt, aber sicher begabt, und recht nett. [...] In der Nacht kam dann noch ein unerwarteter Besuch: Herr Wieland Herzfeld, mein – Herr Gegner. Ich tat harmlos. Er benahm sich aber ganz unerhört. Z.B. als wir alle (Meidner, ich, Müller, Zierath) anfingen zu zeichnen, sagte er: ›Ach, Sie sind Maler, ich dacht Sie sind ein Schwein?‹ zu mir, und so ging’s den ganzen Abend. Ich tat als sähe und hörte ich nicht. Als er wieder fort war, gab Müller zu verstehen, dass ihm vor Erstaunen der Mund offen stehen bliebe. Nachher kam dann noch heraus, dass Friedlaender unpassende und unverschämte Witze über mich einen Abend vorher gemacht hatte. Mein Entschluss war also gefasst, ehe ich Deinen Brief erhielt. Ich habe Friedlaender brieflich ein’s verabreicht, und Meidner ließ ich durch Zierath, der sich als recht nett erweist, bedeuten, ich käme ihn nicht mehr besuchen, ich könnte durchaus nicht dulden, für seine Bekannten, die mir schnurz sind, als Witzobjekt zu dienen.«19
Hausmann weiß noch nicht, ob er sich als Literat oder Maler definieren soll. Und auch hinsichtlich seines künstlerischen Stils ist er unsicher. Sein Vorbild ist van Gogh.20 Und er behauptet dem befreundeten Maler Oskar Moll gegenüber, seinen »persönlichen Kubismus« gefunden zu haben. Moll rät ihm davon ab: Kubistisch malen jetzt so viele.21
In der Berliner Kunstwelt ist es schwer, sich endgültig aus dem Weg zu gehen, und so wird auch Hausmanns Gegner Wieland Herzfelde in den kommenden Jahren trotz aller persönlicher Ressentiments auf der gleichen Seite wie Raoul Hausmann kämpfen.
Hausmann fühlt sich der expressionistischen Kunst zugeneigt, die in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg die Avantgarde repräsentierte. Zentrale Anlaufstelle für alle Expressionisten ist Herwarth Waldens Sturm-Galerie am Potsdamer Platz. Begeistert besucht Hausmann hier eine Ausstellung mit Werken unter anderem von Marc Chagall, Oskar Kokoschka und Henri Rousseau, die ihn zum eigenen Arbeiten motiviert.22 Auf den Galeristen ist er allerdings nicht gut zu sprechen. Aber er befreundet sich mit der Dichterin und Mitarbeiterin in der Sturm-Galerie, Sophie van Leer, an: »Mag Walden sein wer er will, so dumm als er will – er hat die großen Künstler und man kann nur bei ihm ausstellen«, teilt er Hannah Höch mit.23 Die Abneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Else Lasker-Schüler, die zu dieser Zeit bereits von Herwarth Walden geschieden ist, sagt später über Hausmann: »Kleines Gift, muß auch sein.«24 Ende des Jahres 1915 erhält er, wahrscheinlich über Sophie van Leer vermittelt, die Gelegenheit, Walden seine Arbeiten zu zeigen. Doch in einem Brief an den Galeristen schränkt er ein, dass er nur eine geringe Auswahl an Bildern präsentieren könne, da er lediglich fünf Bilderrahmen besäße.25 Das klingt nicht sehr selbstbewusst und eher nach selbst verpatzter Chance. Er plant, Walden die Bilder in die Galerie zu bringen, wo er dem vielbeschäftigten Galeristen einen Tag Zeit gibt, um sie anzuschauen. Fordernd teilt ihm Hausmann mit: »Ich werde die Bilder morgen Nachmittag wieder abholen und gleichzeitig Ihren Bescheid darüber, ob Sie 12–15 Bilder von mir im Januar 1916 (oder zu einer andern Zeit) ausstellen würden.«26
Hausmanns finanzielle Lage ist angespannt. Seinen Lebensunterhalt und den der Tochter verdient die Ehefrau durch das Erteilen von Geigenunterricht. Wenn sie ihn nicht gerade mit Birnen und Äpfeln aus dem elterlichen Garten in Gotha versorgt, leiht auch Hannah Höch ihm gelegentlich Geld. Sporadisch verkauft er Illustrationen. Seinem Stolz tut der Zustand keinen Abbruch. Zu einer Ausstellungsbeteiligung bei Walden, die für Hausmann hätte lukrativ und karrierefördernd sein können, kommt es nicht. Was nicht nur an dem Galeristen liegt, sondern vor allem an Hausmann. Er weigert sich, im Rahmen einer Gruppenausstellung mit »diesen Jünglingen Hans Richter und Georg Schrimpf« sowie dem späteren Bauhausmeister Johannes Itten und Hannah Höchs Schulfreundin, der Malerin Maria Uhden, auszustellen.27
Ende September 1915 kehrt die Künstlerin nach Berlin zurück. An ihre Schwester Margarete schreibt sie: »Wir sind nun fest entschlossen durch und zusammen zu halten und sind dadurch nach soviel Zweifel, Kummer und Quälereien ruhiger geworden. Es gibt nur noch ein Vorwärts nun.«28 Zumindest bis zum Ende des Jahres 1915 hält die hoffnungsvolle Stimmung zwischen Hannah Höch und Raoul Hausmann an. Ihre Geschwister werden Hannah Höch bei zukünftigen Konflikten mit ihm immer wieder Unterstützung bieten.
Über Raoul Hausmann lernt Hannah Höch Salomon Friedlaender und Johannes Baader, den einstigen Grabmalsarchitekten aus Stuttgart, kennen. Die drei Männer planen eine neue Zeitung, »Die Erde«.29 Friedlaender verfasst einen umfangreichen Artikel über Wahrnehmungstheorie. Auf dem geplanten Titelblatt formulieren die Beteiligten die utopische Zielrichtung des Journals, als »Vorschau auf das verheissene und vorbereitete Gedicht der Neuen Erde«. Die Zeitschrift wird nie erscheinen. Das im Anfangsstadium stecken gebliebene Projekt ist der Auftakt für weitere gemeinsame Aktivitäten.30
Hannah Höch ist bestrebt, finanziell soweit es möglich ist, von ihren Eltern unabhängig zu werden. Beim Ullstein Verlag, einem der größten Zeitungshäuser in Deutschland, der seine Produktionsabläufe nach amerikanischem Vorbild optimiert hat, nimmt sie Anfang 1916 für drei Tage in der Woche eine Stelle als Illustratorin für Handarbeitshefte an. Medien aus dem Ullstein Verlag repräsentierten den Geschmack weiter Bevölkerungsschichten und waren entsprechend populär aufgezogen. »In der ›Praktischen‹ erscheinen jetzt öfter mal liebliche Richelieu-Kleider etc. von mir und in der ›Dame‹ bemalte Kästen und so. Ich habe auch noch einen Nachmittagsnebenverdienst, indem ich durch Orlik, bei einer Frau von Kardorff, seidene Stoffe für Lampenschirmzwecke und so mit Blumen, Schmetterlingen etc. bemale«, schreibt Hannah Höch über ihre neue Tätigkeit an ihre Schwester Grete.31 Für den Ullstein Verlag wird die Künstlerin zehn Jahre tätig sein, bis sie 1926 zu Til Brugman nach Holland zieht. Die Arbeit im Verlag ermöglicht ihr ein regelmäßiges Einkommen. Mit einigen ihrer Kolleginnen bei Ullstein wird Hannah Höch ein lange Freundschaft verbinden. Sie entwirft nicht nur für den Ullstein Verlag, sondern auch Schnittmuster für die Fachzeitschrift »Stickerei- und Spitzen-Rundschau«, die von der Verlagsanstalt Alexander Koch in Darmstadt herausgegeben wird.32 Bereits ihre ersten dekorativen Entwürfe stehen in Zusammenhang mit künstlerischen Arbeiten. Sie demonstrieren ihre Auseinandersetzung mit zeitgenössischen expressiven und abstrakten Strömungen in der bildenden Kunst. Im September 1918 wird die Verbindung noch ersichtlicher, wenn Hannah Höch Forderungen nach Erneuerung in der bildenden Kunst in ihre theoretischen Texte über neue Formen handarbeitlichen Arbeitens überträgt. In einem Artikel in der »Stickerei- und Spitzen-Rundschau« appelliert sie an die Kunstgewerblerinnen: »[...] modernste Frauen, ihr, die ihr geistig zu arbeiten glaubt, [...] wenigstens i-h-r müsst wissen, dass ihr mit euren Stickereien eure Zeit dokumentiert.«33 Auch Höchs spätere Fotomontagen demonstrieren ihre Auseinandersetzung mit ornamentalen Strukturen in Stoff- und Strickmustern. Sie wird mehrfach Fragmente von Schnittmustern oder Motive von geklöppelten Spitzen in ihren Fotomontagen verarbeiten. Das Verhältnis von Linie und Fläche und die Auseinandersetzung mit Farbwirkungen bestimmen Höchs analytisches Herangehen an die Wirkung ornamentaler Oberflächen. In seinem 1911 erschienenen Buch »Über das Geistige in der Kunst« beschrieb Wassily Kandinsky die Entstehung abstrakter Malerei, indem er die gesetzlichen Beziehungen zwischen linearen und flächigen Strukturen, die Tiefenwirkung und die symbolischen Bedeutungen von Farben und Formen darstellte. Seine im »Geistigen in der Kunst« formulierten theoretischen Überlegungen fließen auch in das 1913 im Piper Verlag erschienene Künstlerbuch »Klänge« ein, das Hannah Höch von Raoul Hausmann im Juli 1918 geschenkt bekam.34 Für das Buch entwarf Kandinsky über einen längeren Zeitraum hinweg Farb-Holzschnitte, schwarz-weiße Vignetten, und verfasste zahlreiche Gedichte, in denen er seine Ideen zur synästhetischen Wahrnehmung verarbeitet. Wortklang, Illustrationen und die poetischen Sprachbilder sind vielfach assoziativ aufeinander bezogen und erzeugen im Raum des Buches ein dicht ineinander verwobenes Netz von Bedeutungsebenen, die Kandinsky als Klänge beschreibt. Nicht nur das Künstlerbuch ist ein Beleg dafür, dass sich Hannah Höch intensiv mit Kandinsky befasste, auch in ihren Überlegungen zum Verhältnis von Ornament und Abstraktion tauchen Ansätze aus seinen Schriften auf.
Raoul Hausmann und Hannah Höch sehen sich im Frühjahr 1916 fast täglich. Seinen sehnsüchtigen Briefen ist zu entnehmen, dass sie trotz ihrer freien Liebe auf der Einhaltung gesellschaftlicher Regeln besteht. Hausmann beklagt, dass er sich jede Nacht von ihr trennen muss: »– und ich hatte mir gewünscht, nur ein einziges Mal bei Dir schlafen zu dürfen, in Deinem Bett – [...].«35
Im Mai geht es Hannah Höch gesundheitlich nicht gut: »Wir wollen also solange warten, bis Du wieder gesund bist. Aber ich muß Dich bitten, Sonnabend früh zu einem Arzt zu gehen. Wir müssen unbedingt Gewissheit haben, was mit Dir ist. Was Du dem Arzt sagst, schreibe ich Dir genau auf. – Bis dahin werde ich mit keinem Wort auf das Andere zurückkommen. Und wenn es Dir recht wäre, würde ich nächste Woche vielleicht verreisen. Nicht nur Du bist krank von mir, wegen mir. [...]«, schreibt ihr Hausmann.36 Wenig später haben Hannah Höch und Raoul Hausmann Gewissheit. Sie ist schwanger. Hannah Höch wird das Kind nicht bekommen. In den folgenden Briefen spricht Hausmann über seinen Schmerz, seine Schuld und sein Ringen um ihr Vertrauen. Am 16. Mai 1916 lässt Hannah Höch eine Abtreibung vornehmen. Das Datum ist lediglich aus einem späteren Brief, den Raoul Hausmann gemeinsam mit seiner Ehefrau Elfriede Hausmann-Schaeffer an Johannes Baader richtet, überliefert.37 Der gesetzlich verbotene Eingriff endete für eine große Zahl Frauen tödlich. Illegal, unter mangelhaften Hygienebedingungen und ohne Betäubungsmittel wurden Abtreibungen in Hinterhäusern vorgenommen. Kaum eine Engelmacherin besaß eine medizinische Ausbildung. Ärzte brauchten Mut, um Frauen in Not zu helfen. Ihnen drohten Gefängnisstrafen, wenn bekannt wurde, dass sie Abtreibungen durchführten. Hannah Höch und Raoul Hausmann hatten Angst. Einen Tag nach der Abtreibung schreibt Hausmann an sie: »Was ich Dir bis heute nicht sagen durfte. Jetzt liebe ich Dich. So, wie ich nie ein Weib geliebt habe. Jetzt erst! Ich habe zum erstenmal einen Weg zu mir selbst gesehen. Und damit auch zu Dir. Ja, ich war Egoist – weil ich immer in meinen Grenzen blieb. Ich konnte erst darüber fort, als ich in Angst und Sorge um Dich war. Wenn ich nur noch zur rechten Zeit für Dich zu mir kam. Wenn Du nur leben bleibst. [...]«38
Die Künstlerin hat sich nie direkt über die Ursachen ihres Entschlusses geäußert. Aus dem weiteren Verlauf der Beziehung, der in zahlreichen Briefen dokumentiert ist, geht hervor, dass Hausmann sich von Höch ein Kind gewünscht hat. Und Hannah Höch hat später mehrfach betont, dass auch sie sich ein Kind wünschte. Die Umstände ihrer Beziehung scheinen für sie dennoch einem Kinderwunsch entgegengestanden zu haben. Trotz aller Überlegungen und Versprechungen hatte sich Hausmann bisher nicht von seiner Ehefrau getrennt, mit der er ja bereits eine Tochter hatte. Hinzu kam, dass auch Höchs Familie, vor allem ihr Vater, ein Kind unter den gegebenen Umständen nicht akzeptierte.39
Dass Hausmann sich nicht von seiner Frau trennen konnte und wollte, evozierte bereits zu Anfang ihrer Beziehung Konflikte zwischen Hannah Höch und ihm. Doch der erste Schwangerschaftsabbruch führt zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen. Hausmann beginnt in seinen Briefen, Streit und Zwiespalt auf eine theoretische Ebene zu verschieben. Nach der Abtreibung geht es Hannah Höch gesundheitlich nicht gut. Aus der aufgewühlten Atmosphäre eines Gedichts, das sie kurz nach dem Eingriff an Raoul Hausmann richtet, spricht die psychische Anspannung, die der Abbruch in Hannah Höch auslöste. Expressionistische Sprachbilder evozieren eine düstere, todessehnsüchtige Stimmung; das lyrische Ich verwandelt sich in eine schwarze Schlange, die durch Kometen saust und von einer »Macht-Gestalt« verfolgt wird. Dem »Jäger« gelingt es schließlich, den »sprühenden« Schlangenleib zu fangen und zu halten.40
Von ihrem Arbeitgeber erhält sie elf Tage Urlaub, den sie bei ihrer Familie in Gotha zu verbringen plant. Ihr Entschluss war Auslöser für einen erneuten Streit. Hausmann schildert in einem langen Schreiben, wie es zu dem jüngsten Zerwürfnis kam. Zunächst spricht er offen über seine Gefühle und bekennt: »– Ich wollte Dir zwischendurch einmal sagen: ich bin so eifersüchtig – Deine Familie hast Du 26 Jahre – wir haben uns noch nicht lange – und wie kurz erst wieder –. Hätte ich’s nur gesagt.«41 Wenigstens drei Tage solle Hannah Höch »heimlich mit ihm«, verbringen. Im letzten Teil des Briefes rückt er von der Beschreibung seiner Gefühle ab. Die folgenden Passagen enthalten Hausmanns Reflexionen über die Schriften des Psychoanalytikers und Freud-Schülers Otto Gross. In diesem Brief erwähnt er den Psychoanalytiker noch nicht namentlich. Später wird Hausmann Gross wie einen Propheten für seine Argumente gegen Hannah Höch zitieren,42 etwa wenn er schreibt: »– deshalb will ich Dir an den Worten von Otto Gross zeigen, was ich will und wollte.«43 Im Februar 1916 hatte Gross einen Essay »Vom Konflikt des Eigenen und Fremden« publiziert, den Hausmann intensiv studierte.44
»[...] ich kämpfe für Dich – gegen Deinen Großvater und gegen Deinen Vater. Ich sehe und höre scharf, erst durch Deine Briefe jetzt hindurch, dann durch die Geschehnisse der letzten vergangenen Zeit und ich weiß: ich muß Dich aus den Täuschungen, die Dich von klein an umgeben, befreien. Das Recht dazu gabst Du mir selbst (weil Du mich liebst) [...] – Wenn Du Dir sagst, Du seiest nicht hart und egoistisch dann ist das wahr – und wenn Du hier keinen Weg zu mir fandest, trotzdem Du mich liebst und ich Dich – dann kann ich Dir nun sagen, was Dich hindert Vertrauen zu mir zu fassen: Dein Herkommen. Von der Art Mensch, wie Deine Väter. Die Du aber im Innersten nicht bist. Das ist der Zwiespalt, das ist was Dich lähmt, das ist Dein Kampf: sieh doch: Du, Du selbst, gegen Deine Väter. Du willst werden, was sie nicht sind: ein Mensch, der weiß, was das Leben ist, ein Mensch der den Doppelblick des Lebens ertragen kann. [...] Deine Väter sind gute, aber schwache Menschen, bei allem Ruheverlangen ohne innere Ruhe und Gewissheit, ohne das stolze Wissen: mir fällt alles, was das Leben geben kann, zu – denn ich biete mich selbst dagegen – ich schone mich nicht. – Darum kann ich Deine Väter nicht lieben. Und darum sollst Du wissentlich und willentlich mir vertrauen – mich vorziehen – und Du wirst nicht daran zu Grunde gehen – weil Du mich liebst.«45
Den August 1916 verbringt Hannah Höch gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in dem Ostseebad Brunshaupten. Hier will sie sich von den gesundheitlichen Folgen des Schwangerschaftsabbruchs erholen. Noch am Tag ihrer Abreise schreibt ihr Hausmann: »Nachdem ich Deine Hand losgelassen hatte und der Zug schon ein Stück vor mir fuhr – das tat weh, als würdest Du aus mir herausgerissen. Liebste, das war das letzte Mal, daß ich Dich fahren ließ.«46 Zunächst ist geplant, dass er sie dort besucht. Doch auf ein Informationsblatt, das die »Bestimmungen über den Verkehr in den Seebädern im Bereich des stellv. IX. Armeekorps« enthält, notierte Höch: »Vater schickte uns: Mutter, Grete, Anni u. mich nach Brunshaupten. Zu meiner grenzenlosen Enttäuschung kam dann Hausmann nicht, der sich erst angesagt hatte.«47 Zunächst hatte Hausmann vor, für einige Tage an die Ostsee zu kommen: »Liebste, werde mir gesund, schön, stolz – wenn ich komme werde ich geblendet sein.«48 Doch er traute sich offenbar nicht, ihrer Mutter zu begegnen: »Wie lange bleibt Deine Mutter? Wenn bis Ende, dann wird sie meine Ankunft wohl nicht erbauen.«49 Stattdessen fährt er Mitte August nach Böckele in Westfalen, auf das Rittergut von Herta König, wo sich auch seine Frau und seine Tochter aufhalten. Das konnte er Hannah Höch in seinen Briefen in das Seebad nicht ehrlich mitteilen. Als Hannah Höch ihn zur Rede stellt, antwortet er: »Liebe, meine Briefe sind durchaus einfach zu verstehen. Ich dachte, es würde Dir schmerzlich sein, mich in Westfalen zu wissen – nichts weiter wollte ich bitten mit dem ›stolz sein, lieb schreiben‹ – als daß Du in Gewißheit auf mich warten würdest.«50
Im Zusammenhang mit Hannah Höchs Abtreibung wird ihr Vater für Hausmann zum Feindbild per se: »Töte Deinen Vater in Dir!«, appelliert er an die Künstlerin im Herbst 1916.51 Bei ihr stoßen solche Losungen auf Unverständnis und Abneigung. Die Verletzungen, die er durch seine radikalen Forderungen hervorruft, gehören zu seinem Erziehungsplan: »Darauf sagtest Du unter Tränen: er will mir wohl – erinnere Dich überhaupt jenes Tages, da haben wir das obenstehende ganz prinzipiell erlebt – ganz logisch und rein sah ich, was ich von Dir fordern muß – [...].«52
Otto Gross verlagerte die Erkenntnisse der Psychoanalyse aus dem medizinischen und pädagogischen Bereich auf sein revolutionäres Gesellschaftsmodell.53 Sein sozialkritischer Ansatz brachte ihm erhebliche Kritik und den Widerspruch Sigmund Freuds ein. Gross entwickelte seine Theorie in einer Zeit, in der die Psychoanalyse in der Gesellschaft und in der Wissenschaft zusehends Anerkennung und Verbreitung erfuhr.54 Er war 1877 im österreichischen Gniebingen geboren. Sein Vater, ein bekannter Kriminologe, unterwarf ihn einer ausschließlich leistungsorientierten, strengen Erziehung.55 Um die Jahrhundertwende bewegt sich Gross in Münchens berüchtigtem Künstlerbezirk Schwabing in den Kreisen der Boheme und der Anarchisten, wo er unter anderem Erich Mühsam und dessen Freund, den sozialistischen Schriftsteller Franz Jung, kennenlernt. 1913 kommt Gross mit seiner Frau Frieda nach Berlin und schließt sich der von Pfemfert gegründeten Gruppe »Aktion« an. Zu dieser Zeit leidet Gross bereits unter den Folgen seiner Kokainabhängigkeit. Die Gefahr, die von Kokain als Droge ausgeht, wird in der Medizin gerade erst entdeckt. Nicht nur Sigmund Freud experimentiert mit den verschiedensten Darreichungsformen bei schmerzhaften Leiden oder setzt Kokain versuchsweise als Ersatzdroge ein.56 Im November 1913 wird Gross in Berlin verhaftet und »als geisteskranker Anarchist« aus dem preußischen Staatsgebiet abgeschoben.57 Auf Veranlassung seines Vaters wird er in Österreich entmündigt und gegen seinen Willen in verschiedene private psychiatrische Anstalten eingewiesen. Aus Anlass seiner Abschiebung und Zwangseinweisung beginnen seine Berliner Freunde, vor allem Franz Jung, eine öffentliche Kampagne, in der sie für seine Freilassung kämpfen. Ein wichtiges Mittel dieses Kampfes ist die von Franz Jung gegründete Zeitschrift »Die freie Straße«, deren erste Ausgabe er 1915 herausgibt und für die der Freundeskreis um Otto Gross verantwortlich zeichnet.58 Dazu gehören unter anderem der Journalist und Schriftsteller Richard Oehring und der Maler Georg Schrimpf. In der »Freien Straße« erscheinen Gross’ Texte über den pathologischen Zustand der Gesellschaft im Krieg. Die gesellschaftlichen Repressionen des Wilhelminismus betrachtete Gross als Spiegelbild patriarchal-autoritärer Familienstrukturen. So wie die autoritäre Familie die Psyche des Kindes zerstört, so leidet in der autoritär formierten Gesellschaft das Individuum.
Das utopische und revolutionäre Moment in seinen Texten macht Gross zum Therapeuten der DADA-Bewegung. Seine scharfe Kritik an den gegebenen Gesellschaftsstrukturen, die auch eine Erklärung für die brutale Gewalt des Ersten Weltkriegs lieferte, stieß insbesondere in linken und sozialkritischen Kreisen auf offene Ohren, die auf Veränderungen hofften. Vor allem die Mitglieder des Berliner DADA-Kreises, der sich ein Jahr später zusammenfand, allen voran Raoul Hausmann, festigten mit Hilfe seiner Schriften ihre gesellschaftskritische Position. Gross’ Texte gaben entscheidende Impulse für die Aktionen von DADA: »Ohne die psychoanalytische und zwischenmenschliche Umgestaltung der Gemeinschaftsbeziehungen, die in der Freien Straße ausgeübt und vorbereitete worden war, hätte die Berliner Dada-Bewegung nicht gleich beim ersten Auftreten eine Steigerung und Klärung des beinahe natürlichen Provokationsstoffes auf allen intellektuellen Gebieten ergeben können«, äußerte Hausmann rückblickend.59
Doch zunächst dient Gross Raoul Hausmann dazu, die Spannungen zwischen ihm und Hannah Höch auf seine Weise zu analysieren. Seine Kritik an ihrer Familie ist den Gross’schen Texten entlehnt. Hausmanns Briefe, die um die Konflikte nach dem Schwangerschaftsabbruch kreisen, sind geprägt von einer erzieherischen Haltung gegenüber Hannah Höch. Die Germanistin Silke Wagener konnte zeigen, dass er mit seinem pädagogischen Anspruch einem traditionellen Geschlechterverständnis folgt und damit genau das Gegenteil von dem unternahm, was er der Künstlerin gegenüber vorgab.60 Hausmann führte, so Silke Wageners Analyse, die Tradition der klassischen Brautbriefe fort, mit denen ein Ehemann die ihm Anvertraute in unterschiedlichen Themen unterwies.61 Ziel der Erziehungsmaßnahmen war es, Hannah Höch dazu zu bringen, ihren Wunsch nach einer monogamen Beziehung mit ihm aufzugeben und ein gemeinsames Kind auch dann zuzulassen, wenn er sich nicht zuvor von seiner Ehefrau trenne. Ihre Entscheidung gegen ein Kind von Hausmann löst bei ihm eine Verletzung aus, die ihm seine Grenzen aufwies, über Hannah Höchs Körper zu entscheiden, »weil Du mein Anrecht auf Dein Kind wie überhaupt meine Anrechte auf die sich aus unserer körperlichen Gemeinsamkeit ergebenden Beziehungen ablehnst; nicht mit-fühlst [...]«, schreibt er ihr noch ein Jahr nach der Abtreibung.62
1918 wird sie sich ein zweites Mal für eine Abtreibung entscheiden. Künstlerin und gleichzeitig Mutter eines Kindes zu sein, dessen Vater mit zwei Partnerinnen lebt, konnte sich Hannah Höch nicht vorstellen. Er dagegen versucht, ihr sein Konzept einer Beziehung mit zwei von einander unabhängigen Frauen als Philosophie der Befreiung und Emanzipation nahezubringen, in der die Frau ohne gesellschaftliche Konventionen endlich ihrem reinen »Mutterschaftstriebe« folgen könne. Hannah Höchs Entscheidung, das mit ihm gezeugte Kind nicht zu bekommen, legt er ihr im Sinne von Otto Gross als »Unterdrückung des Mutterschaftstriebes« und »Proteststellung« gegen ihn als Mann aus. Ihre erneute Ablehnung eines Kindes, seines von ihm sehnsüchtig erwarteten »himmelblauen Sohns«, wie er ihn in dem 1917 verfassten Gedicht »Mein Sohn Himmelblau« taufte63, zeugte in Hausmanns Interpretation von Hannah Höchs Negation ihrer »eigenen Weiblichkeit«.64
Hausmanns Briefe, die Hannah Höch in ihrem Nachlass aufbewahrte, zeigen, wie über die gesamte Dauer ihrer Beziehung die Auseinandersetzungen immer wieder um das gleiche Problemfeld kreisen. Wie in einer Spirale schrauben sich seine Anforderungen an die Partnerin und die an sie gerichteten Vorwürfe hoch. Teilweise eskalieren die Kämpfe zwischen beiden so sehr, dass es zu physischer Gewaltanwendung kommt. Sie reagiert mit Distanzierung und vorübergehender Trennung. Erst in diesen Situationen legt Hausmann die Gross’schen Theorien beiseite und wechselt zu reumütiger Selbstanklage.
Für Hannah Höch werden seine andauernden Vorwürfe und Erziehungsmaßnahmen immer mehr zur Strapaze, auf die sie wiederholt mit Kontaktabbruch reagiert. Sie flüchtet sich zu ihrer Familie nach Gotha oder zu ihrem Bruder Danilo, der auch in Berlin lebt. Bei Hausmann löst ihr Verhalten ein noch massiveres Drängen aus. Er versucht, sie wieder zurückzuerobern. Auf diese Weise wird das neurotisch aufgeladene Beziehungsgefüge der beiden kaum durchbrochen.65
Hausmann schreckt nicht davor zurück, bei Hannah Höchs Arbeitskollegin, die in das Beziehungsdrama eingeweiht ist, Erkundigungen einzuholen, wo sie sich vor ihm versteckt hält. Trotz des erheblichen Drucks, den Hausmann ausübt, der bisweilen auch bei ihm einen selbstzerstörerischen Charakter annehmen kann, eignet sich Hannah Höch seine Vorwürfe nicht an. Ihre Distanz zu seinen theoretisch untermauerten Anklagen äußert sich etwa darin, dass sie in ihren Antwortschreiben die von Hausmann benutzte Gross’sche Terminologie in Anführungszeichen setzt.66 In einem in ihrem Nachlass erhaltenen Briefentwurf, den sie im Sommer 1918 in einer erneuten Phase heftigen Streits an Hausmann verfasst, schreibt sie: »... ich weiß wie ich Dich über alle Stürme hinweg lieben könnte – unbeschwert, längst frei von Grenzen die ich aus der ›Familienatmosphäre heraus als Leitlinie gestaltet habe‹ – so aber kann ich nie etwas für Dich tun weil ich nie zu Dir selbst gelangen kann weil ich überall an Schranken, Irrwege, Hinterhälte stoßen muß, die mich böse machen; [...].«67
Die Krisen des Künstlerpaares Höch/Hausmann sind vor allem in seinen Briefen an die Künstlerin dokumentiert. Sie bewahrte sie auf. Ihre Reaktionen können nur noch erahnt werden und lassen sich vor allem aus seiner Perspektive schließen. Eine Ursache hierfür mag sein, dass Hausmann ihre Briefe nicht der Öffentlichkeit überlassen wollte. Trotz des ständigen Konfliktszenarios, das für beide kraftzehrend ist, finden Hannah Höch und Raoul Hausmann über sieben Jahre hinweg immer wieder zueinander. Ihre Beziehung fällt für beide in eine Zeit, in der sie sich künstlerisch positionieren. Für die kunsthistorische und kulturgeschichtliche Forschung sind die privaten Zeugnisse ihrer Beziehung deswegen so interessant, weil sie ihre persönliche Auseinandersetzung selbst als paradigmatisch für die gesellschaftlichen Umbrüche und den Wandel der Geschlechterrollen während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg betrachteten. Exemplarisch hierfür ist insbesondere Hausmanns Rezeption der Theorien von Otto Gross. Ihre Liebe wird gewissermaßen zur gesellschaftspolitischen Handlung. Wie in der Kunst strebten Höch und Hausmann in ihren privaten Verhältnissen nach Erneuerung.
Im Winter 1916/17 sind die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auch in der Zivilbevölkerung zu spüren. Obwohl die Kriegshandlungen kaum auf deutschem Gebiet ausgetragen werden, kommt es in der Folge fehlerhafter logistischer Planung zu Hungersnöten. Die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist auch in Hannah Höchs Briefen an die Familie dokumentiert. »Man wird jetzt buchstäblich zum Vegetarier ausgebildet«, schreibt sie etwa an ihre Schwester Grete.68 Doch im Verhältnis zu weiten Teilen der Bevölkerung scheint es Hannah Höch und Raoul Hausmann noch recht gut zu gehen. Dafür verantwortlich mag vor allem die Unterstützung durch Höchs Familie aus dem eigenen Garten in Gotha sein: »Gestern ist auch meine Appelkiste gekommen, ich hatte schon Angst, sie sei beschlagnahmt worden«, berichtet sie erneut Grete.69 Hausmann kommentiert die Situation mit dem ihm eigenen bissigen Zynismus: »Aber es gab gar nichts zu essen auch Abends 9 ½ in Potsdam nichts, dann nur teuer in einem ›großen‹ Restaurant. Wir haben geschimpft«, erzählt er Hannah Höch in einem Brief über einen Ausflug ins Berliner Umland. Und weiter heißt es: »Wie ich durchkomme? Na. Es kostet eben Geld. Manchmal esse ich den ganzen Tag für 1 Mark, aber das ist auch danach. Mein billigstes Abendbrot kostet mal 50, mal 60 Pfg. Meine Fleischkarte esse ich in der Stadt ab, da giebt es für 100 Gramm ungefähr 200. – Hab’ keine Angst, daß ich schlemme – aber etwas essen muß ich doch schon. Manches koche ich mir selbst.«70 Was sich in Hausmanns Briefen aus dem Spätsommer 1916 noch recht humorvoll anhört, sollte im sogenannten »Kohlrübenwinter« von 1916/1917 zur tödlichen Bedrohung für weite Bevölkerungsteile werden. Nicht nur in Deutschland, sondern bei allen kriegsführenden Parteien herrschte spätestens seit dem Winter 1915 Hunger.71 In Deutschland wurde ein Kriegsbrot eingeführt, das zu großen Teilen aus minderwertigem Kartoffelmehl bestand. Kinderärzte empörten sich über den von der Regierung als Säuglingsnahrung empfohlenen Malzbrei; der würde »jedes Tier entsprechenden Alters in kürzester Zeit zur Strecke bringen«.72 Stück für Stück wurden alle Bereiche der Lebensmittelproduktion und -verteilung staatlich kontrolliert: Getreideprodukte, Milch, die Kartoffelbewirtschaftung sowie Fleisch- und Wurstwaren. Die Kartoffelernte brachte im Winter 1916/17 nur 50 Prozent des durchschnittlichen Ertrags ein.73 Als Ersatz für die ausgebliebene Ernte teilte man der Bevölkerung Kohl- bzw. Steckrüben zu. Auf Grund der schlechten Getreideernte des folgenden Jahres, Zug- und Arbeitstiere, sowie landwirtschaftliche Arbeitskräfte waren eingezogen, sank die auf Lebensmittelkarten zugeteilte Durchschnittsration für die Bevölkerung auf 1000 Kalorien. Das war mehr als die Hälfte weniger als der vom Reichsgesundheitsamt ermittelte notwendige tägliche Kalorienbedarf.74 In den Städten, allen voran in Berlin, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und zu Demonstrationen gegen die staatlich sanktionierte Ernährungspolitik. Von der einstigen Kriegsbegeisterung war nun in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht mehr viel übrig geblieben. In den Kriegsjahren 1914–1918 sollten über 750000 Menschen in Deutschland an Hunger sterben.75 Die Hungersnöte in Europa, in der Folge des Ersten Weltkriegs, haben auch Einfluss auf die immer stärker politisch werdende Haltung von Raoul Hausmann. Ende Mai 1917 schreibt er an Hannah Höch, die über Pfingsten bei ihrer Familie in Gotha weilt: »Mir geht es seit Pfingstmontag schlecht, ich kann das Brot nicht mehr vertragen, hatte fortwährend Durchfall, und musste heute erbrechen. Nach der Zeitung gibt es in ›England‹ Todesfälle an Brot durch Entzündung innerer Organe.«76
Von Herwarth Waldens »Sturm« löst sich Hausmann. Nach dem Zweiten Weltkrieg äußerte er sich über seine Entwicklung: »Der Weltkrieg hatte 1914 begonnen, und Walden veröffentlichte sein ›Hohes Lied des Preußentums‹. Mein Übergang zu Pfemferts ›Aktion‹, einer Zeitschrift für Expressionismus und anti-autoritären Sozialismus war danach eine Selbstverständlichkeit. Pfemfert veranlasste mich, ihm für sein ›Aktions-Buch‹ (1917) einen Text zu schreiben – dies war der Anfang meiner schriftstellerischen Tätigkeit, die im Jahre darauf durch meine Beteiligung an Franz Jungs ›Freier Straße‹ und der Gründung des Club Dada sich bis heute unablässig fortgesetzt hat.«77 Ganz so geradlinig wie Hausmann es aus seiner rückblickenden Sicht schilderte, verlief der Beginn seiner literarischen Karriere keineswegs. Nicht Pfemfert hatte ihn aufgefordert, sich zu beteiligen, sondern Hausmann hatte Pfemfert davon überzeugt, seinen Text »Der Mensch ergreift Besitz von sich« in der Zeitschrift »Aktion« zu drucken.78 Er erschien 1917. Hausmanns frühe, sogenannten politischen Texte entsprachen nicht der Terminologie und den Forderungen linker sozialistischer Kreise. Pfemfert gegenüber erklärt er, dass er mit seiner Schrift den Anspruch einer »Revolutionierung der Ethik« in der Nachfolge des von Dostojewski und Strindberg in ihren Texten proklamierten Menschenbildes verfolge.79 Hausmann ist an einer neuen Beziehung der Menschen zueinander gelegen, das Verhältnis zwischen den Generationen und vor allem zwischen Mann und Frau soll erneuert werden. Religiöse Bilder und Terminologien dienen ihm dazu, die unabänderliche Richtigkeit seiner Forderungen zu untermauern. Mit Johannes Baader zusammen begründet er die »Christus GmbH«.80 Dass seine frühen Schriften im Kontext seiner Beziehung zu Hannah Höch gelesen werden müssen, bezeugt ein Brief an Hannah Höch, in dem er ihr seine »radikalen« Forderungen offenbart und ihr in den Mund legt: »Ich, diese Einzelfrau, liebe ihn diesen Einzelmann als Vater meines Kindes. Dies das Zustandekommen der zufälligen Generation (Dreieinigkeit). Ablauf der vollkommenen erfüllten Beziehung (Bewußtwerdung) als vom innersten erfühlt, vom allgemeinen ausgehend, nicht Einzel-Ich sondern wir, wahre Generation, als Dreieinigkeit Mann, Weib, Kind«, lauten Hausmanns alte Ansprüche an Hannah Höch, die er nun kryptisch in seine vorrevolutionäre Terminologie verpackt.
Der Beginn der Revolution in Russland weckt in ihm neue Hoffnungen. Im »russischen Menschen« sieht er den Retter Europas: »Dann würde er siegreicher und strahlender das wahre Ideal des Menschenstaates auf Erden durchsetzten, ein Ideal der Art, wie es die Waldenser, Hussiten, Wiedertäufer und die böhmischen Brüder durch Jahrhunderte in Europa zu erreichen suchten – Auf diesem Wege könnten die ›Vereinigten Staaten von Europa‹ liegen, die Selbständigkeit aller und jeder Nationalität, mit Rücksicht des Wirkens im ganzen, gegründet auf die Verantwortlichkeit Aller zu Allen«, heißt es in einem seiner Manuskripte.81 Auf der Rückseite dieser handschriftlichen Vorlage mit dem Titel »Die westlichen Zeitungsleute« hat Hausmann zwei expressive Aktskizzen von Hannah Höch in dynamischen Linien gezeichnet und zwischendurch an die Künstlerin die kurze Notiz gerichtet: »Bin nur rasieren gegangen, gleich wieder zurück.«
Hausmann baut seine Kontakte zu verschiedenen Künstlerzirkeln aus, die nach gesellschaftlichen Veränderungen streben. In der revolutionären Aufbruchsstimmung verlieren sich alte Feindschaften: »Freitag Nachmittag war ich auf 2 Stunden in Wannsee, dort traf ich Wieland Herzfelde, er sprach mich an, war sehr höflich und forderte mich auf ihm etwas für die Neue Jugend zu geben. [...] Durch ihn lernte ich Sonnabend Abend Georg Grosz kennen. Das ist ein Mensch, wahrscheinlich nichts für Dich gerade, aber von Mann zu Mann kann er einem gefallen. Wir verstanden uns sans façon mit 5 Worten – wirklich, er gefällt mir. Und ich war sehr abgeneigt gewesen, ihn kennen zu lernen. Aber das ist einer, der sein Herz nicht auf der Zunge trägt – fabelhaft ironisch, er quatscht, scheinbar, legt aber die andern entlarvend rein. Er ist ruhig, sicher und kann schweigen. Er wird wohl noch was werden. –«82, berichtet Raoul Hausmann Hannah Höch über seine erste Begegnung mit George Grosz. Herzfelde, Grosz und Hausmann zählen nur wenig später zu den bekanntesten Protagonisten der Berliner DADA-Bewegung.
Wieland Herzfelde hatte mit der Zeitschrift »Die Neue Jugend« eine ehemalige Schülerzeitung übernommen. Um die Zensur zu umgehen, erwarb er die Rechte an der Zeitschrift mit einer Druckkonzession aus der Vorkriegszeit.83 1917 gründete er den Malik-Verlag. Gegen die Zensur verfolgte die Zeitschrift eine klare pazifistische Linie, die sich auch in Prosatexten, Gedichten und illustrierenden Zeichnungen niederschlägt, die in der Zeitschrift publiziert wurden.84 Neben den beiden Herzfelde-Brüdern schrieben auch die Expressionisten Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, die Dichterin Else Lasker-Schüler, Salomon Friedlaender und der spätere Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, für die Zeitung. Mit den satirischen Zeichnungen von George Grosz wurde das Erscheinungsbild der Zeitung radikaler. Anfang 1917 erschien im Malik-Verlag auch die erste Graphikmappe von George Grosz. Zu Beginn des Jahres hatte Herzfelde ambitioniert den Abstand zwischen den Ausgaben verkürzt und eine Wochenausgabe angekündigt, die offen gegen den Krieg und die soziale Lage in Deutschland polemisierte. In der Folge konnte die »Neue Jugend« nur noch unter finanziell widrigen Bedingungen und illegal erscheinen.85 Der von Wieland Herzfelde begründete Malik-Verlag entwickelte sich nur wenig später zum wichtigsten Publikationsorgan des Berliner DADA-Kreises. Die erneute Einberufung Herzfeldes als Sanitäter im Ersten Weltkrieg und das Verbot der Zeitschrift »Neue Jugend« kurz nach dem erfolgreichen Erscheinen erschwerte die Verlagsarbeit im Verlauf des Jahres 1917 erheblich.86
Hausmann beteiligt sich nicht nur in Berlin an politisch orientierten Künstlerinitiativen. Conrad Felixmüller hatte in seinem Dresdner Atelier die expressionistische Arbeitsgemeinschaft mitbegründet, in der sich nach Veränderung strebende und kriegskritische Dresdner Maler, Bildhauer und Schriftsteller trafen.87 Mit Felixmüller versucht Hausmann einen Programmentwurf zu erarbeiten, den sie »Der Bund« nennen. Auch hier spielen seine sogenannten »ethischen« Thesen hinein: »Unsere Haupt- und innerste Überzeugung ist, dass wir Gottes, des Geistes Kinder sind«, heißt es gleich zu Beginn ihres Programmentwurfs.88 Aus dieser Gotteskindschaft legitimiere sich die Verschiedenheit jedes einzelnen Künstlers. Wichtigstes Anliegen des Bundes ist es, für den Einzelnen in der Gemeinschaft den größtmöglichen Freiheitsraum zu schaffen, so dass er seine Individualität ungebremst entfalten kann. In diesem Sinne sollen alle bürgerlichen Widerstände überwunden werden. Im Sommer bekennt Hausmann Hannah Höch gegenüber im Rahmen eines an sie gerichteten erneuten Vorwurfs, dass er schon »mit 19 Jahren gegen Gewalt war«, und definiert sich selbst als »Anarchist«.89